Was darf die Umweltsau?
Es kommt eher selten vor, dass Tucholsky gleich mit zwei Texten herhalten muss, um eine aktuelle politische Debatte besser einordnen zu können. Um das WDR-Satirelied „Mein Oma ist ne alte Umweltsau“ (Text, Video) in einen literarischen und historischen Kontext zu stellen, wurde in den vergangenen Tagen selbstredend auf den Klassiker „Was darf die Satire?“ von 1919 und auf die schon damals nicht ganz ernst gemeinte Analyse des Schlagers „Wir versaufen unser Oma sein klein Häuschen“ von 1922 verwiesen.
Aber auch ohne die Lektüre dieser beiden Tucholsky-Texte sollte man erkennen, dass das Satire-Lied völlig harmlos ist, keine Kinder instrumentalisiert und nicht pauschal die gesamte Rentner-Generation abwertet und beleidigt.
Entweder bedarf es einer gewissen taktischen Verblödungsbereitschaft, um dieses Lied als Angriff auf die Familie zu sehen. Oder es ist tatsächlich so, dass einer durch Klima- und Boomerdebatten aufgeheizten, überempfindlichen Social-Media-Öffentlichkeit noch das letzte Abstraktionsvermögen abhanden gekommen ist,
schrieb David Hugendick dazu treffend auf Zeit Online.
Anstatt das Video auf den ersten Shitstorm hin zu löschen und sich dafür zu entschuldigen, hätte der WDR zwei, drei Sätze zu dessen Einordnung nachschicken und die Sache auf sich beruhen lassen können. Denn was in der Debatte leider völlig untergegangen ist: Das Lied persifliert zwei Elemente der Fridays-for-Future-Proteste und bringt die daraus resultierenden Konflikte zwischen Jungen und Alten ganz gut auf den Punkt.
Zum einen sind umgedichtete Volkslieder ein Bestandteil der aktuellen Proteste gegen die Klimapolitik. So singen die Jugendlichen beispielsweise:
Von dem blauen Planeten kommen wir/ Unser Klima stirbt genau so schnell wie wir/
Und wir reißen immer schneller/ den Planeten in den Keller/
Von dem blauen Planeten kommen wir.
Und natürlich haben die Klimaaktivisten auch den Demo-Klassiker Wehrt Euch, leistet Widerstand nach der Melodie von Hejo, spann den Wagen an adaptiert:
Wehrt Euch, leistet Widerstand
gegen die Braunkohle hier im Land!
Auf die Barrikaden! Auf die Barrikaden!
Zum anderen ist spätestens seit der emotionalen „How dare you“-Rede von Greta Thunberg die Unzufriedenheit und Ungeduld der jugendlichen Klimaaktivisten mit der älteren (Politiker)-Generation, den Boomern, offensichtlich geworden..
Das Oma-Umweltsau-Lied bringt daher die Stimmung in der FFF-Bewegung ziemlich gut auf den Punkt. Nicht ausgeschlossen, dass die jungen Aktivisten von selbst darauf gekommen wären. Passend dazu lautete ein Tweet von Fridays For Future Germany vom 23. Dezember:
Warum reden uns die Großeltern eigentlich immer noch jedes Jahr rein? Die sind doch eh bald nicht mehr dabei.
Auch hier mussten die Urheber umgehend klarstellen, dass die Äußerung doch nur satirisch gemeint war. Wenigstens die Grandparentsforfuture sprangen ihren Enkeln zur Seite und twitterten:
Immerhin haben die Kids auch nach diesem Klimakatastrophen-Jahr den Humor nicht verloren. Wir können über diesen Tweet lachen – andere hoffentlich auch. Großelterliche & gelassene Grüße
Leider blieben der WDR und viele Politiker bei dem Umweltsau-Lied nicht so gelassen und ließen sich von der rechten Empörungsmaschinerie (Spiegel Online) im Netz instrumentalisieren. Unsouverän waren allerdings auch Reaktionen, aus den großelterlichen Umweltsäuen gleich Nazisäue zu machen. Spätestens an diesem Punkt hatte sich jede sinnvolle Debatte erledigt.
So konnte es so weit kommen, dass Deutschland seit Tagen über die Grenzen der Satire statt über die Grenzen der Umweltzerstörung diskutiert. Und das, während gleichzeitig die Menschen in Australien ans Meer fliehen müssen, um den verheerenden Buschbränden zu entkommen.
Angesichts des aktuellen Debattenniveaus lohnt es sich daher auf einen weiteren Text von Kurt Tucholsky zu verweisen. In „Kleine Reise 1923“ erläuterte Graf Koks als Peter Panter, warum er keine Lust mehr auf das Publizieren in Deutschland hat:
Weil die Zeit mir dagegen zu sein scheint. In einem schlecht geheizten Warteraum voll bösartiger Irrer liest man keine lyrischen Gedichte vor.
Und schreibt am besten auch keine Satire.
Denn was soll in Deutschland die Umweltsau dürfen? Alles.
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