26.11.2024

Merkwürdige Schigolche und eine neue Romanze – Rezension zu Stephan Berelsmanns „Kurt Tucholsky Neuschnee“

Wenn man Tucholsky Glauben schenken darf, gibt es im wirklichen Leben keinen Neuschnee. Das hat den Braunschweiger Pädagogen Stephan Berelsmann nicht davon abgehalten, seine Sammlung von Tucholsky-Texten, die nicht in der Gesamtausgabe enthalten sind, mit „Neuschnee“ zu betiteln.

Daher fragt man sich verwundert: Sind die Texte denn nun „neu“, oder sind sie es nicht? Und vor allem: Sind sie überhaupt von Tucholsky?

Dass hin und wieder unbekannte Texte oder Briefe von Tucholsky auftauchen, ist hingegen nichts Neues. Selbst auf dem Sudelblog wurde vor einigen Jahren ein solcher Brief erstmalig veröffentlicht. In „Neuschnee“ ist er jedoch nicht zu finden. Berelsmann war die Veröffentlichung nicht bekannt.

Wie kam der 61-Jährige, der schon seine Examensarbeit über Tucholsky schrieb, an seine Fundstücke? Der Einleitung zufolge verdankt das Buch seine Entstehung dem Internet (wem sonst) und zunächst dem Portal Europeana.eu. Für eine Recherche in historischen Zeitungen dürfte inzwischen das Deutsche Zeitungsportal besser geeignet sein. Während Europeana zwischen 1911 und 1933 nicht einmal 200 Fundstellen für „Tucholsky“ auflistet, kommt das Zeitungsportal auf mehr als 1.000.

Das Problem bei einer solchen Archivsuche: Tucholsky schrieb bekanntlich nicht nur unter seinem bürgerlichen Namen, sondern unter allerhand Pseudonymen. Dabei verfügte der Mann mit den 5 PS über deutlich mehr Pferdestärken. Neben Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger und Ignaz Wrobel gehörten dazu auch Schigolch, Die Claire oder Horatio von Massarena. Manche Texte unterzeichnete er mit „Von einem Berliner“, oder, gerade in den Anfangsjahren, einfach mit Kurt, Peter, Ignaz, Kaspar, K.T., tu., iwro. und bisweilen gar nicht. Es ist daher praktisch ausgeschlossen, nur über eine Volltextsuche im digitalen Heuhaufen auf Neuschnee zu stoßen.

Nicht nur aus diesem Grund ist es eine erstaunliche Leistung, dass Berelsmann auf diese Weise überhaupt Texte ausfindig gemacht hat, die von Tucholsky sind oder von ihm sein sollen. So enthält der Band gleich acht Texte, die unter dem Pseudonym Schigolch in deutschen Zeitungen erschienen sind. Schigolch ist eine literarische Figur aus dem Drama „Erdgeist“ von Frank Wedekind. Der Ganove Schigolch ist der Vater der Hauptfigur Lulu. Tucholsky nutzte das Pseudonym zweimal in der „Schaubühne“ im Jahr 1913. Laut Gesamtausgabe erfolgte die Zuschreibung durch ein Widmungsexemplar des betreffenden Jahrgangs, in dem Tucholsky die von ihm verfassten Beiträge angestrichen hatte.

Was neben den vielen Pseudonymen bei der Suche erschwerend hinzukommt: Die Digitalisate der Zeitungsbibliothek sind alles andere als perfekt. So ist der Autorenname Schigolch mal mit „Sohigoloh“, mal mit „Schigo.oh“ oder gesperrt mit „S ch i g o l ch“ vom Texterkennungsprogramm erfasst worden. Man findet die angegebenen Texte zwar in dem Archiv, aber nur, wenn man nach anderen Begriffen oder bestimmten Phrasen sucht.

Berelsmann hat fünf Schigolch-Texte aus dem Zeitraum Februar 1921 bis Februar 1924 im Vorwärts (4) und in der Freiheit (1) entdeckt. Die Autorschaft Tucholskys darf sowohl von den Inhalten als auch vom Stil her angenommen werden. Auch das Ende des genannten Zeitraums ist plausibel: Im April 1924 zog der von der Situation in Deutschland frustrierte Journalist nach Paris. Der Artikel „Das neue Berlin„, ein fiktiver Brief des „Fraulein Liselotte v. X an ihre Freundin Ursula v. Y.“ erschien in der Heimwelt, der Unterhaltungsbeilage des Vorwärts.

Doch Berelsmann hat noch mehr Schigolche ausfindig gemacht. Diese erschienen in den Jahren 1925 und 1926 in Provinzblättern wie den Westfälischen neuesten Nachrichten oder der Badischen Presse. Exemplarisch sei der Artikel „Die Fahrprüfung“ vom Oktober 1925 genannt.

Darin schildert der Autor, wie er zusammen mit 14 anderen Personen, darunter zwei Frauen, in Berlin seine Fahrprüfung absolviert. Und sie am Ende sogar besteht. Der Text ist zwar eine Glosse und macht sich über Prüfungssituation lustig. Aber biografische Details, die Schigolch erwähnt, sprechen gegen eine Autorschaft Tucholskys. So bezeichnet sich der Autor als gedienter Einjährig-Freiwilliger, was auf Tucholsky nicht zutrifft. Dieser machte das sogenannte Einjährige zwar zwei Mal, absolvierte aber nicht den einjährigen Wehrdienst, sondern machte erst 1915 als Weltkriegssoldat seine Bekanntschaft mit dem Militär.

Außerdem darf als ausgeschlossen gelten, dass Tucholsky Zeit seines Lebens den Autoführerschein machte oder selbst Auto fuhr. So heißt es in der Autobiografie von Lisa Matthias, Tucholskys Lottchen, auf Seite 113:

Die gemeinsamen Reisen in meinem Wagen wurden in Zukunft eine Quelle des Vergnügens für uns beide. Tucholsky verstand absolut nichts von Technik oder Mechanik und war deshalb ein sehr angenehmer Beifahrer.

In einem Brief an seinen Freund Walter Hasenclever vom 4. Januar 1934 schrieb er: „Gratulor zum Auto. Für Sie ist das gut und vernünftig. Sie brauchen Bewegung, und ich verstehe das durchaus. Ist es ein schöner Wagen? War der Kauf wenigstens günstig?“ In seinen Texten und Briefen findet sich kein Hinweis darauf, dass Tucholsky selbst einmal am Steuer saß oder ein Auto kaufte.

Dieses Detail spielt in einem anderen Schigolch-Text aber eine wichtige Rolle. So steht in dem Artikel „Das Todesrennen auf der Avus“ vom 16. Juli 1926 in der Badischen Presse der Satz:

Ein herrlicher Tag voller Sonne und Hitze, ich kam mit meinem Wagen nicht rasch durch die Straßen, Auto hinter Auto stand eingepfercht in den Zufahrtsstraßen und die Insassen saßen aufgebracht in ihren Polstern, und ich muss sagen, dass ich, der ich selbst geduldig bin, ebenfalls aufgebracht war, denn wir hielten in einer asphaltierten Seitenstraße und die Sonne brannte und die Motoren von vielen Hunderten von Wagen liefen und brummten und entwickelten eine infernalische Hitz, uns allen lief der Schweiß beinahe in die Augen.

Berelsmann schließt die Autorschaft Tucholskys für diesen Text aus, weil dieser zum Zeitpunkt des Todesrennens nicht in Berlin weilte, sondern zusammen mit Alfred Polgar in Garmisch-Partenkirchen an einer Revue schrieb.

Das heißt: Es gab also offensichtlich einen anderen Autor, der in den Jahren 1925 und 1926 in Berlin lebte und unter dem Pseudonym Schigolch Texte über Berlin veröffentlichte. Tucholsky hielt sich hingegen zwischen Januar 1925 und September 1926 vermutlich gar nicht in Berlin auf.

Daher verwundert, dass Berelsmann ihm ebenfalls einen Schigolch-Artikel aus 1926 zuschreibt, der mit „Berlin, im August“ eingeleitet wird. Der Text „Berlins Atmosphäre. Episoden aus der Straße“ aus der Badischen Presse liest sich bisweilen wie ein Schüleraufsatz.

Er wird, wenn er etwa nach Wannsee hinausfährt, höchstens oben im Walde durch die Bäume den neuen Golfplatz sich ansehen, vor dessen schönen Gebäuden jederzeit, vom Morgen bis zum späten Abend eine Auslese von herrlichen Autos steht, er wird, wenn es hoch kommt, sich das Stadion ansehen, mit den weitgeschweiften Bahnen und Tribünen, er wird müde vom Sehen und Laufen sich am Kurfürstendamm niederlassen und den Reitern und Reiterinnen zusehen, die in der Mitte dieser schönen Straße unter den Bäumen, die man nun bald fällen wird, daherreiten, um in den Tiergarten zu kommen oder in den Grunewald, kurz, er wird nur einen Hauch von Berlin atmen, und dieser Hauch wird ihn alsbald sehr ermüden.

Ermüdend wie die Wanderung durch Berlin sind auch solche Endlossätze. Die Episoden, die Schigolch schildert, haben sich erst kurz vor dem Verfassen des Artikels ereignet. Sehr unwahrscheinlich, dass Tucholsky sie in Berlin erlebt und geschildert hat.

Was an der Sammlung ebenfalls verwundert: Die beiden Stücke des Proletarischen Kasperle-Theaters von Kaspar Hauser („Die entartete Prinzess“, „Kasperle als Spitzel“) werden ebenfalls Tucholsky zugeschrieben. Dabei wurde in der Literaturwissenschaft bislang Jörg Mager als Autor angenommen, wozu in „Neuschnee“ entsprechende Arbeiten genannt werden, zuletzt 2013 die Diplomarbeit von Magdalena Schnitzer. Nun schreibt Berelsmann jedoch lapidar: „Zehn Jahre später geht man jedoch von Kurt Tucholsky als Verfasser aus.“

Ist das wirklich so? Und wer genau ist „man“? Auf Nachfrage schrieb Berelsmann:

Belege aus der Literaturwissenschaft kenne ich nicht, aber wenn man die Titel z.B. im Katalog der gvk sucht, wird KT als Autor genannt.

Der GVK ist ein gemeinsamer Verbundkatalog der beiden großen deutschen Bibliotheksverbünde GBV und SWB.

Im GVK findet sich in der Tat ein entsprechender Eintrag. Das könnte man beispielsweise zum Anlass nehmen, um bei der verantwortlichen Berliner Staatsbibliothek nachzufragen, auf welcher Basis die Zuordnung erfolgte. Schließlich hatten die Herausgeber der Gesamtausgabe ihre Gründe, weder das „Proletarische Kasperletheater“, noch „Die verkehrte Welt: in Knüttelversen dargestellt“ als Tucholsky-Werke aufzunehmen. Doch Berelsmann ficht das nicht an.

Das ist auf der einen Seite bedauerlich, macht es auf der anderen Seite aber verständlich, warum der Rowohlt-Verlag die Sammlung als “ zu disparat“ empfand und sie nicht als Ergänzung der Gesamtausgabe verlegen wollte. Das Buch ist stattdessen im Würzburger Verlag Königshausen & Neumann erschienen.

Bedauerlich auch deswegen, weil es den Blick auf die übrigen Fundstücke stark trübt. Zwar sind darunter keine Texte, die völlig neue Facetten von Tucholskys Werk aufzeigen. Glitzernder Neuschnee ist hingegen der Brief an Käthe Löffler vom 10. Dezember 1933.

Tucholskys rechnet darin unter anderem mit der Situation im nationalsozialistischen Deutschland ab und empört sich über die Haltung Frankreichs, Englands und des Papstes. Die Exilpresse findet wenig Gnade.

Das Tagebuch ist lebendig und ganz nett, die Neuen Deutschen Blätter in Prag gesinnungstüchtig links, ach Gott, und die „Sammlung“ so indecis und lau wie Kläuschen Mann, der sie macht und der nun vergeblich versucht, ein kleiner Held zu sein.

Dieser Brief enthält zudem Formulierungen, die aus anderen Briefen Tucholskys bereits bekannt sind. So das bekannte Diktum:

Die Haltung der deutschen Juden ist eine Affenschande. Nicht die Germanen sind verjudet, sondern diese Juden sind verbocht.

Deren nachgiebiges Verhalten kritisiert er weiter mit den Worten:

Ebert hat einen neuen Typus in die Politik eingeführt: den Judas ohne Silberlinge. Die deutschen Juden eifern ihm wacker nach.

Laut Berelsmann harrt das Diktum zu Ebert „seines Eingangs in die ‚Litteraturgeschichte'“. Allerdings findet sich diese von Tucholsky häufig verwendete Formulierung erstmals schon 1925 in dem Text „Zwei Sozialdemokratien“.

Aber wer ist die Adressatin des Briefes, Käthe Löffler? Die Gesamtausgabe konnte hinter ihrem Nachnamen, der in einem Brief erwähnt wird, noch keine Person ermitteln.

Tucholsky verabschiedet sich von ihr mit den Worten:

Dies ist wie die Bekanntschaft zweier Liebender auf dem Lande, die sich erst „brieflich nähertreten“. Na, dann treten wir also.

Wo und wann sich die beiden kennenlernten, konnte auch Berelsmann nicht ermitteln. Ein erster Brief Tucholskys an die „Liebe Doktorin“ datiert vom Februar 1932. Darin bedankt er sich über zwei Briefe, die er bereits von ihr erhalten hat. Offenbar war er von der Ärztin sehr angetan:

Sie sind ein guter Mann, und ich beginne, Sie in mein wertes Herz zu schließen.

Das ist bemerkenswert. Denn wenn Tucholsky Frauen besonders schätzte, neigte er dazu, sie zu vermännlichen. Seine zweite Frau Mary Gerold sprach er in Briefen stets mit „Er“ an.

Im August 1933 schrieb Tucholsky an seinen nach Prag emigrierten Bruder Fritz: „Die Adresse der Löffler hätte ich gern.“ Zu diesem Zeitpunkt war die sozialistische Ärztin jedoch schon nach Brasilien ausgewandert. Tucholsky bedauert, dass er den Schritt nach Südamerika nicht selbst wagen kann.

Ich wünschte, ich könnte Ihnen nachfolgen. Aber meine Rolle war ja schon prekär hier; wie sollte sie da sein?

Ein weiterer Brief an Löffler ist in dem Band nicht enthalten.

Kann man aber mit den recht wenigen Texten und Briefen, die gesichert von Tucholsky stammen, ein 540-seitiges Buch füllen? Mit Sicherheit nicht. Den größten Teil des Buches machen mit mehr rund 230 Seiten zwei Versionen einer Revue aus, die Tucholsky zusammen mit Alfred Polgar verfasste. „Der Untergang des Abendlandes“, nach dem gleichnamigen Buch Oswald Spenglers benannt, wurde jedoch nie aufgeführt.

Tucholsky veröffentlichte anschließend fünf Texte daraus in der „Weltbühne“: „Gebet eines Zeitungslesers“, „Wendriners setzen sich in die Loge“, „Lied der Kupplerin“, „Der Traum – ein Leben“ und „Theater“.

Immerhin scheinen die Autoren in der Revue schon das Lebensmotto Donald Trumps vorweggenommen zu haben:

Wir zischeln und flüstern
wir sagens zehn Mal.
Wir wissen das schon:
Lüge wird Wahrheit durch Repetition.

Eine junge Frau, Baby genannt, singt treffend:

Der Schlager, so viel steht einmal fest
Ist eine musikalische Pest.
Ansteckung: leicht. Heilung: schwer.
Der Kranke leidet wenig. Die andern sehr –

Auf weiteren rund 40 Seiten hat Berelsmann ungesicherte Texte zusammengetragen. Die meisten davon stammen aus dem Prager Tagblatt, das Berelsmann nach eigenen Angaben komplett durchgeblättert hat. Manche Artikel davon sind nur mit Peter oder P.P. unterzeichnet, manche mit Kaspar oder gar nicht. Die Autorschaft ergibt sich dabei für Berelsmann beispielsweise aus dem Sujet „Theater“ und dem Tonfall.

Nicht von Tucholsky dürfte wohl der „Brief aus dem Ruhrkohlenrevier“ stammen, der im April 1919 in der Castroper Zeitung erschien und „Von einem Berliner“ unterzeichnet ist. Der Text passt weder von Sujet noch Tonfall zu Tucholsky, der im Frühjahr 1919 sehr stark in Berlin eingespannt war und in dieser unsicheren Zeit vermutlich nicht mit dem Zug nach Köln gefahren ist.

Im Text „Der gesprochene Liebesbrief“ nahm ein pp im Prager Tagblatt schon 1925 die Sprachnachrichten von Whatsapp vorweg:

Aus Berlin kommt eine neue Erfindung, der „sprechende Brief“. Man spricht, was man bisher dem Papier anvertrauen wollte, in einen kleinen Aufnahmeapparat (…)

Dieser Aufnahmeapparat war allerdings kein Smartphone, sondern ein „Stückchen Karton“, das dann per Post verschickt werden musste. Von Tucholsky ist nicht bekannt, dass er eine solche Sprachnachricht hinterlassen hat. Die Reichspost führte das Verfahren ohnehin erst im August 1938 ein.

Zu guter Letzt listet Berelsmann auf fast 50 Seiten noch Nachdrucke von Tucholskys Werken auf, die noch nicht in der Gesamtausgabe aufgeführt sind. Was man halt so alles findet, wenn man die Vorzüge der Digitalisierung bei der Suche nach Neuschnee zu nutzen weiß.

Angesichts der genannten Einwände stellt sich daher die Frage, ob sich die Anschaffung des Softcover-Buches zum Preis von 48 Euro lohnt. Neben echten Fundstücken wie den Löffler-Briefen besteht der Großteil der Sammlung aus den Kasperle-Stücken und den beiden Revue-Versionen.

Die Entscheidung fiele leichter, wenn Berelsmann etwas kritischer mit den Zuschreibungen umgegangen wäre und versucht hätte, in Zusammenarbeit mit anderen Tucholsky-Kennern und -Sammlern weitere Texte zu finden. Eine Diskussion über die Attribution der Texte wäre sicherlich auch ein lohnenswertes Thema für eine wissenschaftliche Tagung der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft. Das wäre allemal besser, als dieselben Themen wie „Tucholsky und die Medien“ oder „Tuchosky und der Pazifismus“ immer und immer wieder durchzukauen.

22.12.2023

Was wird aus dem Tucholsky-Museum in Rheinsberg?

Der Aufschrei in der Region und in der deutschen Kulturlandschaft hat Wirkung gezeigt. Das Tucholsky-Museum im brandenburgischen Rheinsberg soll doch nicht kaputt gespart werden. Nachdem die Stadt Rheinsberg im Oktober 2023 beschlossen hatte, die Stelle des scheidenden Museumsleiters Peter Böthig mit der Leitung der Tourist-Info zusammenzulegen, war das Museum umgehend auf die Rote Liste der bedrohten Kultureinrichtungen geraten. Der Deutsche Kulturrat rief die Stadt Rheinsberg und das Land Brandenburg auf, „die weitere wissenschaftliche Leitung des Museums sicherzustellen“.

Doch der Stadt fehlen dazu derzeit die finanziellen Mittel. Trotz einer Förderung durch das Land Brandenburg in Höhe von 65.000 Euro und weiteren knapp 15.000 Euro vom Landkreis belief sich das Defizit in diesem Jahr auf 241.000 Euro.

Eine Rettung ist nun in greifbare Nähe gerückt. Der Landkreis Ostprignitz-Ruppin erklärte am 1. Dezember 2023 seine Bereitschaft, für die klamme Stadt einzuspringen und das Museum in eigene Trägerschaft zu übernehmen. Zur Begründung hieß es:

Eine wissenschaftliche Leitung dieses Museums im bisherigen Umfang ist unabdingbar, um eine Fortführung auf dem heutigen Qualitätsniveau zu gewährleisten.

Die Übernahme soll zum 1. April 2024 vollzogen werden. Der Stadtrat von Rheinsberg befürwortete in einer Sitzung vom 18. Dezember 2023, Anfang kommenden Jahres die erforderlichen Verhandlungen zu starten. Museumsleiter Peter Böthig will seinen Vertrag dazu um einen Monat bis Ende März verlängern.

Der Ruppiner Anzeiger schrieb am 20. Dezember 2023:

In den Verhandlungen muss auch geklärt werden, wie mit der umfangreichen Sammlung des Museums umgegangen wird, die im Eigentum der Stadt ist. Eine mögliche Lösung wäre ein befristeter Leihvertrag, meint Peter Böthig, der den Wert auf eine halbe Million Euro schätzt.


Peter Böthig bei der Eröffnung der Else Weil-Ausstellung im Jahr 2010

Aus der Berliner Perspektive ist nicht ganz nachvollziehbar, warum die Situation in den vergangenen Wochen dermaßen eskalierte, dass sich sogar Kulturstaatsministerin Claudia Roth zu einem Statement bemüßigt fühlte. Diese Ansammlung von Plattitüden zu Tucholsky hätte der Öffentlichkeit durchaus erspart bleiben können.

Dass Peter Böthig Ende Februar in den wohlverdienten Ruhestand geht, ist schließlich schon seit langem bekannt gewesen. Wer nun dessen Nachfolge antritt, ist unklar. Wenn die Finanzierung gesichert ist, dürfte die Stelle neu ausgeschrieben werden.

Dem Museum und der Stadt bleibt zu wünschen, dass die neue Leitung nicht nur literaturwissenschaftliche Expertise mitbringt, sondern ebenso wie Böthig das kulturelle Leben in der Region mit Lesungen und Ausstellungen bereichert. Tucholskys Leben und Werk ist schließlich ziemlich gut erforscht. Es kommt heute vor allem darauf, die richtigen Lehren aus seinem damals vergeblichen Kampf gegen Nationalismus, Militarismus und Rechtsextremismus zu ziehen. Auch und gerade in der Brandenburger Provinz.

21.3.2023

Rezension: Man hat etwas gegen Sie vor. Kurt Tucholsky in Köln 1928/29

Auf den ersten Blick mutet es ein bisschen verwegen an, die wenigen Aufenthalte Kurt Tucholskys in Köln zu einem kompletten Büchlein auszuwalzen. Was in den gängigen Tucholsky-Biografien kaum mehr als eine Fußnote wert ist, hat der Kölner Historiker Mario Kramp auf knapp 90 Seiten dargestellt. Da Kramp einen sehr weiten Boten schlägt, – von Tucholsky Umzug nach Paris im Jahr 1924 bis zu dessen Tod im schwedischen Exil elf Jahre später -, hat das Büchlein dennoch genug Substanz und Unterhaltungswert. Nicht nur, aber gerade auch für Tucholsky-Fans.

Funktionieren kann nur, weil Kramp möglichst alle ihm verfügbaren Quellen auswertet, die sich mit Tucholskys Besuchen in der „Domstadt“ befassen. Und diese gibt es zuhauf. Denn Tucholsky weilte am Rhein nicht zum Vergnügen. In den Jahren 1928 und 1929 hat er vier Vorträge in Köln gehalten. Einen davon sogar im damals recht neuen Rundfunk.

Kramp fördert dabei interessante Berichte zutage, die ein gutes Licht auf die zeitgenössische Tucholsky-Rezeption werfen. Wie kaum anders zu erwarten, zeigten die damaligen Zeitungsartikel die tiefgehenden Risse, die durch die Gesellschaft der Weimarer Republik gingen.

Tucholsky war damals ebenso populär wie verhasst. Sein Kampf gegen den Militarismus passte den nationalistischen und reaktionären Kreisen ebenso wenig wie sein Werben für eine deutsch-französische Verständigung. Gerade am Rhein, der immer noch von französischen Truppen besetzt war. Die Tucholsky-Rezeption in Köln kann dabei exemplarisch für die Situation in der deutschen „Provinz“ stehen, was dieser in einem gleichnamigen Text in der Weltbühne vom Mai 1929 analysiert hat.

Von einer eindringlichen Warnung eines unbekannten Unterstützers ließ sich Tucholsky nicht davon abbringen, am 27. September 1928 einen Vortrag im Gebäude des Kunstvereins am Friesenplatz zu halten. „Man hat etwas gegen Sie vor“, hieß es in dem maschinengeschriebenen Hinweis.

Anders als im November 1929 in Wiesbaden sind Tucholskys Vorträge in Köln jedoch nie gestört worden. Ganz im Gegenteil. Seine Zuhörer waren meist begeistert über Inhalt und Art des Vortrags. Kronzeuge dafür ist auch bei Kramp der damalige Germanistikstudent Hans Mayer, der sich später als Literaturwissenschaftler mit dem „pessimistischen Aufklärer“ Kurt Tucholsky auseinandergesetzt hat.

Der Kölner Stadt-Anzeiger notierte damals:

Intellektuelles Volk drängt sich zuhauf im Kunstverein. Kein Stuhl bleibt unbesetzt. An den Wänden stehen Zuhörer, in den Gängen, an allen Ecken und Enden des überhitzten Raumes.

Das Thema des Vortrags lautete „Frankreich heute“. Laut Mayer versuchte Tucholsky den Zuhörern „die völlig andere Lebens- und Denkart des bürgerlichen Frankreich darzustellen“.

Deutlich mehr Aufsehen und Kontroversen erzeugte Tucholskys nächster Vortag in Köln. Denn damit erreichte der Schriftsteller nicht nur seine Fans, sondern auch seine Gegner. Am 22. März 1929 las er im Westdeutschen Rundfunk aus seinen Werken vor. Anschließend beschwerte sich ein Kreisverband der rechtskonservativen DNVP bei Rundfunkintendant Ernst Hardt über den Vortrag. Es sei

eine ungeheure Brüskierung weitester Kreise der Hörerschaft, einen Mann wie Tucholsky, Panther, Ignatz Wrobel usw. im Westdeutschen Rundfunk sprechen zu lassen, dazu noch am Tag des Buches.

Hardt entgegnete mit dem bemerkenswerten Satz:

jeder Hörer, welcher Tucholski nicht schätzt und nicht zu hören wünscht, konnte sich ja seiner Vorlesung durch Abschalten des Apparates entziehen.

Die Cancel Culture ist wahrlich kein neues Phänomen.

Leider ist von dem Vortrag keine Aufzeichnung erhalten. Sonst wäre auf diese Weise die Stimme Tucholskys der Nachwelt überliefert worden.

Am folgenden Tag, Karsamstag, gab es einen weiteren Vortrag. Dieses Mal in der Kölner Lesegesellschaft in der Langgasse. Tucholsky trug dabei wohl aus seinen Sammelbänden Mit 5 PS und Das Lächeln der Mona Lisa vor. Das Kölner Tageblatt lobte den Autor für „die glänzendste und überlegenste Zeitkritik, die man sich nur denken mag“.

Nicht ganz zutreffend scheint Kramps Behauptung, wonach Tucholsky am nächsten Morgen, dem 24. März 1929, nach Berlin aufgebrochen sein soll, um dort an einer Matinee mit seinen Werken teilzunehmen. Anders als von Kramp behauptet, endete dort auch nicht seine kleine Lesereise. Nach der Biografie von Michael Hepp trat Tucholsky noch am 25. März in Frankfurt und 27. März in Mannheim auf. Warum sollte er zwischendurch für einen Morgen nach Berlin gereist sein?

Der vierte und letzte Vortrag in Köln bildete am 18. November 1929 den Auftakt zu einer großen Lesereise, die Tucholsky über zehn Stationen durch große Teile Deutschlands führte. Dieses Mal widmete er sich vor allem juristischen Themen, darunter der Reform des Sexualstrafrechts. Dass er in dem Vortrag auch die Sexualmoral der Kirche kritisierte, gefiel der Presse im katholischen Rheinland jedoch gar nicht. Seine Auffassungen seien „armselig“ und nichts weiter als eine „snobistische Abendunterhaltung“, monierte die katholische Kölnische Volkszeitung.

Recht bekannt ist Tucholskys pessimistisches Resümee der Lesereise, das er in einem Brief an seine Ex-Frau Mary Gerold zog:

Im übrigen: für wen ich das eigentlich mache … das weiß ich nach dieser Reise weniger als je. Es ist trostlos. Allerdings bezieht sich das auf die Bürgerschaft – vor Arbeitern habe ich nicht gesprochen. Das ist dann vielleicht anders.

Damit endet Kramps Buch jedoch noch nicht. Im letzten Kapitel, mit Schicksale überschrieben, widmet er sich den Lebensläufen der Personen, die an den Kölner Vortragen mittel- oder unmittelbar beteiligt waren. Dazu zählt neben Rundfunkintendant Hardt auch der Buchhändler Paul Wolfsohn, der Tucholsky im Jahr 1928 engagiert hatte. Der jüdische Kaufmann Erich Leyens, der Tucholsky vor dem kriegerischen Revanchegeist im Rheinland gewarnt hatte, musste über Italien und Kuba in die USA emigrieren.

Dann sind die rund 90 Seiten von Kramps Büchlein auch schon vorbei. Es hätten ruhig ein paar mehr werden können, dann hätte man die Fußnoten im Anhang nicht ganz so klein drucken müssen.

Mario Kramp: Man hat etwas gegen Sie vor. Kurt Tucholsky in Köln 1928/29, Greven Verlag Köln, 2022, 92 Seiten, 12 Euro, ISBN 978-3-7743-0952-4

1.3.2022

Tucholsky und der Krieg

Die Invasion der Ukraine ist eine politische Zäsur, die an den Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen im Jahr 1939 erinnert. Auch wenn Tucholsky den Beginn des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebte, hat er in seinen Schriften jahrelang vor einem neuen Krieg in Europa gewarnt. Dass die Pazifisten in Deutschland trotz der Schrecken des Ersten Weltkriegs einen aussichtslosen Kampf führten, war ihm schmerzlich bewusst.

Es wundert daher nicht, dass in den sozialen Medien seit Beginn des Ukraine-Krieges vielfach an die pazifistischen Gedichte und Texte Tucholskys erinnert wird. Sei es an das Gedicht „Der Graben“ oder den Satz „Soldaten sind Mörder.“.

Obwohl sich im Werk Tucholskys unzählige kriegskritische und antimilitaristische Äußerungen finden, ist in den vergangenen Tagen ein Zitat recht populär gewesen, das gar nicht von ihm stammt. Es lautet:

Jeder Krieg ist eine Niederlage. Denn Krieg vernichtet Leben.

Das klingt einfach und schlicht. Fast zu schlicht für Tucholsky. Denn von ihm stammen deutlich pointiertere Aussagen wie „Jeder Krieg ist ein Verbrechen“ oder

Jeder Krieg hat wirtschaftliche Ursachen – aber er hat auch einige, die nur aus biologischen Grundlagen zu erklären sind. Eine davon ist tierische Anbetung der Gewalt, allemal dann, wenn sie bunt kostümiert ist.

Das falsche Tucholsky-Zitat erinnert hingegen einen Satz, der vom US-amerikanischen Schriftsteller Henri Miller stammt:

Jeder Krieg ist eine Niederlage des menschlichen Geistes.

(Original: Every war is a defeat to the human spirit. In: The Colossus of Maroussi)

Wo das falsche Tucholsky-Zitat herkommt, ist wie in den meisten Fällen unklar. Leider findet es sich in großen Zitate-Sammlungen wie aphorismen.de oder gutezitate.com und wird daher bis zur Zerstörung des Internets im nächsten Atomkrieg nicht aus der Welt zu bringen sein.

Sehr aufschlussreich, auch für die heutige Situation, sind hingegen Tucholskys Einschätzungen zur Bekämpfung militaristischer Staaten aus dem Jahr 1935. In einer Briefbeilage, dem sogenannten Q-Tagebuch, schrieb er an seine Zürcher Freundin Hedwig Müller:

Nichts als Pacifist zu sein – das ist ungefähr so, wie wenn ein Hautarzt sagt: „Ich bin gegen Pickel.“ Damit heilt man nicht. Ich weiß Bescheid, denn ich habe diese Irrtümer hinter mir. Die kapitalistische Gesellschaftsordnung läßt scharf und genau einen Teil der Kriegsgründe begreifen, die immer da sind, wenn Absatzgebiete geschaffen werden sollen. Das ist – gegen die rosenroten Idealisten – eine sehr gute Lehre. Aber sie ist nicht vollständig. Ein Teil liegt im Wesen der Menschen. „Es wird immer Kriege geben.“ Es wird auch immer Morde geben. Es fragt sich nur, wie die Staatsordnung Krieg und Mord bewertet. Den Mord bewertet man als Rechtsbruch – den Krieg als Naturereignis, mehr: als eine heroische Sache. Er ist, oft und in vielem, eine Schweinerei. Also -?

Tucholsky kommt zu dem Schluss, dass man Staaten wie Nazi-Deutschland nicht mit Zugeständnissen von ihrem Kriegskurs abbringen kann:

Will man aber den Krieg verhindern, dann muß man etwas tun, was alle diese nicht tun wollen: Man muß bezahlen.

Ein Ideal, für das man nicht bezahlt, kriegt man nicht.

Ein Ideal, für das ein Mann oder eine Frau nicht kämpfen wollen, stirbt – das ist ein Naturgesetz. Der Rest ist Familiäre Faschingsfeier im Odeon.

Einen Interventionskrieg gegen Deutschland lehnte Tucholsky jedoch ab. Das wäre so, „wie wenn man meine Mama, um sie zu ändern, ins Gefängnis sperren wollte“. Einen Rüstungswettlauf, wie er sich nun wieder andeutet, hielt er ebenfalls für kontraproduktiv.

Zwischen diesem Krieg und einer energischen und klaren Haltung aller Mächte Europas ist noch ein großer Unterschied. (…)

Ich halte im übrigen dieses Wettrüsten für Wahnwitz – es muß zum Kriege führen, und es ist gar kein Mittel, wie das Weißbuch sagt, ihn zu verhindern. Aber das nur deshalb, weil die Regierungen, vollgesogen – von Minger bis zu Lloyd George – von der blödsinnigen Idee der absoluten Souveränität – in Anarchie leben und keine Rechtsordnung über sich anerkennen wollen. Also muß der Friedenstörer, der ja Deutschland ist, den Ton angeben, wie ja immer der niedrigste den Ton angibt. Hier war der Kern – seit 1919 nur hier. Jetzt ist es viel zu spät, und das Unheil nimmt seinen Lauf.

Die von Tucholsky vorgeschlagenen Mittel erinnern an die heutigen wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland. Aber nicht nur das:

Boykott. Blockade. Innere Einmischung in diese Barbarei, ohne Krieg zu führen. Vor allem aber, und das halte ich für das schrecklichste: die geistige Haltung hätte eben anders sein müssen, aber sie konnte nicht anders sein, denn da ist nichts. Man siegt nicht mit negativen Ideen, die ja stets das Verneinte als Maß aller Dinge anerkennen – man siegt nur mit positiven Gedanken. Europa hat keine. Beharren ist nichts. Es geht zurück. Es verliert.

Es bleibt zu hoffen, dass die Invasion in der Ukraine nicht zu einem nächsten großen Krieg in ganz Europa führen wird.

Nachtrag vom 8. März 2022: Der Kuckucks-Zitate-Forscher Gerald Krieghofer hat herausgefunden, wie das Zitat offenbar in die Welt gekommen ist:

Die Zeitschrift „P.M. – Peter Moosleitners interessantes Magazin“ (4/2003) brachte im März 2003 folgende 5 Grundsätze Kurt Tucholskys, die angeblich aus seinem Werk „Wenn sie wieder lügen“ stammen.

Aber, weder gibt es ein Werk Tucholskys mit dem Titel „Wenn sie wieder lügen“, noch stammt einer dieser 5 Grundsätze so oder so ähnlich wirklich von dem 1935 verstorbenen Satiriker Kurt Tucholsky.

Der P.M.-Autor hat dabei absurderweise einen Artikel über Kriegslügen und Kriegspropaganda mit falschen Tucholsky-Zitaten garniert. Dabei scheint der Rest des Artikels solide zu sein. Schon merkwürdig, wie das zustande gekommen ist.

7.12.2021

Wie die AfD mit einem falschen Tucholsky-Zitat den Bürgerkrieg herbeifantasiert

„Wenn Wahlen etwas änderten, wären sie längst verboten.“ Dieses angebliche Tucholsky-Zitat hat vor allem vor Bundestagswahlen in Deutschland Hochkonjunktur und ist nach Ansicht der taz „der größte Quatsch seit der Erfindung des politischen Witzes“.

Das hat die bayerische AfD-Landtagsabgeordnete Anne Cyron nach Angaben des Bayerischen Rundfunks nicht daran gehindert, in einem parteiinternen Telegram-Chat folgenden Text zu posten:

Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie längst verboten – hat Tucholsky auch schon gewusst. Denke, dass wir ohne Bürgerkrieg aus dieser Nummer nicht mehr rauskommen werden.

Der BR schreibt einschränkend:

„Immer wieder wird dieses Zitat Kurt Tucholsky zugeschrieben. Ob es von ihm stammt ist unklar.“

Das ist nicht nur „unklar“, sondern sehr unwahrscheinlich. Denn in seinem digital vorliegenden Werk findet es sich nicht. Außerdem musste Tucholsky in der Weimarer Republik am eigenen Leib erfahren, dass Wahlen sehr wohl etwas ändern können. Denn schließlich sind die Nationalsozialisten, die ihn 1933 ausgebürgert haben, mit Hilfe demokratischer Wahlen an die Macht gekommen.

So schrieb schon am 16. Juli 1929 der Journalist Heinz Pol in der „Weltbühne“:

Bis auf weiteres bleiben parlamentarische Erfolge auch der antidemokratischsten Parteien der sichtbarste Beweis für das Anwachsen einer Bewegung. Die Nationalsozialisten, denen doch das parlamentarische System so verhaßt ist und die so emphatisch jede Mehrheit für Unsinn erklären, wissen augenblicklich des Jubelns kein Ende über ihre gewiß imponierenden Wahlerfolge in Mecklenburg, in Sachsen, in Koburg und auf den Universitäten.

Eine AfD-Politikerin daran erinnern zu müssen, dass Wahlen sehr wohl etwas ändern können, ist schon ein Treppenwitz der Geschichte. Dass ausgerechnet Tucholsky dazu herhalten muss, einen gewaltsamen Sturz des demokratischen Systems zu begründen, ist eine literarische Leichenschändung.

28.11.2021

Zur Versachlichung der Tucholsky-Debatte

Um es gleich am Anfang zu klären: Darf ein Satiriker einem anderen Satiriker aus satirischen Gründen seinen Text unterschieben? Da die Satire laut Tucholsky bekanntlich alles darf, ist es von Titanic-Autor Cornelius Oettle besonders elegant gewesen, diesen Text gleich unter Tucholskys Namen zu veröffentlichen: „Zur Versachlichung der Impfdebatte“ heißt das Gedicht, das seit dem 26. November 2021 auf Twitter und in anderen sozialen Netzwerken die Runde macht.

Das Gedicht hat offensichtlich so wenig mit Tucholsky zu tun wie die Titanic mit der Weltbühne, in der es im Jahr 1928 erschienen sein soll. Von daher ist es keine Tucholsky-Parodie, sondern lediglich der Versuch, mit der Zuschreibung zu einem bekannten Autor und der Datierung in eine völlig andere Epoche mehr Aufmerksamkeit zu generieren. Nur die wenigsten dürften zudem wissen, dass 1928 sicherlich nicht über eine Zwangsimpfung gegen Diphtherie diskutiert wurde, wie es Oettle einleitend behauptet.

Es erscheint daher als reine Willkür, den Text Tucholsky zuzuschreiben. Ebenfalls erinnert die von Oettle gestiftete Verwirrung an das angebliche Tucholsky-Gedicht zur Finanzkrise. Dieser poetische Hoax aus dem Jahr 2008 ging allerdings nicht auf den tatsächlichen Autor des Gedichts zurück, sondern entstand aus einer Verkettung falscher Zuschreibungen im Internet.

Warum hat Oettle das Gedicht nicht unter seinem eigenen Namen veröffentlicht? Vielleicht wollte er damit die Literatur- und Medienkompetenz der Twitter-Nutzer testen. Wer glaubt, dass ein bekannter Autor wie Tucholsky schon Impfverweigerer in den Knast stecken wollte, hat wohl weniger Hemmungen, seine Zustimmung zu solchen Überlegungen zu äußern. Darauf sind in der Tat viele Leute reingefallen. Wobei die Zahl derjenigen, denen die Attribution merkwürdig vorkam, größer gewesen sein dürfte. Laut Kuckuckszitate-Sammler Gerald Krieghofer haben in zwei Tagen „bald 10.000 Leute nachgeschaut, ob das stimmt“.

Was schrieb Tucholsky zum Thema Impfen?

Abgesehen davon, wie sinnvoll eine solche Falschzuschreibung ist, stellt sich durchaus die Frage, ob und wie sich Tucholsky in seinem Werk zum Thema Impfen geäußert hat. Schließlich gab es seit der Einführung der zwangsweisen Pockenimpfung im deutschen Kaiserreich eine lautstarke Gruppe von Impfgegnern und eine kontroverse Debatte.

In der Weimarer Republik erfuhr die Impfdebatte durch das sogenannte Lübecker Impfunglück neuen Auftrieb. Durch kontaminierten Tuberkulose-Impfstoff waren im Jahr 1930 77 Kinder gestorben. In der Weltbühne vom 19. August 1930 durfte der Schriftsteller Walther von Hollander ziemlich unwissenschaftlich gegen den „Impfwahn“ wettern.

Als Jurist hat sich Tucholsky hingegen nicht zu medizinischen Fragen des Impfens geäußert. Sogar im Alter von 43 Jahren hat er sich noch impfen lassen.

Ich schreibe Ihnen noch, wohin ich mache – ich werde hier geimpft, vielleicht nützt es was. Dann trudele ich langsam ab – und ich wäre mächtig froh, wenn wir uns vorher sähen.

schrieb er am 4. April 1933 von Zürich aus an seinen Freund Walter Hasenclever. Wogegen er geimpft wurde, ist nicht bekannt.

Das ist allerdings die einzige Impfäußerung Tucholskys mit persönlichem Bezug. Die weiteren Fundstellen sind eher ein Ausdruck davon, wie selbstverständlich das Impfen in der damaligen Zeit war.

So schrieb er am 10. Mai 1923 in der Weltbühne:

Im Kriege hatte der Soldat in der einen Hand seine Waffe und in der anderen eine Liste; auf der stand geschrieben:

Ich glaube, wenn man unserm Volk seine Listen wegnähme, es wüßte überhaupt nicht mehr, was es noch hienieden sollte. Denn ob wir befähigt sind, Kriege zu führen und das Staatsruder zu führen – das steht noch dahin – aber Listen führen – das können wir.

Anderswo gehen die Leute durch den grünen Wald – bei uns geht alles durch die Bücher. Denken Sie mal, was alles bei uns eingetragen wird:

Geburt, Impfung, Amme; Schulgang und Rausschmiß, erste Liebe (Grober öffentlicher Unfug, Alimentation usw.) (…)

Oder am 11. September 1928, ebenfalls in der Weltbühne:

Der Kriminal-Roman ist die Ausspannung von der alltäglichen Tätigkeit: wer in der Geisbergstraße wohnt, eingetragen auf dem Einwohner-Meldeamt, mit Steuerbogen, Führerschein, Geburtszeugnis und Impfattest, der liebt die Pyramiden, in deren Innern sich die arabischen Wüstenräuber aufhalten …

Ähnlich hieß es in der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ) im Jahr 1930 (Nr. 14):

Kein Konsulatsbeamter sagt: „Kommen Sie wegen des Visums morgens nochmal. Wir brauchen dazu ein Impfzeugnis Ihrer Großmutter und eine schriftliche Bescheinigung, daß Sie in unserem Lande keine Papageienzüchterei aufmachen wollen. Und … haben Sie selbst ansteckende Krankheiten? … oder sind Sie Bolschewist …?“

Ein Hinweis auf ganz spezielle Impfung findet sich in der Weltbühne vom 3. Juni 1930:

Wir verdanken Gustav Meyrink die schöne Geschichte vom „Schöpsoglobin“, darin die Affen des Urwaldes mit einer Lösung geimpft werden, die heftigen Patriotismus erzeugt. Die Impfung richtet denn auch schreckliche Verwüstungen unter den Tieren des Waldes an: sie gehen mit markerschütterndem Stumpfsinn hinter einem Riesenaffen her, der sich das Gesäß mit Goldpapier beklebt hat … man lese das nach (…)

Zur Spanischen Grippe finden sich ebenfalls einige Fundstellen in Tucholskys Briefen. So behauptete er im Juli 1918 in einem Schreiben an Hans Erich Blaich:

Ich habe mir zwar noch nicht die gefährlichen lateinerischen Krankheiten acquirieret, vor denen Sie mich gewarnt haben, aber die spanische Grippe – worauf sich zu Unrecht „Hippe“ reimt – wars doch schon.

Im Februar 1919 räumte er in einem weiteren Brief an Blaich hingegen ein, nicht ganz an die Existenz dieser Pandemie geglaubt zu haben:

Viel wichtiger aber ist, daß es Ihnen und Ihrer Frau nicht gut ging – ich dachte, die Grippe sei eine Berliner Erfindung.

Beim Ausbruch der Spanischen Grippe befand sich Deutschland allerdings im Ersten Weltkrieg. Daher konnte man öffentlichen Verlautbarungen nicht unbedingt vollen Glauben schenken.

Zum Abschluss noch einen echten Impfwitz von Tucholsky, veröffentlicht am 10. Februar 1917 in der Feldzeitung Der Flieger:

Die Lady
Vor einiger Zeit tanzte Lady Constance Stewart-Richardson, die Nichte der Herzogin von Sutherland, im Palace-Theater zugunsten eines wohltätigen Zwecks. Nun sind in der Stadt einige Pockenfälle vorgekommen, und die Dame wünscht geimpft zu werden, „aber an einer Stelle“, sagte sie zu ihrem Arzt, „wo es, wenn ich tanze, nicht gesehen werden kann.“ Der Doktor erwiderte, es würde unter diesen Umständen zweckmäßig sein, wenn er selbst sehe und einer Vorstellung beiwohne. Dann – nach dem letzten Tanzabend – sagte er: „Gnädige Frau – da gibts nur eins. Sie müssen den Impfstoff verschlucken!“

26.1.2020

Was Kurt Tucholsky schmutzig fand

Schon Anfang der 1930er Jahre kannte Kurt Tucholsky das Problem, als Journalist und Buchautor die Rezeption der eigenen Werke nicht steuern zu können. „Der Leser hats gut: er kann sich seine Schriftsteller aussuchen“, seufzte er in den „Schnipseln“ vom 3. Februar 1931.

Doch seine Texte wurden von Leuten, die er eigentlich bekämpfte, nicht nur eifrig gelesen. Mehrmals beschwerte er sich in seinem Hausblatt Weltbühne darüber, dass nationalsozialistische Zeitungen sie unter falschem Namen sogar nachdruckten. So beklagte er sich am 29. März 1932:

Die armen Luder

Daß die Nazis keine Schriftsteller besitzen, die fähig sind, deutsch zu schreiben, weiß man aus den Leistungen ihrer Führer. Daß dieses Gesocks aber systematisch klaut, um den Lesern ihrer Papiere vorzuführen, was herzustellen sie selber nicht fähig sind …

Es ist jetzt der zweite Nazi-Diebstahl, den ich hier festnagele.

Das „Blatt der Niedersachsen“, Nat.-Soz. Tageblatt für den Gau Hannover-Ost, bringt in seiner Nummer vom 24. Februar 1932 einen Beitrag:

„Kurzer Abriß der Nationalökonomie, von Karl Murx, staatlich prämiierter National-Komiker.“
Der Beitrag ist gestohlen; er hat hier unter derselben Überschrift am 15. September 1931 gestanden und war damals Kaspar Hauser gezeichnet.

Stehlen – sich die deutsche Nationalität ermogeln – lügen – stehlen -: es sind arme Luder.

Das erste Plagiat hatte er am 22. September 1931 angeprangert:

Theobald Tiger

freut sich, daß ein Nazi-Papier einmal ordentlich hereingefallen ist.

Die Nr. 159 des 2. Jahrganges der düsseldorfer „Volksparole“ vom 27. August enthält ein Gedicht „Die Ortskrankenkasse“. Dieses Gedicht ist gestohlen: es stand hier in der „Weltbühne“ am 3. Juni 1930. Der neue Verfasser nennt sich mit Recht „Schloch“. Wahrscheinlich heißt er mit Vornamen auch Adolf.

Oder hat sich jemand mit den Schriftgelehrten einen Scherz erlaubt? Dazu gehört freilich nicht viel, mit denen etwas zu tun, was sie gewohnt sind: sie anzuführen.

Jetzt wollen wir einmal sehn, ob diese deutschen Mannen so viel Ehrlichkeit und Anständigkeit besitzen, zuzugeben, daß sie geklaut haben. Und noch dazu bei dem freundlich feixenden

Theobald Tiger

Fast 85 Jahre nach seinem Tod erfreut sich Tucholsky immer noch großer Beliebtheit bei Lesern, die er sich vermutlich nicht selbst aussuchen würde.

Doch in diesem Falle wird zumindest nicht versucht, die Urheberschaft des linken Demokraten, Sozialisten, Pazifisten und Antitmilitaristen, wie ihn die Wikipedia skizziert, zu verschleiern. Statt dessen wird offenbar seine Popularität benutzt, um folgende Zitate immer wieder in sozialen Medien wie Twitter oder Facebook zu posten:

Im übrigen gilt ja hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht.

Sowie:

Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig.

Das erste Zitat wird häufig verwendet, wenn es darum geht, Kritiker der aktuellen Regierungspolitik, vor allem der Flüchtlingspolitik, zu verteidigen. So schrieb die AfD Bayern im Mai 2018:

Die Wahlkampfstrategen der CSU, die die AfD nicht mit den besseren Argumenten bekämpfen können, sondern nur mit der Nazikeule, sind so peinlich wie sie erfolglos sein werden. Es war Kurt Tucholsky, der in Zeiten der Nazidiktatur erkannte, „dass in Deutschland derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher gilt als der, der den Schmutz macht.“

Doch wann und warum hat Tucholsky eigentlich auf welchen Schmutz hingewiesen? Das sollte man durchaus wissen und im Hinterkopf behalten, wenn man dieses Zitat verwendet.

Der Satz stammt aus einer Postkarte Tucholskys an den Theaterkritiker Herbert Ihering. Sie ist datiert auf den 10. August 1922, also noch weit vor der Nazidiktatur:

Lieber Herr Jhering,

Ich danke Ihnen recht schön für Ihre liebe Karte, die mich sehr erfreut hat. Sie kennen ja diese Brüder: die Verleumdung wird mir noch lange anhängen. Viele haben die Berichtigung überhaupt nicht gelesen, und die meisten Zeitungen denken gar nicht daran, überhaupt zu berichtigen. Im übrigen gilt ja hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht.

Mit herzlichem Dank für Ihr freundliches Interesse

Ihr

Tucholsky.

Worum geht es in dieser „Verleumdung“? Hintergrund ist ein Artikel Tucholskys aus der Weltbühne vom 29. Juni 1922, der am 28. Juli 1922 von der französischen Zeitschrift L’Eclair ohne Tucholskys Wissen und Einverständnis nachgedruckt worden war. In dem Text „Die Schupo“ hatte er sich die Broschüre „Die Schutzpolizei und ihre Gefechtsgrundsätze“ näher angeschaut. Tucholsky bezeichnete die Schutzpolizei in dem Artikel als „durch und durch militärische Organisation“ und kam zu dem Schluss:

Der Verfasser des Kriegsbuches für den Frieden bedauert, dass es immer noch Menschen gebe, die ihn und die Seinen für Soldaten hielten. Wie er hofft, wird allmählich auch unser eignes Volk begreifen, „dass es uniformierte Menschen gibt, die Waffen tragen und Kampfübungen vornehmen, und die doch etwas ganz andres sind als Soldaten“. Da kann er lange warten. Militär ist Militär – ob es grau oder grün ist. Dieses ist grün und rüstet im stillen für irgend etwas.

Da in dieser paramilitärischen Ausbildung ein Verstoß gegen den Versailler Vertrag gesehen werde konnte, wundert es nicht, dass sich auch Frankreich für das Thema interessierte. Allerdings veröffentlichte L’Eclair den Text mit dem unzutreffenden Hinweis: „Wir erhalten von einem berliner Publizisten folgende überzeugenden Enthüllungen über die Schupo …“.

Das wiederum wurde Tucholsky von deutschen Medien als Übergabe deutschfeindlichen Materials an das Ausland ausgelegt. Zwar berichtigte das berliner Acht-Uhr-Abendblatt nach einem Hinweis Tucholskys diese Falschmeldung bereits am folgenden Tag. Doch das hielt andere Medien nicht davon ab, gegen Tucholsky als Verräter zu hetzen. Daher sah er sich am 17. August 1922 in der Weltbühne zu einer „Erklärung“ gezwungen, in der es unter anderem heißt:

Seit diesem Tage tobt die reaktionäre Provinzpresse aller Kaliber um jene Lüge, deren Berichtigung für sie nicht existiert. Gesinnungsgenossen des Zuhälters Ankermann beschimpfen mich telephonisch, die Drohbriefe sind entsprechend – und das Ganze ist unendlich feige.

Ich stelle hier fest:

Ich habe niemals von einer Entente-Zeitung Geld oder sonst eine Vergünstigung bekommen – weder direkt noch indirekt. Ich habe niemals an das Ausland irgend welches Material gegeben. Was ich gegen eine militärisch eingestellte Nebenregierung habe sagen wollen, habe ich in der Heimat gesagt. Und nirgends anderswo.

Mit anderen Worten: Tucholsky war bereits damals Opfer einer klassischen Fake-News-Kampagne, wie man heute sagen würde. Die Fake-News wiederum führten zu Hasskommentaren und Morddrohungen, wie sie heutzutage vor allem in sozialen Medien oder per E-Mail verbreitet werden. Darüber beklagte sich Tucholsky alias Ignaz Wrobel eine Woche später, am 22. August 1922, in der Glosse „„Helden am Telephon“ in der Weltbühne:

Der nationale Teutsch-Held steht in der Kneipe tief aufatmend auf und sagt: „So“ – und sieht sich vorher um, ob es auch alle wissen, was er nun ausfrißt. Und er schreitet ans Telefon. Und legt los. Geduckt hinter einer Anonymität, die leicht zu lüften wäre (was er nicht weiß) – und geschwellt von einem ›vaterländischen‹ Gefühl, das guten Durst macht. Ich lächle, rauche und höre mir das an. Und dann hängt er ab und wallt zum Stammtisch zurück, überall beglückwünscht zu seiner großen Tat. Welch ein Kerl -!

Weil solcher Hass heute ebenso wie damals wieder tödliche Folgen haben kann, druckte die taz den Text „über das, was heute Hate Speech heißt“, am 17. Januar 2020 vollständig nach.

Es ist daher schon ein ziemlich brachialer Treppenwitz der Geschichte, wenn dieses Schmutz-Zitat von Personen verwendet wird, die mit solchen Methoden arbeiten, die Tucholsky aufs Schärfste abgelehnt hat. Und die linke Publizisten im Zweifel mit denselben Methoden angreifen, die schon gegen Tucholsky verwendet wurden. Ausnahmen bestätigen selbstverständlich die Regel.

Das gilt auch für das Zitat vom Volk, das das meiste falsch verstehen, aber das meiste richtig fühlen soll. Auch damit lässt sich einfach ein Gegensatz zwischen „denen da oben“ und dem angeblichen Volk konstruieren. Man betrachtet seine eigene Auffassung als die des Volkes, die auch ohne wirkliches Verständnis der Materie wie beim Klimawandel oder der Flüchtlingspolitik „richtig“ sein soll. Oder vielleicht genau deshalb.

Doch schon Tucholsky hat gewissermaßen vor dem Missbrauch seiner eigenen Erkenntnis gewarnt. Denn das vollständige Zitat aus dem Text „Bauern, Bonzen und Bomben“ vom 7. April 1931 lautet:

Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig. Daß nun dieses richtige Grundgefühl heute von den Schreihälsen der Nazis mißbraucht wird, ist eine andre Sache.

Die Gefahr, dass latente anti-demokratische und rassistische Ressentiments missbraucht werden, besteht damals wie heute. Sich dabei ausgerechnet auf Tucholsky zu berufen, ist nicht nur falsch verstanden, sondern auch falsch gefühlt.

31.12.2019

Was darf die Umweltsau?

Es kommt eher selten vor, dass Tucholsky gleich mit zwei Texten herhalten muss, um eine aktuelle politische Debatte besser einordnen zu können. Um das WDR-Satirelied „Mein Oma ist ne alte Umweltsau“ (Text, Video) in einen literarischen und historischen Kontext zu stellen, wurde in den vergangenen Tagen selbstredend auf den Klassiker „Was darf die Satire?“ von 1919 und auf die schon damals nicht ganz ernst gemeinte Analyse des Schlagers „Wir versaufen unser Oma sein klein Häuschen“ von 1922 verwiesen.

Aber auch ohne die Lektüre dieser beiden Tucholsky-Texte sollte man erkennen, dass das Satire-Lied völlig harmlos ist, keine Kinder instrumentalisiert und nicht pauschal die gesamte Rentner-Generation abwertet und beleidigt.

Entweder bedarf es einer gewissen taktischen Verblödungsbereitschaft, um dieses Lied als Angriff auf die Familie zu sehen. Oder es ist tatsächlich so, dass einer durch Klima- und Boomerdebatten aufgeheizten, überempfindlichen Social-Media-Öffentlichkeit noch das letzte Abstraktionsvermögen abhanden gekommen ist,

schrieb David Hugendick dazu treffend auf Zeit Online.

Anstatt das Video auf den ersten Shitstorm hin zu löschen und sich dafür zu entschuldigen, hätte der WDR zwei, drei Sätze zu dessen Einordnung nachschicken und die Sache auf sich beruhen lassen können. Denn was in der Debatte leider völlig untergegangen ist: Das Lied persifliert zwei Elemente der Fridays-for-Future-Proteste und bringt die daraus resultierenden Konflikte zwischen Jungen und Alten ganz gut auf den Punkt.

Zum einen sind umgedichtete Volkslieder ein Bestandteil der aktuellen Proteste gegen die Klimapolitik. So singen die Jugendlichen beispielsweise:

Von dem blauen Planeten kommen wir/ Unser Klima stirbt genau so schnell wie wir/
Und wir reißen immer schneller/ den Planeten in den Keller/
Von dem blauen Planeten kommen wir.

Und natürlich haben die Klimaaktivisten auch den Demo-Klassiker Wehrt Euch, leistet Widerstand nach der Melodie von Hejo, spann den Wagen an adaptiert:

Wehrt Euch, leistet Widerstand
gegen die Braunkohle hier im Land!
Auf die Barrikaden! Auf die Barrikaden!

Zum anderen ist spätestens seit der emotionalen „How dare you“-Rede von Greta Thunberg die Unzufriedenheit und Ungeduld der jugendlichen Klimaaktivisten mit der älteren (Politiker)-Generation, den Boomern, offensichtlich geworden..

Das Oma-Umweltsau-Lied bringt daher die Stimmung in der FFF-Bewegung ziemlich gut auf den Punkt. Nicht ausgeschlossen, dass die jungen Aktivisten von selbst darauf gekommen wären. Passend dazu lautete ein Tweet von Fridays For Future Germany vom 23. Dezember:

Warum reden uns die Großeltern eigentlich immer noch jedes Jahr rein? Die sind doch eh bald nicht mehr dabei.

Auch hier mussten die Urheber umgehend klarstellen, dass die Äußerung doch nur satirisch gemeint war. Wenigstens die Grandparentsforfuture sprangen ihren Enkeln zur Seite und twitterten:

Immerhin haben die Kids auch nach diesem Klimakatastrophen-Jahr den Humor nicht verloren. Wir können über diesen Tweet lachen – andere hoffentlich auch. Großelterliche & gelassene Grüße

Leider blieben der WDR und viele Politiker bei dem Umweltsau-Lied nicht so gelassen und ließen sich von der rechten Empörungsmaschinerie (Spiegel Online) im Netz instrumentalisieren. Unsouverän waren allerdings auch Reaktionen, aus den großelterlichen Umweltsäuen gleich Nazisäue zu machen. Spätestens an diesem Punkt hatte sich jede sinnvolle Debatte erledigt.

So konnte es so weit kommen, dass Deutschland seit Tagen über die Grenzen der Satire statt über die Grenzen der Umweltzerstörung diskutiert. Und das, während gleichzeitig die Menschen in Australien ans Meer fliehen müssen, um den verheerenden Buschbränden zu entkommen.

Angesichts des aktuellen Debattenniveaus lohnt es sich daher auf einen weiteren Text von Kurt Tucholsky zu verweisen. In „Kleine Reise 1923“ erläuterte Graf Koks als Peter Panter, warum er keine Lust mehr auf das Publizieren in Deutschland hat:

Weil die Zeit mir dagegen zu sein scheint. In einem schlecht geheizten Warteraum voll bösartiger Irrer liest man keine lyrischen Gedichte vor.

Und schreibt am besten auch keine Satire.

Denn was soll in Deutschland die Umweltsau dürfen? Alles.

2.2.2018

Mein gar nicht böser Tucholsky-Bot

Vor der Bundestagswahl im vergangenen Jahr machte sich in der deutschen Politik nahezu Panik breit. Nach den Erfahrungen der Brexit-Wahl in Großbritannien und der Wahl von US-Präsident Donald Trump wurde befürchtet, dass hierzulande die Bundestagswahlen von Meinungsrobotern in sozialen Netzwerken beeinflusst werden könnten. Zwar wurde inzwischen Entwarnung gegeben, doch neue Zahlen von Twitter zeigen den Umfang automatisierter Accounts.

So räumte der Kurznachrichtendienst in der vergangenen Woche gegenüber dem US-Kongress ein (PDF), bei Analysen mehr als 50.000 automatisierte Accounts entdeckt zu haben, die möglicherweise von Russland aus während der US-Präsidentschaftswahlen im Jahr 2016 eingesetzt worden seien. Diese sollen im Wahlkampf mehr als zwei Millionen Tweets mit Bezug zu Präsidentschaftswahlen abgesetzt haben, was einem Anteil von einem Prozent an allen Wahlkampftweets entspräche.

Fake Quotes im Internet

Zugegeben: Automatisierte Accounts haben einen schlechten Ruf. Doch der Missbrauch einer Technik durch andere sollte niemanden davon abhalten, sie selbst einmal auszuprobieren und sinnvolle Anwendungen dafür zu finden. Wir haben es getan und uns dabei des Problems der Fake Quotes angenommen.

Dieses Problem existiert nahezu unbeachtet von der Diskussion über sogenannte Fake News in sozialen Medien. Mehr oder wenige originelle oder unsinnige Zitate werden fälschlicherweise bekannten Autoren zugeschrieben. Das Prinzip ist dabei ähnlich wie bei Falschnachrichten: Die Zitate werden in die Welt gesetzt, ohne dass sich Nutzer Gedanken darüber machen, ob diese tatsächlich vom genannten Urheber stammen. Irgendwo schon mal im Internet gesehen oder gelesen reicht als Quelle aus. Hauptsache, die Zitate passen ins eigene Weltbild.

Der Vorteil der Digitalisierung

Auffällig ist dies beispielsweise bei dem Journalisten und Satiriker Kurt Tucholsky. Es gibt hier auf dem Sudelblog eine sicherlich unvollständige Liste von Zitaten, die Tucholsky immer wieder fälschlicherweise zugeschrieben werden. Leider wird diese offenbar als Vorlage genommen, um angebliche Tucholsky-Zitate im Internet zu verbreiten. Ganz oben auf der Liste steht dabei: „Toleranz ist der Verdacht, dass der andere recht hat.“ Klingt auf den ersten Blick originell, ist aber beim zweiten Hinsehen Unfug. So tolerieren Linux-Nutzer bisweilen durchaus Apple- und Windows-Rechner in der Familie, obwohl sie genau wissen, dass Steve Jobs und Bill Gates auf keinen Fall recht hatten. Von anderen Religionen ganz zu schweigen.

Und soll man falsche Zitate auf Twitter tolerieren, weil der Verdacht bestehen könnte, dass sie sich doch im Werk des vermeintlichen Autors finden könnten? Sicherlich nicht. Denn das hieße, die Beweislast beim Verbreiten von Zitaten oder Nachrichten umzukehren. „Der Vorteil der Klugheit besteht darin, dass man sich dumm stellen kann. Das Gegenteil ist schon schwieriger“, lautet das wohl häufigste falsche Tucholsky-Zitat. Der Vorteil der Digitalisierung besteht jedoch darin, dass sich elektronisch vorliegende Werke einfach darauf hin überprüfen lassen, ob ein bestimmtes Zitat darin enthalten ist. Das war in früheren Zeiten schon schwieriger.

Kostenlose Twitter-Bots sind unflexibel

Die schiere Masse an Fake Quotes lässt sich auf Twitter im Falle Tucholskys kaum manuell bekämpfen. Doch an dieser Stelle kann man versuchen, Twitter mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Ein automatisierter Account könnte die falschen Zitate auf Twitter heraussuchen und den Nutzer höflich darauf hinweisen, dass er einem Fake Quote aufgesessen ist. Vielleicht löscht er daraufhin das Zitat. Oder andere Nutzer werden zumindest davon abgehalten, es weiterzuverbreiten.

Wie lässt sich ein solcher Bot am einfachsten programmieren? Gibt es Anbieter, die solche Dienste im Internet kostenlos für Nutzer bereitstellen? Durchaus. So bietet der Dienst IFTTT (If this than that) zahlreiche vorkonfigurierte Anwendungen für Twitter an. Beispielsweise, um Beiträge auf anderen Plattformen mit Twitter zu verknüpfen. Selbst Spiegel Online nutzt für bestimmte Twitter-Feeds diesen Dienst. Dazu ist es nicht einmal erforderlich, einen eigenen API-Zugang zu Twitter anzulegen. Von 100 Zitaten, die in der vergangenen Woche mit dem Begriff Tucholsky getwittert wurden, stammen immerhin sieben von IFTTT. Eine App mit der von uns gewünschten Funktion findet sich dort jedoch nicht.

API-Zugang problemlos anzulegen

Einen kostenlosen Autoreply-Twitter-Bot ohne Code in fünf Minuten verspricht der Programmierer Amit Agarwal auf der Seite Labnol.org. Voraussetzung ist in diesem Fall jedoch ein eigener API-Zugang. Einen solchen Zugang anzulegen, geht sehr einfach über die Adresse apps.twitter.com. Nach dem Anlegen der App erhalten Nutzer vier erforderliche Zugangsdaten zur Twitter-Schnittstelle: consumer key, consumer secret, access token und access token secret. Diese vier Daten speichern sie sich am besten gleich auf dem Rechner, da sie für jeden der weiter unten erläuterten Bots eingegeben werden müssen.

Für Agarwals Bot auf Basis eines Google App Scripts müssen wir der Anwendung zudem einen Zugang zu unserem eigenen Google-Account erlauben. Wer Sicherheitsbedenken hat, legt sich dazu einen neuen Account an, der für nichts anderes genutzt wird. Dann lässt sich beispielsweise ein Suchbegriff eingeben, auf den mit einem bestimmten Text geantwortet wird. Bei der Suche lassen sich Begriffe auch logisch miteinander verknüpfen.

Nur eine Abfrage kostenlos

Das klappt mit dem ersten Zitat einfach und problemlos. Da die Twitter-API auf Tweets der vergangenen sieben Tage zurückgreifen kann, erhalten gleich drei Nutzer einen Rüffel vom Tucholsky-Zitate-Check (inzwischen umgezogen auf den Twitter-Account @Tucholsky_Kurt). Daraus entspinnt sich sogar eine Diskussion über die Zuverlässigkeit bestimmter Quellen und Fragen, ob eine Autorenangabe überhaupt wichtig ist, wenn einem das Zitat gefällt.

Doch als wir eine weitere Abfrage einrichten wollen, sollen wir dazu einen Premium-Account anlegen, der für fünf Bots 29 US-Dollar im Jahr kostet. Bei mehr Abfragen, was bei den vielen falschen Tucholsky-Zitaten erforderlich wäre, würden sogar 299 US-Dollar fällig. Also muss eine andere Lösung her, die gleichzeitig günstig und flexibel ist. Später stellen wir fest, dass sich der Bot nicht mehr nachträglich bearbeiten lässt und nur sicher gestoppt werden kann, indem wir uns Twitter-Zugangsdaten neu generieren. Aber wie sagte schon Tucholsky nicht: „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.“

Tweepy als umfangreiche Python-Bibliothek

Bei einer Eigenlösung stehen wir jedoch vor dem Problem: Solch ein Bot sollte rund um die Uhr laufen. Je schneller auf einen Tweet geantwortet werden kann, um so besser. Daher sollte das Programm auf einem Webserver oder einem Rechner installiert werden, der permanent online ist. Für beide Fälle gibt es im Netz eine Reihe von Lösungen, die sich beispielsweise auf einem Bastelrechner à la Raspberry Pi oder einer eigenen Webdomain installieren lassen, die die Ausführung von PHP-Skripten und Cronjobs ermöglicht.

Am einfachsten dürfte dabei eine Lösung mit Python auf einem Linux-System sein. Denn für Python gibt es die umfangreiche Bibliothek Tweepy (https://github.com/tweepy/tweepy oder http://www.tweepy.org/), die einen unkomplizierten Zugang zur Twitter-API ermöglicht. Es muss lediglich beachtet werden, dass das aktuelle Paket installiert wird, welches die derzeit gültige API-Version 1.1 anspricht. Zwar ist zu empfehlen, Python ab Version 3.3 zu nutzen, doch die Bibliothek läuft auch unter Python 2.7, wenn bestimmte Module wie Six oder Requests installiert wurden. Unter Umständen kann es erforderlich sein, Fehlermeldungen unter Requests zu deaktivieren.

Nur wenige Zeilen Code

Die Tweepy-Bibliothek übernimmt dabei die Authentifizierung mit Hilfe des OAuth-Protokolls. Zudem werden die Parameter der Twitter-API eingebunden. Davon gibt es wirklich sehr viele, wie aus dem API-Reference-Index hervorgeht. Das eigentliche Python-Script ist daher recht kurz und lässt sich schnell googeln. Zunächst werden die Suchergebnisse in eine Variable geladen. Die darin zu suchenden Zitate werden in eine Liste eingetragen. Eine Funktion überprüft dann, ob die Zitate aus der Liste in den Tweets enthalten sind.

Falls das zutrifft, sendet Tweepy in einer For-Schleife über die API die entsprechende Antwort an den Nutzer. Zusammenfassend ist die Funktion in einer Anleitung auf www.dototot.com erläutert, allerdings mit einer verschachtelten For-Schleife. Dort fehlt jedoch die Angabe der Tweet-ID, die erforderlich ist, um den Antwort-Tweet über den Parameter in_reply_to_status_id mit dem Originaltweet zu verknüpfen.

Duplikatsperre zeitlich begrenzt

Über einen Cronjob lässt sich das Skript beispielsweise alle 15 Minuten oder jede Stunde aufrufen, um möglichst schnell auf Tweets zu reagieren. Twitter verhindert dabei selbst, dass Antworten ein zweites Mal publiziert werden. Doch bei einem „Langzeittest“ des Twitter-Bots erlebten wir eine unangenehme Überraschung: Die Blockade von Duplikaten dauert nur zwölf Stunden. Dann wurden die Twitter-Nutzer ein zweites Mal über das falsche Zitat informiert.

Um das zu vermeiden, lässt sich mit dem Parameter created_at der genaue Publikationszeitpunkt eines Tweets abfragen und dessen Auswertung auf einen bestimmten Zeitraum von wenigen Stunden oder Minuten einschränken. Fertig ist der Twitter-Bot auf Python-Basis (Beispielcode).

Viele PHP-Vorlagen im Netz

Wer seinen Bot nicht auf einem eigenen Rechner, sondern einem Webserver installieren will, ist vermutlich mit PHP besser bedient. Auch für diese Sprache findet sich eine Reihe von Vorlagen auf Github, um Twitter-Bots zu installieren. Eine Standardvorlage wie Tweepy scheint es für PHP jedoch nicht zu geben. Zudem sind nicht alle auf dem aktuellen API-Stand. Wir haben uns für die Bibliothek Twitter for PHP entschieden, die PHP 5.0 und die Erweiterung Curl voraussetzt.

Der einzige Nachteil: Twitter for PHP hat keine Reply-Funktion integriert, so dass diese in der Vorlage twitter.php ergänzt werden muss.

Der Code des eigentlichen Bots ist ähnlich wie in Python. In zwei verschachtelten Foreach-Schleifen werden zwei Arrays mit den gefundenen Tweets und den Zitaten verglichen. Nach einer Zeitabfrage werden die Antworten verschickt. Fertig ist der Twitter-Bot auf PHP-Basis (Beispielcode).

Wie lassen sich Twitter-Bots aufspüren?

Die Verzeichnisse müssen noch auf den eigenen Webspace hochgeladen werden. Hierbei sollte man darauf achten, dass das Verzeichnis geschützt ist, damit die im Skript gespeicherten Zugangsdaten nicht öffentlich zugänglich sind. Gestartet wird das Skript mit einem Cronjob, der bei Providern wie Strato ab bestimmten Hostingpaketen zur Verfügung steht.

Da dies alles so einfach ist, stellt sich die berechtigte Frage, ob sich auf diese Weise nicht doch ein Twitter-Bot-Batallion programmieren lässt, mit dem sich Wahlen beeinflussen lassen. Mit Hilfe einer Datenbank wäre es recht einfach, automatisierte Accounts täglich neu zu programmieren und Suchbegriffe oder Hashtags einzugeben, auf die mit einem bestimmten Text geantwortet werden soll. Zudem lässt sich die Zahl der abgesetzten Tweets begrenzen, so dass es schwer wird, anhand der Twitter-Aktivität einen Bot aufzuspüren, wie es der Datenjournalist Matthias Kreil im vergangenen Jahr versucht hat. Das kommerzielle Programm Tweetattackspro verspricht Nutzern das Steuern von Tausenden Twitter-Accounts rund um die Uhr. Dabei könne die Software einen menschlichen Betrieb des Accounts perfekt simulieren.

Wenn Twitter-Bots etwas ändern könnten“

Eine einzelne Person könnte auf diese Weise zahlreiche Accounts orchestrieren und möglicherweise bestimmte Themen und Hashtags nach oben bringen. Setzten deutsche Parteien oder andere Organisationen beispielsweise im Bundestagswahlkampf Twitter-Bots ein, wären sie anhand der von Twitter im Fall Russland angegebenen Kriterien wie IP-Adressen, Provider, E-Mail-Adressen oder Schriftzeichen nicht aufspürbar. Hinweise könnten die Tweet-Quellen wie eigene Apps oder unübliche Clients geben. Daher würde es den Einsatz von Bots zumindest ein bisschen erschweren, wenn die Quelle eines Tweets gleich mit angegeben würde. Werden die Tweets aber über Clients wie Twitter Web Client oder Twitter for Android abgeschickt, würde die Analyse sehr schwierig werden.

Aber wäre das so schlimm? Hat Tucholsky nicht immer schon behauptet: „Wenn Wahlen etwas änderten, wären sie längst verboten?“ Dieser Spruch ist nach Ansicht der Tageszeitung (taz) „der größte Quatsch seit der Erfindung des politischen Witzes“ und findet sich selbstredend nicht im Werk Tucholskys. Brexit, Trump und rechtsextreme Abgeordnete im Bundestag sind Realität.

Twitter-Bots machen Spaß

Ob diese Entscheidungen wirklich durch automatisierte Accounts entscheidend beeinflusst wurden, lässt sich vermutlich selbst dann nicht wissenschaftlich beweisen, wenn wie im Falle der US-Wahlen feststeht, dass es Zigtausende automatisierte Accounts mit Russland-Bezug gegeben hat.

Trotz aller Kontroversen: Das Programmieren von Twitter-Bots ist einfach und macht Spaß. Es ist schon erstaunlich, auf wie viele Parameter sich zugreifen lässt und auf wie viele verschiedene Weisen damit interagiert werden kann. Natürlich sollte man jede neue Funktion zunächst nur lokal auf der Konsole testen. Wenn der Bot einmal unbeabsichtigt Dutzende Tweets in wenigen Sekunden rausgehauen hat, ist es sehr mühsam, diese wieder einzeln zu löschen. Außerdem sollen andere Nutzer mit ungeplanten Retweets nicht belästigt werden. Sinnvoll ist es daher, den Bot zunächst mit einem anderen eigenen Account interagieren zu lassen, um die Funktionen zu testen.

Vorgefertigte Lösungen gehen schnell, sind jedoch meist sehr unflexibel. Mit dem eigenen Skript lässt beispielsweise auf jedes gefundene Zitat mit einer anderen Antwort reagieren. Das klingt dann etwas individueller und nicht ganz so automatisiert wie der Bot, der jedes Mal „Prost“ twittert, wenn ein anderer Nutzer das Wort gepostet hat. Aber wie sagte Tucholsky bekanntlich: „Wenn Twitter-Bots etwas änderten, wären sie längst verboten.“ Von daher wäre es zu begrüßen, wenn Twitter seine API nicht so schnell abschalten würde.

Hinweis: Der Artikel erschien zuerst am 1. Februar 2018 auf dem Computerportal Golem.de.

27.1.2018

Der wiederentdeckte Leo Lania

Leo Lania gehörte neben Heinz Pol zu der jungen Garde an Weltbühne-Autoren, deren Karriere durch den Aufstieg der Nationalsozialisten und die dadurch erzwungene Emigration ein allzu frühes Ende fand. Während Pol nach dem Krieg in den USA blieb und als Korrespondent deutscher Zeitungen wie der Frankfurter Rundschau journalistisch tätig war, kehrte Lania vor seinem Tod sogar wieder nach Deutschland zurück. Trotz seiner vielfältigen journalistischen und literarischen Produktion ist er weitgehend in Vergessenheit geraten. Daher ist es verdienstvoll, dass Michael Schwaiger im vergangenen Jahr einen 461 Seiten lange Biografie Lanias vorgelegt hat (Hinter den Fassaden der Wirklichkeit – Leben und Werk von Leo Lania. Mandelbaum Verlag, Wien 2017, 24,90 Euro).

Für die Österreich-Seiten der Zeit hat sich Joachim Riedl die Biografie angeschaut und Lanias Leben in Kurzform präsentiert. Dabei darf Lanias größter „Scoop“ natürlich nicht fehlen: Lania hatte sich im Sommer 1923 in München als italienischer Faschist ausgegeben und zehn Tage lang den außerhalb Münchens damals noch recht unbekannten Adolf Hitler aus nächster Nähe beobachten können. Für die Weltbühne beobachtete Lania nach dem gescheiterten November-Putsch den Hitler-Prozess. Er schilderte Hitler in den Verhandlungen als „maßlos eitel“, allerdings nehme die „innere Wärme, der Schwung, die Plastik der Bilder und Vergleiche“ nach und nach für den Redner ein. Und zwar genau deswegen, weil die Rede „von keines Gedanken Blässe angekränkelt“ sei.

Von 1922 bis 1926 schrieb Lania 24 Artikel für die Weltbühne. Über „Italien und der Fascismus“, über „Das sanierte Österreich“ und natürlich über die „Waffenschieber“. Seine Recherchen zum Waffenschmuggel im Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte Lania zudem in dem Buch Gewehre auf Reisen, das Kurt Tucholsky am 16. Oktober 1924 in der Weltbühne rezensierte. Darin lobte er Lanias Büchlein als

von der ersten bis zur letzten Zeile interessant

und schloss mit den prophetischen Worten:

Aber es ist gewiß, dass das Land in seiner jetzigen, völlig unveränderten Geistesverfassung wieder in eine Katastrophe hineintaumeln wird, genau wie im Jahre 1914: dummstolz, ahnungslos, mit flatternden Idealen und einem in den Landesfarben angestrichenen Brett vor dem Kopf. Dann gehen wieder Gewehre auf Reisen.

Tucholskys Warnung sollte 15 Jahre später Wirklichkeit werden.

Ein Nachdruck von Lanias Text „Hitler-Prozeß“ findet sich in der Weltbühne-Anthologie Aus Teutschland Deutschland machen. Ein politisches Lesebuch zur Weltbühne. S. 451f.

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