2.6.2008

Verlage in treuen Händen

Die Parallelen sind schon frappierend. „Zu diesem bösem Spiel fällt uns nichts mehr ein!“, schrieben die Mitarbeiter eines Verlages, denen der Verleger Bernd F. Lunkewitz gerade den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Wegen gerichtlicher Streitigkeiten hatte er entschieden, das angeschlagene Unternehmen nicht mehr weiterzuführen. Die letzten Sätze seiner Erklärung dazu lauteten:

Da auch die Treuhandanstalt (…) den Verlag nicht an sich zog, wird er „abgewickelt“ wie so vieles in diesem Lande, was durchaus noch hätte weiterleben können. So kann die konsequente Umsetzung der Gerechtigkeit zu Ungerechtigkeit führen.

Nein, es handelt sich dabei nicht um das Schicksal des Aufbau-Verlages, der in diesen Tagen seine eigenen Erfahrungen mit Lunkewitz machen musste. Es ging um das Ende der „Weltbühne“, das durch einen Rechtsstreit zwischen Peter Jacobsohn, dem Sohn Siegfried Jacobsohns, und dem Verlag der Weltbühne im Juli 1993 besiegelt wurde. Wie dieses Ende sich genau zugetragen hat, ist an dieser Stelle ausführlich nachzulesen. Aber schon damals schien den Mitarbeitern nicht ganz klar, was ihr Verleger eigentlich vorhatte. Nach Ansicht inzwischen gestorbener Prozessbeteiligter trug er seinen Spitznamen nicht zu Unrecht. Besonders perfide empfanden die betroffenen Mitarbeiter, dass Lunkewitz durch sein Verhalten vor Gericht dem Verlag auch unter einem anderen Besitzer jede Zukunft verbaut hatte. Denn dem Verlag war künftig untersagt, den Titel der „Weltbühne“ weiter zu nutzen. Und seitdem ist die Zeitschrift auch nie wiederbelebt worden.

Wie es mit dem Aufbau weitergeht, ist derzeit alles andere als klar. Gut möglich, dass Gerechtigkeit wieder zu Ungerechtigkeit führen wird. Dieses Mal will Lunkewitz die Gerechtigkeit offenbar auf seiner Seite wissen.

30.5.2008

Barock around the clock

Tucholsky hat in seinem Leben etliche Texte zusammengeklappert oder geschmiert, wie er es bisweilen ausdrückte. Neben journalistischen Arbeiten gehörten dazu Erzählungen, Gedichte, Chansons, aber auch eine nie aufgeführte Revue, ein selten gespieltes Theaterstück („Christoph Kolumbus“) sowie ein unverfilmtes Drehbuch („Seifenblasen“). Nicht überliefert ist dagegen, dass er sich einmal an einem Opernlibretto versuchte. Was auch daran gelegen haben mag, dass er nicht als besonderer Freund des klassischen Musiktheaters bekannt war: „Ich bin unmusikalisch. (…) Musik läßt mich aufhorchen; wenn ich sie höre, habe ich ein Bündel blödsinniger Assoziationen – und dann verliere ich mich im Gewirr der Töne, finde mich nicht mehr heraus … Und um rat- und hilflos zu sein, dazu brauche ich schließlich nicht erst in eine Oper zu gehen“, bemerkte er einmal einem spöttischen Text über „Die Musikalischen“.

Tucholsky-Fans horchen daher auf, wenn eine Opernsängerin ankündigt, Tucholsky-Texte als barocke Arien zu singen. Am 23. Mai präsentierte die Sopranistin Kirstin Hasselmann ein solches Programm in Berlin. Begleitet wurde sie von dem Jazzgitarristen Takashi Peterson auf einer E-Gitarre, was eine gewisse Brechung des Operngenres versprach.

Bei solchen Experimenten stellt sich natürlich immer die Frage, ob es „funktioniert“. Ob es möglich und sinnvoll ist, die Texte einmal anders als in der üblichen Holländer-, Nelson- oder Eisler-Vertonung oder in moderneren Fassungen zu hören. Wobei die Tatsache an sich, diese Konventionen einmal zu brechen und sich auf neues Terrain zu wagen, schon zu begrüßen ist.

Tucholsky selbst war generell durchaus kritisch, was den Bühnenvortrag von Texten betrifft, die ursprünglich nicht für Hörer, sondern für Leser gedacht waren:

Die meisten Verse, die ich geschrieben habe, sind für das Auge geschrieben – sie klingen nur so, als wirkten sie auch gesprochen. Das tun aber manche mitnichten, ich weiß es. Die für das Ohr geschrieben sind, veröffentliche ich selten, denn sie erschienen wieder dem Auge leer. Lesend verstehn wir sehr rasch – hörend viel, viel langsamer. In einer zu singenden Strophe ist nur für einen einzigen Gedanken Platz – in einer gedruckten darf, ja, sollte jede Zeile etwas Neues enthalten.
Peter Panter: „Otto Reutter“, in: Die Weltbühne, 16.2.1932, S. 254ff.

Was dieses Problem betrifft, so kann sich Tucholsky in vorliegenden Fall nicht postum beschweren. Im Gegenteil. Die Arien geben den Texten sehr viel Raum. Hasselmann beschränkt sich darauf, einzelne Sätze eines Textes oder Strophen eines Gedichtes vorzutragen. Was diesen von Natur aus eine gewisse Schwere und Bedeutung verleiht, die sie innerhalb des gesamten Textes sonst nicht hätten. Ergänzt werden die Arien durch Vorträge einzelner Texte wie „Zur soziologischen Psychologie der Löcher“ oder „Der Mann im Spiegel“. Der rote Faden, der sich durch das einstündige Programm zieht, ist Tucholskys Leben. Wobei man in diesem Fall besser von einem schwarzen Faden sprechen sollte, denn Hasselmann beginnt mit dessen vorweggenommenen Ende, dem satirischen „Requiem“ von 1923, das Tucholsky für sein Pseudonym Ignaz Wrobel geschrieben hatte. In der ersten Hälfte des Abends kommt der politische und satirische Tucholsky zu Wort beziehungsweise zu Gesang. Nach einer Zäsur, die von Peterson in einer großartigen Improvisation über ein Bach-Menuett markiert wird, schildern die Arien dann eher den melancholischen und selbstbezüglichen Schriftsteller, der sich über die Grenzen seines Schaffens klar zu werden versucht. Ebenso wie Tucholsky am Ende nur noch „Schnipsel“ veröffentlichte, fallen auch aus den Requisiten die Papierschnipsel, als löse sich das Werk des Autors in seine Bestandteile auf.

Hat der Abend also „funktioniert“? An der musikalischen Leistung von Hasselmann und Peterson, sofern dies ein unmusikalischer Menschen beurteilen darf, gibt es nichts auszusetzen. Das gilt auch für die Inszenierung, die im Robert Stolz Verein mit wenigen Mitteln auskommen musste. Aber die Kombination von Musik und Text, die laut Programm durch „wechselseitige Spiegelungen“ neue Wahrnehmungen öffnen soll? Im Journalismus ist von Text-Bild-Scheren die Rede, wenn die Bildunterschrift sich mit dem Foto beißt. Vielleicht gibt es in der Musik analog Text-Musik-Scheren. Es ist für das Ohr schon sehr ungewohnt, Musik von Bach, Telemann, Händel und Gluck mit modernen Gedanken und Begriffen in Verbindung zu bringen. Vor allem, wenn es sich dabei nicht um eine Parodie handelt. Es ist aber auch gut möglich, dass gerade dieser Gegensatz einiges vom Wesen Tucholskys einfängt. Denn Tucholsky war ein eher barocker, sinnenfroher Mensch, der sich in der schnelllebigen Moderne und in der politisch aufgeheizten Epoche der Weimarer Republik im Grunde unwohl fühlte. „Mich haben sie falsch geboren“, lautete ein häufiges Lamento seit 1924. Wenn er in der richtigen Zeit gelebt hätte, hätte er bestimmt auch mal ein Libretto geschrieben.

Weitere Vorstellungen am 6.6., 4.7., 25.7. um 20 Uhr im Robert Stolz Verein, Langenscheidtstr. 11 in Schöneberg (U 7 Kleistpark)

10.5.2008

Auf Ochsenkarren zum Scheiterhaufen

Der 75. Jahrestag der Bücherverbrennung ist von Politik, Gesellschaft und Medien seit Wochen gebührend gewürdigt worden. Vor dem Brandenburger Tor in Berlin fand am Freitag eine zentrale Veranstaltung statt, auf der Bundespräsident Horst Köhler laut „Süddeutscher Zeitung“ „eine beeindruckende Rede“ hielt. Köhler betonte darin, dass es vor allem Akademiker waren, die die Bücher verbrannten:

Die Geschichte der geistigen Vorbereitung der Bücherverbrennung führt uns die beschämende Tatsache vor Augen, dass die ersten Institutionen in Deutschland, in denen der Nationalsozialismus die Meinungsführerschaft und dann auch, etwa in Studentenausschüssen, die Mehrheit erobert hatte, die deutschen Universitäten waren. Hier, an den Stätten, die doch der geistigen Freiheit, der Kritik, der argumentativen Auseinandersetzungen hätten dienen sollen, wurde der Geist der Unfreiheit, der Intoleranz, der Ausgrenzung erzeugt.

In einem weiteren von insgesamt vier Artikeln zu dem Thema weist die SZ darauf hin, dass die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas seit dem 50. und 70. Jahrestag nicht viel Neues ergeben habe. Neu ist dagegen die „Bibliothek der verbrannten Bücher“, die das Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum herausgibt. Unter den ersten zehn Bänden der auf 120 Bücher konzipierten Reihe ist auch Kurt Tucholskys 1931 erschienener Sammelband Lerne Lachen ohne zu weinen. Neu im Internet ist außerdem die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“, die der Berliner Senat online gestellt hat. Tucholsky ist mit „sämtlichen Schriften“ ebenfalls in der Liste enthalten. Man findet den Eintrag aber nur, wenn man die Schreibweise seines Namens (Tucholski) eingibt, die die Nazis offiziell gebrauchten.

Zum 70. Jahrestag gab es ebenfalls noch nicht den ausführlichen Wikipedia-Artikel zu den Bücherverbrennungen von 1933 . Dort finden sich viele Hintergrundangaben, Originaldokumente und Links zu weiterführenden Seiten. Und auch Tucholskys Reaktion auf die Bücherverbrennung in einem Brief vom 17. Mai 1933 an Walter Hasenclever:

Unsere Bücher sind also verbrannt. Im Buchhändlerbörsenblatt ist eine große Proskriptionsliste für in vierzehn Tagen angekündigt. Dieser Tage stand an der Spitze des Blattes im Fettdruck: „Folgende Schriftsteller sind dem deutschen Interesse abträglich. Der Vorstand des Börsenvereins erwartet, daß kein deutscher Buchhändler ihre Werke verkauft. Nämlich: Feuchtwanger – Glaeser – Holitscher – Kerr – Kisch – Ludwig – Heinrich Mann – Ottwalt – Plivier – Remarque – Ihr getreuer Edgar [= Kurt Tucholsky] – und Arnold Zweig.“ In Frankfurt haben sie unsere Bücher auf einem Ochsenkarren zum Richtplatz geschleift. Wie ein Trachtenverein von Oberlehrern. […]
Da kommen sie nun aus allen Löchern gekrochen, die kleinen Provinznutten der Literatur, nun endlich, endlich ist die jüdische Konkurrenz weg – jetzt aber! Will Vesper in seiner Neuen Literatur: immer feste! (Ich werde nun langsam größenwahnsinnig – wenn ich zu lesen bekomme, wie ich Deutschland ruiniert habe. Seit zwanzig Jahren aber hat mich immer dasselbe geschmerzt: daß ich auch nicht einen Schutzmann von seinem Posten habe wegbekommen können.) Binding ist ein großer Mann. Dann: Lebensgeschichten der neuen Heroen. Und dann: Alpenrausch und Edelweiß. Mattengrün und Ackerfurche. Schollenkranz und Maienblut – also Sie machen sich keinen Begriff, Niveau null.

4.5.2008

Ein Leben für den Frieden

Es war im Frühjahr vor den Olympischen Spielen. Das Regime wollte sich bei den Wettkämpfen der Welt von seiner besten Seite zeigen. Ein pompöser Fackellauf wurde organisiert. Doch die internationale Öffentlichkeit interessierte sich stark für die Situation der Menschenrechte in dem Land. Das Schicksal eines Mannes stand stellvertretend für die Unterdrückungsherrschaft der diktatorischen Machthaber. Der Druck zeigte Wirkung. Der Journalist und Pazifist Carl von Ossietzky, von dem hier die Rede ist, kam wenige Monate vor Beginn der Sommerspiele 1936 aus dem nationalsozialistischen Konzentrationslager frei. Doch er war todkrank. Zwei Jahre später, am 4. Mai 1938, starb er an den gesundheitlichen Folgen der Haft.

Für die Nationalsozialisten war der Fall Ossietzky eine ihrer größten außenpolitischen Niederlagen, für die deutsche Emigration eine ihre wenigen Erfolge. Mehrere Jahre hatte es gedauert, bis die internationale Aufmerksamkeit dazu führte, dass Ossietzky zumindest aus dem KZ entlassen wurde. Ein halbes Jahr später kam dann die sensationelle Nachricht: Das norwegische Nobelpreiskomitee verlieh Ossietzky den Friedensnobelpreis. Eine schallende Ohrfeige für das Naziregime, das den früheren Weltbühne-Herausgeber stets herablassend als verurteilten Landesverräter titulierte.

Wie zahlreiche andere Pazifisten, Kommunisten und Sozialdemokraten war Ossietzky schon in der Nacht des Reichstagsbrandes verhaftet worden. Von einem Berliner Polizeigefängnis kam er schnell in das neu gegründete Konzentrationslager Sonnenburg bei Küstrin. Dort wurde er schwer misshandelt. Einer der ersten, die international auf sein Schicksal aufmerksam machten, war der einflussreiche englische Publizist Wickham Steed. In der englischen Zeitung The Times, die er zu Beginn der zwanziger Jahre selbst geleitet hatte, schrieb er am 23. Januar 1934 in einem Leserbrief:

(…) auf die dringende Bitte einer großen Zahl exilierter deutschen Schriftsteller und Personen des öffentlichen Lebens ersuche ich eindringlich um die Erlaubnis, über das schwere Schicksal Carl von Ossietzkys zu sprechen, einem ausgezeichneten deutschen Schriftsteller und Journalisten, der seit Monaten im Konzentrationslager Sonnenburg inhaftiert ist.
Glaubwürdigen Berichten zufolge ist Carl von Ossietzky nun ein gebrochener Mann, der den Qualen, die über ihn verhängt werden, nicht mehr lange standhalten wird. Körperliche Misshandlung, Unterernährung, schwere militärische Übungen und wiederholte Phasen von Einzelhaft in einer dunklen Zelle haben seine Gesundheit gebrochen – aber nicht seinen Geist. (…)
Auch wenn es zu viel wäre, auf seine Freilassung zu hoffen: Sein Anspruch auf das Mitgefühl der zivilisierten Welt sollte, denke ich, nicht vollständig unerhört bleiben.



An eine Freilassung war zu diesem Zeitpunkt in der Tat nicht zu denken. Allerdings schienen selbst den Nazis die Zustände im KZ Sonnenburg zu skandalös. Das Lager wurde aufgelöst und Ossietzky kam, ebenso wie andere Häftlinge, in das Lager Esterwegen im Emsland. Dort besserte sich sein Zustand bei der Zwangsarbeit in den feuchten Mooren keineswegs. Im Gegenteil. Der „Moorsoldat“ mit der Häftlingsnummer 562 erkrankte im Mai 1934 schwer. Zu diesem Zeitpunkt hatten Freunde bereits eine Kampagne gestartet, um Ossietzky mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen. Doch dem ersten Anlauf war kein Erfolg beschieden. Die Vorschlagsfrist für 1934 war bereits abgelaufen. Aber die Idee war in der Welt. Vor allem in Paris, um die Emigranten Hellmut von Gerlach, Milly Zirker und Hilde Walter, gewann der Vorschlag Unterstützung. Es gelang dem „Freundeskreis Carl von Ossietzky“ prominente Fürsprecher zu gewinnen. Dazu zählten unter anderem die früheren Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde und Jane Addams, die deutschen Exilanten Thomas und Heinrich Mann, Albert Einstein und Lion Feuchtwanger sowie die Schriftsteller Romain Rolland, Virginia Woolf und Aldous Huxley.

Von der internationalen Kampagne für einen KZ-Häftling zeigten sich die Nazis zunehmend beunruhigt. Reichsinnenminister Hermann Göring beauftragte die Geheime Staatspolizei damit, eine Art Argumentationshilfe für die deutschen Botschaften auszuarbeiten. Denn die diplomatischen Vertretungen erhielten viele Anfragen nach dem Gesundheitszustand Ossietzkys. Für die norwegische Regierung war die Nobelpreiskampagne eine heikle Angelegenheit. Im fünfköpfigen Preiskomitee saß unter anderem Außenminister Halvdan Koht. Der Regierung war klar, dass eine Auszeichnung Ossietzkys von den Nazis als Affront empfunden werden würde. Daher war es wohl kein großer Zufall, dass das Komitee sich 1935 dem Dilemma entzog, indem es gar keinen Preis vergab.

Doch damit war die Kampagne noch nicht gescheitert. Neuen Auftrieb bekam sie unter anderem dadurch, dass der norwegische Schriftsteller Knut Hamsun gegen Ossietzky Partei ergriff und offen mit den Nazis sympathisierte. Das riss sogar Ossietzky langjährigen Weltbühne-Mitstreiter Kurt Tucholsky aus der Lethargie und veranlasste ihn dazu, sein selbst auferlegtes Schweigen im Exil brechen zu wollen, um mit seinem literarischen Idol Hamsun abzurechnen. Doch dazu kam es nicht mehr: Tucholsky starb am 21. Dezember 1935 in Schweden an einer Überdosis Schlaftabletten. Ein geplanter Artikel wurde nie veröffentlicht.

Dass Hamsuns Ausfälle der Kampagne helfen würden, erkannte ein junger deutscher Emigrant, der unter dem Decknamen Willy Brandt in der norwegischen Hauptstadt Oslo lebte. Er wollte unbedingt verhindern, „daß ein gefährliches Schweigen über den Fall O. eintritt“, wie er im November 1935 an Hilde Walter schrieb. Gegen das Vergessen half auch die Tatsache, dass Deutschland 1936 die Olympischen Sommerspiele in Berlin ausrichtete. Göring fürchtete weiteren außenpolitischen Schaden für das Regime und ordnete eine medizinische Untersuchung des Häftlings an. Die Diagnose war niederschmetternd: schwere offene Lungentuberkulose. Ossietzky galt als nicht mehr haftfähig und kam tatsächlich frei. Doch die Freiheit täuschte. Gestapo-Beamte bewachten ihn permanent im Krankenhaus Westend, wo er ein Zimmer bezogen hatte. Gegen Ende des Jahres 1936 stand ein weiteres Mal die Entscheidung über die Vergabe des Nobelpreises an. Die Nazis erhöhten den Druck auf Norwegen. Außenminister Koht und der ehemalige Ministerpräsident Johan Ludvig Mowinckel traten aus dem Preiskomitee aus, um die norwegische Regierung aus der direkten Schusslinie zu nehmen. Am 23. November 1936 erfüllten sich dann die Hoffnungen der gesamten deutschen Emigration: Ossietzky erhielt den Nobelpreis rückwirkend für 1935 zuerkannt. Den Preis für 1936 erhielt der argentinische Außenminister Carlos Saavedra Lamas. Thomas Mann bezeichnete in der Pariser Tageszeitung die Entscheidung als „eine der wenigen glücklichen Entscheidungen, die seit Jahren gekommen sind“.


Die New York Times begrüßte die Verleihung und schrieb:

Die Wahl Ossietzkys durch das Nobel-Komitee ist eine Würdigung von dessen militantem und kompromisslosem Pazifismus. Sie bedeutet tatsächlich die Verurteilung eines Regimes, das jahrelang ohne Verhandlung und ohne Gelegenheit zu rechtlichem Beistand Männer von heldenhaftem Charakter inhaftiert, die sich nichts anderes zu Schulden haben kommen lassen, als politische Ansichten zu vertreten, die den Machthabern nicht gefallen. Die Entscheidung ist vor allem für das kleine Land Norwegen, das wirtschaftlich von Deutschland abhängig ist, ein außerordentliches Zeichen von Mut in einer Zeit, in der Mut sehr niedrig steht.

Wie nicht anders zu erwarten, fühlten sich die Nazis durch die Entscheidung brüskiert und drohten Norwegen Konsequenzen an. Der Völkische Beobachter schrieb zynisch am 26. November 1936:

Im Gegensatz zum Sowjetstaat, der jeden politischen Gegner an die Wand stellen läßt, hat sich das nationalsozialistische Deutschland darauf beschränkt, Ossietzky am 28. Februar 1933 in Sicherheitsverwahrung nehmen zu lassen. Ossietzky ist vor längerer Zeit aus dieser Haft entlassen worden und befindet sich in Freiheit.

Die Verleihung des Nobelpreises an einen notorischen Landesverräter ist eine derart unverschämte Herausforderung und Beleidigung des neuen Deutschlands, daß darauf eine entsprechend deutliche Antwort erfolgen wird.

In Deutschland versuchten die Nazis noch, die Verleihung zu verhindern. In einem persönlichen Gespräch wollte Göring Ossietzky davon überzeugen, den Preis nicht anzunehmen. Doch dieser tat dem Regime nicht den Gefallen. Ossietzky erhielt allerdings nicht die Erlaubnis, den Preis in Oslo persönlich in Empfang zu nehmen. Das Preisgeld in Höhe von rund 100.000 Reichsmark konnte Ossietzky ebenfalls nicht dazu verwenden, seine Situation und die seiner Familie wenigstens materiell noch etwas zu verbessern. Ein betrügerischer Rechtsanwalt veruntreute den größten Teil der Summe. Den Rest seines Lebens verbrachte Ossietzky im Berliner Nordend-Krankenhaus, weiterhin ständig überwacht. Zuletzt soll er noch 72 Pfund gewogen haben. Dort starb er am 4. Mai 1938 an den Folgen der KZ-Haft. In ihrem Nachruf schrieb die New York Times:

Carl von Ossietzkys Eintreten für die menschliche Freiheit, sein Kampf für die Bewahrung der demokratischen Prinzipien in einem Europa, das zu diktatorischen Doktrinen verdammt war, und zu guter Letzt sein erfolgloser Kampf gegen die Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit waren eng mit Deutschlands Not während der Nachkriegszeit verbunden. Als leidenschaftlicher Pazifist war er sogar in den Augen liberaler Republikaner ein Radikaler. Für seine Gegner war er der „Pamphletist mit der beißenden Feder“. Für seinen Anhänger wurde er ein „Märtyrer der deutschen Kultur“.


Nur wenige Medien haben an diesem Wochenende den 70. Todestag Ossietzkys zur Kenntnis genommen. Nach Ansicht des Oldenburger Politikwissenschaftlers Gerhard Kraiker, Mitherausgeber der Ossietzky-Gesamtausgabe, ist es „angesichts starker Spannungen zwischen demokratischen Prinzipien und neoliberalem Kapitalismus (…) besonders wichtig, anlässlich seines 70. Todestags an Ossietzky zu erinnern“. Aber sicherlich nicht nur dann.


Ossietzky-Denkmal in Berlin

8.4.2008

Helden im Flieger

„Top Gun“ war gestern. Jetzt gibt es den „Roten Baron“, den Film über Manfred von Richthofen, das Fliegeras im Ersten Weltkrieg. Was die Kritik an dem Film betrifft, so hat Christian Buß bei Spiegel Online wohl alles dazu gesagt.

Wie heldenhaft es im Kriege zuging, dazu hat Tucholsky sich schon wenige Monate nach Richthofens Tod geäußert:

Er fragt, warum die, die im Kriege Menschen töten, noch Blech angehängt bekommen zur Belohnung. Weil alle Moral auf Nützlichkeit aufgebaut ist – bis auf einen kleinen Rest, den man nicht erklären kann, und der der Philosophie so viel zu knacken gibt. Diebstahl ist deswegen so verschrieen – in der Hauptsache – weil er uns schadet, Mord auch. Und dieser Mord soll nutzen, und es ist noch nicht – nach 6000 Jahren noch nicht – in die Köpfe gegangen, daß Blut Blut ist und daß es keinen geheiligten Mord geben darf. Natürlich ist kein Unterschied. Nur die Betrachtungsweise dieser Tiere macht einen: der Mörder ist ein Unhold, Richthofen ist ein Held. Dabei sind beide mitunter beides. Das wird nicht aufhören, bis der Wahnsinn der Staaten aufhört.
Brief an Mary Gerold vom 17. August 1918

Allerdings ist das nur der halbe Tucholsky. Denn genau ein Jahr vorher, am 26. August 1917, erschien in der von ihm herausgegebenen Feld-Zeitung Der Flieger folgender kleiner Literaturhinweis:

Rittmeister Freiherr von Richthofen hat seine fliegerischen Kriegserlebnisse in dem fesselnden Bande Der rote Kampfflieger (Verlag Ullstein & Co., Preis Mk. 1.-) niedergelegt. Das Buch enthält den Werdegang unseres erfolgreichsten Fliegers bis in die allerletzte Zeit hinein und ist so unterhaltsam und liebenswürdig abgefaßt, daß niemand in dem Schreiber die „große Kanone“ vermuten würde. Den charakteristischsten Episoden sind anschauliche Photographien beigefügt. – Das Bändchen ist in allen Feldbuchhandlungen zu haben.

Tucholsky hatte offenbar alles andere als Lust, im Krieg den journalistischen „Helden“ zu markieren. So schrieb er bereits im Juni 1917 an den befreundeten Schriftsteller Hans Erich Blaich:

Anbei 1 Flieger. Natürlich ist da nichts zu machen – den Behörden hier ist er nicht „fein“ genug, ich nuckele zu allem „ja“ – denn schließlich: was gehts mich an?

P.S.:: Sollten Tucholskys journalistische Heldentaten im Ersten Weltkrieg irgendwann verfilmt werden, müsste man wenigstens keine Liebesgeschichte erfinden.

18.3.2008

Kurzer Abriss der Globalökonomie

Diesmal also die Banker. Es gibt ja immer Teile der „Herren Wirtschaftsführer“, wie Tucholsky sie nannte, die eine Zeitlang ihre besondere Unfähigkeit beweisen wollen:

Die Kaufleute sind Exponenten des Erwerbsinnes; sie haben immer ihre Rolle gespielt, doch wohl noch nie so eine große wie heute. Weil das, was sie in Händen halten, das wichtigste geworden ist, werden sie in einer Weise überschätzt, die lächerlich wäre, wenn sie nicht so tragische Folgen hätte. Die deutsche Welt erschauert, sie braucht Götzen, und was für welche hat sie sich da ausgesucht –!

Wer denkt da nicht sofort an … (nach Belieben auszufüllen).

Oder hatten wir nicht vor einiger Zeit einmal eine Diskussion über die Höhe von Managergehältern?

Weil die Kapitalisten nur mit einem Verdienst arbeiten, der tausend und tausendmal über dem der Arbeiter steht; es wird uns aber kein Mensch erzählen, daß selbst der gewiegteste und beste Unternehmer soviel verdient, wie er verdient: nämlich soviel, wie fünfhundert seiner Arbeiter zusammen. Fünfhundert Leute … das sind in Wahrheit mindestens weitere siebenhundert, die von den Verdiensten der fünfhundert leben, mindestens.
„Das Volk“, in: Deutschland, Deutschland über alles, S. 18

Da fragt man sich doch, was die Deutschen früher gemacht haben, als es noch keinen DAX gab, mit dessen Höhen und Tiefen sie mitfiebern konnte. Denn, was lernt man schon aus einem Kurzen Abriss der Nationalökonomie:

Die Wirtschaft wäre keine Wirtschaft, wenn wir die Börse nicht hätten. Die Börse dient dazu, einer Reihe aufgeregter Herren den Spielklub und das Restaurant zu ersetzen; die frommem gehn außerdem noch in die Synagoge. Die Börse sieht jeden Mittag die Weltlage an: dies richtet sich nach dem Weitblick der Bankdirektoren, welche jedoch meist nur bis zu ihrer Nasenspitze sehn, was allerdings mitunter ein weiter Weg ist. Schreien die Leute auf der Börse außergewöhnlich viel, so nennt man das: die Börse ist fest. In diesem Fall kommt – am nächsten Tage – das Publikum gelaufen und engagiert sich, nachdem bereits das Beste wegverdient ist. Ist die Börse schwach, so ist das Publikum allemal dabei. Dieses nennt man Dienst am Kunden. Die Börse erfüllt eine wirtschaftliche Funktion: ohne sie verbreiteten sich neue Witze wesentlich langsamer.

Dennoch wüssten viele heute gerne, warum kleine deutsche Landesbanken pleite gehen, wenn amerikanische Häuslebauer ihre Kredite nicht bezahlen können. Die Antwort lautet ganz einfach:

Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten.

14.3.2008

Das Lesen geht weiter

Der Einsatz der Bürger im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg hat sich gelohnt. Die Kurt-Tucholsky-Bibliothek im Bötzoviertel wird nicht geschlossen, sondern voraussichtlich vom 1. April an von ehrenamtlichen Mitarbeitern weitergeführt. Für den Verein Pro Kiez Bötzowviertel ist das nur „reine Notwehr“. „Wir sehen das nicht als Modell für andere Bezirke und für weitere Stellenreduzierungen“, sagte Klaus Lemnitz vom Verein Pro Kiez der Nachrichtenagentur ddp. Bleibt nur zu wünschen, dass die Bibliothek irgendwann wieder von bezahlten Bibliothekaren betrieben werden kann.

7.3.2008

Erinnerung an einen Traum

Am 30. Januar dieses Jahres waren 75 Jahre seit der Machtübergreifung (Tucholsky) der Nationalsozialisten vergangen. Folglich wird es in diesem Jahr noch viele weitere Tage geben, an denen es der einschneidenden Ereignisse vor einem Dreivierteljahrhundert zu gedenken gilt. In seinem Kalenderblatt vom 7. März erinnerte das Deutschlandradio Kultur daran, dass vor 75 Jahren ein Traum zu Ende ging:

Als Forum aufklärender Kunst und Kultur diente in der Weimarer Republik die Zeitschrift „Die Weltbühne“. Kurt Tucholskys Traum von einem aufgeklärten Menschentum wurde kurz nach Machtantritt der Nationalsozialisten zerstört.

Es folgt eine geraffte Zusammenfassung der „Weltbühne“-Geschichte, angefangen 1905 mit der Gründung der „Schaubühne“ durch Siegfried Jacobsohn und endend mit dem Gedicht „Auf die Weltbühne“, das Tucholsky zum Namenswechsel der Zeitschrift am 4. April 1918 veröffentlichte.

Mit Blick auf solche runden Jahreszahlen schrieb der Philosoph Ernst Bloch 1924 in der „Weltbühne“, zum 200. Geburtstag Immanuel Kants:

Wer mag das nun eigentlich erfunden haben: sich jeweils zu erinnern, daß der oder jener große Mann hundert, hundertfünfzig, zweihundert Jahre grade tot oder geboren ist? Auf die Jahre, ja selbst auf Geburt oder Tod kommt es ja nicht mehr an. Kants Geburt ist keine Art Weihnacht, Kants Tod keine Art Karfreitag, sondern es wird sehr einfach nur irgendetwas gefeiert, das Land mit einer Salve von Phrasen überschüttet.
„Kant-Feier“, 8.5.1924, S. 605

Aus diesem Grund ist es eher sekundär, dass das Verbot der Zeitschrift ziemlich genau 75 Jahre zurückliegt, wenn demnächst ein Auswahlband zur „Weltbühne“ erscheinen wird. Ihre Aktualität sollten die darin enthaltenen Texten schon aus sich heraus besitzen. Aus Teutschland Deutschland machen – Ein politisches Lesebuch zur „Weltbühne“ lautet der Titel der Anthologie, die voraussichtlich ab Mai erhältlich ist. Aus naheliegenden Gründen wird sich dann hier keine Rezension, sondern eher eine Eigenanzeige finden.


Und wer unbedingt Gedenktage braucht: Am 10. Mai wird es 75 Jahre her sein, dass die deutschen Studenten unliebsame Bücher verbrannten. Von den 15 Personen, die in den offiziellen Flammensprüchen genannt wurden, waren neun Autoren der „Weltbühne“. Die Nazis wussten sehr genau, wessen Träume sie am meisten fürchten mussten.

2.3.2008

Im Osten wenig Neues

Ein kluger Mann hat einmal gesagt: „Die Entfernung ist für die Liebe wie der Wind für das Feuer: Das starke facht er an, das schwache bläst er aus.“ Nimmt man als Ausdruck der Liebe die Zahl der Briefe, die über die Distanz ausgetauscht werden, dann muss Tucholsky seine zweite Frau Mary Gerold von Anfang an sehr geliebt haben. Vom jüngst erschienenen Band 16 der Tucholsky-Gesamtausgabe, der Tucholskys Briefe von 1911 bis 1918 enthält, füllen diejenigen an die verehrte Mary fast die gesamte Korrespondenz. Dabei hatte er die damals 18-jährige Baltin erst im November 1917 kennengelernt, als er in der Artillerie-Fliegerschule im kurländischen Alt-Autz Dienst tat. Auf der Stelle war Tucholsky für sie entflammt. Mary widersetzte sich jedoch einer schnellen Eroberung, was Tucholskys Werben erst recht verstärkte.

Nach einer anfänglichen Verstimmung versöhnten sich die beiden wieder, doch Tucholsky entschied sich im April 1918, als Feldpolizeikommissar nach Rumänien zu gehen. Erst nach 20 Monaten sollte er Mary wiedersehen. In der Zwischenzeit entspann sich ein Briefwechsel, der nach Ansicht des Tucholsky-Biographen Michael Hepp „zu den schönsten dieses Jahrhunderts gehört“.
Doch die Intensität dieses Briefwechsel täuscht, was das Verhältnis zu Mary betrifft. Hepp schreibt weiter:

Die Briefe ersetzen das reale Leben, man kann fast sagen: Tucholskys eigentliches Leben fand in der Korrespondenz statt. Egal, ob es seine Artikel waren, die er auch nur als Briefe an Siegfried Jacobsohn betrachtete, oder die unzähligen Briefe an seine Frauen und „Freunde“, das Schreiben wurde für ihn zum Lebensersatz, die realen Menschen zu Empfängern degradiert, zu „Beichtbüchsen“, wie er Mary Gerold und Hedwig Müller gleichermaßen nannte.
Michael Hepp: Biographische Annäherungen. Reinbek 1999, S. 129

Das Laotse-Zitat müsste auf Tucholsky abgewandelt lauten: „Die Nähe ist für die Liebe wie das Löschflugzeug für das Lagerfeuer.“ Oder mit den Worten Marys:

Ich kann es nicht verstehen, wieso zwei Menschen, die sich lieben, auseinandergehen – ohne jeglichen Grund. – Vielleicht ist es aus der Entfernung viel schöner – die Nähe enttäuscht letzten Endes immer.
Ebd. S. 148

Dabei schien Tucholsky durchaus zu wissen, wonach er sich sehnte:

Dicker, gestern habe ich – als ich nicht schlief, nein! es wird niemals wieder vorkommen – also gestern habe ich es mir ausgedacht, daß das Allerschönste ist, abends, wenn der ganze Kram vorbei ist, mit einer Frau zu liegen – und – Erotik hin, Erotik her – sich es alles rauszuerzählen. Siehst Du, das wäre ungefähr das, was die Mama von jemanden verlangte, und was man – ich weiß – nun einmal nicht erfüllen kann. Das liegt nicht in der Überlegung und im Vorsatz – das liegt ganz tief. Entweder man tuts oder man tuts nicht. Sich ganz vertraut sein – nicht drängen – einfach dasein, zu zwein – und der Tag zieht vorüber, dies und das – auf der Basis der Gleichheit, bunte Figuren auf einem Teppich. Und man ist sich dann so nah, wie nur zwei sein können, die …
Brief vom 8. Oktober 1918

Tucholskys Korrespondenz hatte während des Krieges damit wenig mit den Feldpostbriefen der Frontsoldaten gemein, die im Schützengraben ums nackte Überleben kämpften. Was vor allem daran lag, dass Tucholsky erfolgreich vermeiden konnte, direkt an der Front eingesetzt zu werden und auf Menschen schießen zu müssen. Charakteristisch für seine Haltung ein Schreiben an seine Schwester Ellen vom September 1915:

ich habe eine pickstollhe. Aberst ich schieß lieber nicht. Nachher erschrickt so ein Russe und wird krank … Nein, nein.

Trotz dieser pazifistischen Einstellung – auch geprägt von dem Wunsch, selbst nicht erschossen zu werden – schien es im Krieg lange Zeit für ihn denkbar, seine Karriere als Beamter der Militärpolizei fortzusetzen. „Ich muß sagen, ich wünschte nicht, daß der Krieg nun auf einmal ein Ende hätte – ein Jahr brauche ich ihn noch“, schrieb er im August 1918 an Mary. Und Ende September gestand er:

„Mein Plan war dieser – um einmal alle Karten aufzudecken: hier unten Kommissar zu werden, das ist nicht mehr allzulange – und dann zu versuchen, nach Kurland zu gehen, und von einer Kriegsstellung sachte in eine Friedensposition hinüberzugleiten.“

Pazifistische Bekenntnisse gab es nur „auf Anfrage“, wie in einem Brief vom 17. August an Mary:

Er fragt, warum die, die im Kriege Menschen töten, noch Blech angehängt bekommen zur Belohnung. Weil alle Moral auf Nützlichkeit aufgebaut ist – bis auf einen kleinen Rest, den man nicht erklären kann, und der der Philosophie so viel zu knacken gibt. Diebstahl ist deswegen so verschrieen – in der Hauptsache – weil er uns schadet, Mord auch. Und dieser Mord soll nutzen, und es ist noch nicht – nach 6000 Jahren noch nicht – in die Köpfe gegangen, daß Blut Blut ist und daß es keinen geheiligten Mord geben darf. Natürlich ist kein Unterschied. Nur die Betrachtungsweise dieser Tiere macht einen: der Mörder ist ein Unhold, Richthofen ist ein Held. Dabei sind beide mitunter beides. Das wird nicht aufhören, bis der Wahnsinn der Staaten aufhört.

Gegen Ende des Krieges lag Tucholsky außerdem ein Angebot vor, den „Ulk“, die Satirebeilage des „Berliner Tageblatts“, zu leiten. Die Entscheidung zwischen Journalismus und Offizierskarriere nahmen ihm die Alliierten ab, indem sie den Krieg im Westen entschieden. Nach dem militärischen Zusammenbruch ging Tucholsky nach Berlin. Dort griff er die Korrespondenz mit Mary wieder auf. Sein folgendes Lamento könnte sein Motto für die nächsten fünfeinhalb Jahre gewesen sein:

Von mir persönlich kann ich Ihnen nicht viel, und nicht allzuviel Lustiges erzählen. Man kann nicht übersehen, was morgen oder gar übermorgen sein wird. Es ist alles recht häßlich, und ich kann nicht sagen, daß ich mich übermäßig wohl in Berlin fühle.

29.2.2008

Ein Kassenbuch für Verzweifelte

„“Dankbarkeit und Weizen gedeihen nur auf gutem Boden“, lautet ein deutsches Sprichwort. Die Mark Brandenburg war noch nie dafür bekannt, Weizen im Überfluss zu produzieren. Und mit der Dankbarkeit scheint es in der Streusandbüchse zuweilen auch nicht weit her zu sein. So ist den Stadtvätern von Rheinsberg offenbar nicht bewusst, wie viel die Bekanntheit ihres Städtchens dem „Bilderbuch für Verliebte“ verdankt, das Tucholsky 1912 veröffentlichte. Anders ist wohl kaum zu erklären, dass einer der Stadtverordneten jüngst vorschlug, das dortige Kurt Tucholsky-Literaturmuseum nicht mehr zu unterstützen. „Wenn wir uns so etwas nicht leisten können, müssen wir uns davon trennen“, sagte Wilfried Schmidt (Allianz) zur finanziell schwierigen Situation, wie die „Märkische Allgemeine“ berichtete. Doch soweit wird es vorerst offenbar nicht kommen:

Das wollte Erich Kuhne (CDU) dann doch nicht gelten lassen. „Ist uns eigentlich bewusst, was wir mit der Musikakademie, der Kammeroper und dem Kurt-Tucholsky-Museum für Schätze haben?“, fragte er seine Abgeordnetenkollegen. Der Stadtverordnetenvorsteher wies darauf hin, dass die Stadt und das Umland nicht wenig von diesen Kultureinrichtungen profitieren.

Für Museumsleiter Peter Böthig ist es deprimierend genug, bei allen möglichen Stellen um Geld betteln gehen zu müssen. Dazu noch ohne Erfolg, wie aus dem Bericht hervorgeht:

Böthig berichtete, dass alle geführten Gespräche mit dem Kreis über einen Trägerwechsel erfolglos verlaufen sind. Deshalb habe er auch die Fördersumme verdreifacht, was wie bekannt nichts geholfen hat. Außerdem informierte der Leiter, dass er in einem Brief an Kulturministerin Johanna Wanka um einen Betriebskostenzuschuss gebeten hat. Auch dieser Antrag sei abgelehnt worden. Selbst das Bemühen, mit Hilfe eines Finanzdienstleisters, der sich deutschlandweit um Sponsoringverträge kümmert, ins Geschäft zu kommen, hätten keinen Erfolg gebracht.

Die Suche nach einem neuen Träger, der die Finanzierung des Museums auf eine solide Basis stellt, wird wohl noch eine Zeitlang dauern. Und Böthig wird mit Tucholsky weiter klagen dürfen: „Was mich in der ganzen letzten Zeit so maßlos bedrückt und mir meine Laune völlig verdirbt, ist die Sache mit dem Geld.“

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