1.3.2022

Tucholsky und der Krieg

Die Invasion der Ukraine ist eine politische Zäsur, die an den Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen im Jahr 1939 erinnert. Auch wenn Tucholsky den Beginn des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebte, hat er in seinen Schriften jahrelang vor einem neuen Krieg in Europa gewarnt. Dass die Pazifisten in Deutschland trotz der Schrecken des Ersten Weltkriegs einen aussichtslosen Kampf führten, war ihm schmerzlich bewusst.

Es wundert daher nicht, dass in den sozialen Medien seit Beginn des Ukraine-Krieges vielfach an die pazifistischen Gedichte und Texte Tucholskys erinnert wird. Sei es an das Gedicht „Der Graben“ oder den Satz „Soldaten sind Mörder.“.

Obwohl sich im Werk Tucholskys unzählige kriegskritische und antimilitaristische Äußerungen finden, ist in den vergangenen Tagen ein Zitat recht populär gewesen, das gar nicht von ihm stammt. Es lautet:

Jeder Krieg ist eine Niederlage. Denn Krieg vernichtet Leben.

Das klingt einfach und schlicht. Fast zu schlicht für Tucholsky. Denn von ihm stammen deutlich pointiertere Aussagen wie „Jeder Krieg ist ein Verbrechen“ oder

Jeder Krieg hat wirtschaftliche Ursachen – aber er hat auch einige, die nur aus biologischen Grundlagen zu erklären sind. Eine davon ist tierische Anbetung der Gewalt, allemal dann, wenn sie bunt kostümiert ist.

Das falsche Tucholsky-Zitat erinnert hingegen einen Satz, der vom US-amerikanischen Schriftsteller Henri Miller stammt:

Jeder Krieg ist eine Niederlage des menschlichen Geistes.

(Original: Every war is a defeat to the human spirit. In: The Colossus of Maroussi)

Wo das falsche Tucholsky-Zitat herkommt, ist wie in den meisten Fällen unklar. Leider findet es sich in großen Zitate-Sammlungen wie aphorismen.de oder gutezitate.com und wird daher bis zur Zerstörung des Internets im nächsten Atomkrieg nicht aus der Welt zu bringen sein.

Sehr aufschlussreich, auch für die heutige Situation, sind hingegen Tucholskys Einschätzungen zur Bekämpfung militaristischer Staaten aus dem Jahr 1935. In einer Briefbeilage, dem sogenannten Q-Tagebuch, schrieb er an seine Zürcher Freundin Hedwig Müller:

Nichts als Pacifist zu sein – das ist ungefähr so, wie wenn ein Hautarzt sagt: „Ich bin gegen Pickel.“ Damit heilt man nicht. Ich weiß Bescheid, denn ich habe diese Irrtümer hinter mir. Die kapitalistische Gesellschaftsordnung läßt scharf und genau einen Teil der Kriegsgründe begreifen, die immer da sind, wenn Absatzgebiete geschaffen werden sollen. Das ist – gegen die rosenroten Idealisten – eine sehr gute Lehre. Aber sie ist nicht vollständig. Ein Teil liegt im Wesen der Menschen. „Es wird immer Kriege geben.“ Es wird auch immer Morde geben. Es fragt sich nur, wie die Staatsordnung Krieg und Mord bewertet. Den Mord bewertet man als Rechtsbruch – den Krieg als Naturereignis, mehr: als eine heroische Sache. Er ist, oft und in vielem, eine Schweinerei. Also -?

Tucholsky kommt zu dem Schluss, dass man Staaten wie Nazi-Deutschland nicht mit Zugeständnissen von ihrem Kriegskurs abbringen kann:

Will man aber den Krieg verhindern, dann muß man etwas tun, was alle diese nicht tun wollen: Man muß bezahlen.

Ein Ideal, für das man nicht bezahlt, kriegt man nicht.

Ein Ideal, für das ein Mann oder eine Frau nicht kämpfen wollen, stirbt – das ist ein Naturgesetz. Der Rest ist Familiäre Faschingsfeier im Odeon.

Einen Interventionskrieg gegen Deutschland lehnte Tucholsky jedoch ab. Das wäre so, „wie wenn man meine Mama, um sie zu ändern, ins Gefängnis sperren wollte“. Einen Rüstungswettlauf, wie er sich nun wieder andeutet, hielt er ebenfalls für kontraproduktiv.

Zwischen diesem Krieg und einer energischen und klaren Haltung aller Mächte Europas ist noch ein großer Unterschied. (…)

Ich halte im übrigen dieses Wettrüsten für Wahnwitz – es muß zum Kriege führen, und es ist gar kein Mittel, wie das Weißbuch sagt, ihn zu verhindern. Aber das nur deshalb, weil die Regierungen, vollgesogen – von Minger bis zu Lloyd George – von der blödsinnigen Idee der absoluten Souveränität – in Anarchie leben und keine Rechtsordnung über sich anerkennen wollen. Also muß der Friedenstörer, der ja Deutschland ist, den Ton angeben, wie ja immer der niedrigste den Ton angibt. Hier war der Kern – seit 1919 nur hier. Jetzt ist es viel zu spät, und das Unheil nimmt seinen Lauf.

Die von Tucholsky vorgeschlagenen Mittel erinnern an die heutigen wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland. Aber nicht nur das:

Boykott. Blockade. Innere Einmischung in diese Barbarei, ohne Krieg zu führen. Vor allem aber, und das halte ich für das schrecklichste: die geistige Haltung hätte eben anders sein müssen, aber sie konnte nicht anders sein, denn da ist nichts. Man siegt nicht mit negativen Ideen, die ja stets das Verneinte als Maß aller Dinge anerkennen – man siegt nur mit positiven Gedanken. Europa hat keine. Beharren ist nichts. Es geht zurück. Es verliert.

Es bleibt zu hoffen, dass die Invasion in der Ukraine nicht zu einem nächsten großen Krieg in ganz Europa führen wird.

Nachtrag vom 8. März 2022: Der Kuckucks-Zitate-Forscher Gerald Krieghofer hat herausgefunden, wie das Zitat offenbar in die Welt gekommen ist:

Die Zeitschrift „P.M. – Peter Moosleitners interessantes Magazin“ (4/2003) brachte im März 2003 folgende 5 Grundsätze Kurt Tucholskys, die angeblich aus seinem Werk „Wenn sie wieder lügen“ stammen.

Aber, weder gibt es ein Werk Tucholskys mit dem Titel „Wenn sie wieder lügen“, noch stammt einer dieser 5 Grundsätze so oder so ähnlich wirklich von dem 1935 verstorbenen Satiriker Kurt Tucholsky.

Der P.M.-Autor hat dabei absurderweise einen Artikel über Kriegslügen und Kriegspropaganda mit falschen Tucholsky-Zitaten garniert. Dabei scheint der Rest des Artikels solide zu sein. Schon merkwürdig, wie das zustande gekommen ist.

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