28.1.2005

Irgendwie dagegen

Wenn Fritz J. Raddatz ein längeres Interview gibt, ist es wohl unvermeidlich, dass irgendwann ein Tucholsky-Zitat fällt. Erst recht, wenn er von Bettina Röhl, die eine Art freie Mitarbeiterin der „Netzeitung“ geworden zu sein scheint, zu „Kunst, Macht und das geistige Klima, aus dem einst die RAF entstand“ befragt wird. Zwischendurch geht es in dem langen Gespräch um das Verhältnis Raddatz‘ zum Marxismus:

Und viele, die das Buch nicht kennen, sagen dann: Sie haben doch ein Buch geschrieben mit dem Titel: «Warum ich Marxist bin», und ich erkläre dann, dass ich dieses Buch nur herausgegeben habe, und dass der einleitende Aufsatz zu diesem Buch gerade darlegt, warum ich nicht Marxist bin – das ist schon eine Volte in sich selber. Ich bin allerdings, und da klaue ich jetzt ein Wort von Tucholsky, der hat sich mal so genannt, und so würde ich mich auch nennen: ein Anti-Antikommunist.

Nun sollte man gerade von Raddatz erwarten, dass er seinen Tucholsky sehr gut kennt. Falls dieser sich aber tatsächlich einmal als „Anti-Antikommunisten“ bezeichnet hat, muss er diese Stelle wirklich sehr gut in seinem Werk versteckt haben. Vielleicht hat sich Raddatz aber auch lediglich an folgende Passage erinnert:

Ich bin Anti-Antibolschewist. Aber ich bin kein Bolschewist.
Es mag sein – das ist meine letzte Hoffnung -, daß die Russen im Lande vernünftiger sind als ihre grauenvollen Reklameagenten. Es ist möglich, daß das Irrationale im Russen so stark ist, daß er dieser Überratio bedarf, die mir wie gefrorene Mathematik vorkommt. Vielleicht ist die Ware gut. Was im Schaufenster liegt, wird von Jahr zu Jahr unerträglicher.
Und trägt dazu bei, die Welt in einen einzigen Antisowjetblock zu verwandeln.
Kurt Tucholsky an Hedwig Müller, Q-Tagebuch, 3.3.1935

Nun kann man selbstverständlich der Meinung sein, Kommunismus, Marxismus und Bolschewismus seien ohnehin ein und dasselbe. Man kann aber auch, wie Tucholsky, lapidar feststellen:

Man muß, sagt Gumbel, Rußland mit sich selbst vergleichen: das Land vor dem Kriege und das Land nach dem Kriege – dann kommt man vielleicht zu einem Resultat. Er zeigt, wie der ›Bolschewismus‹, der niemals Kommunismus gewesen ist, damit begonnen hat, daß er den Landhunger der rückkehrenden Soldaten aufzufangen verstand (…)
Peter Panter: „Auf dem Nachttisch“, in: Die Weltbühne, 6.12.1927, S. 860

27.1.2005

Von Journalisten und Gesamtschülern

Wenn Hugo Müller-Vogg aus dem journalistischen Nähkästchen plaudert, gibt es sicherlich einige interessante Sprüche aufzuschnappen. Die „Frankfurter Rundschau“ ließ sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen und hörte dem ehemaligen Herausgeber der Stadt- und Bundeskonkurrenz „FAZ“ bei einem Vortrag in der Evangelischen Kirche in Bad Homburg aufmerksam zu.

Es ging um Journalisten. „Kaum einer dieser Leute beherrscht den Konjunktiv und die richtige Zeiten-Abfolge!“ klagte eine Dame aus dem Publikum. Ja, greulich mit ä, bekräftigte Hugo Müller-Vogg am Stehpult. Heutzutage kämen Gesamtschul-Absolventen in den Beruf. Und die Korrektoren seien arbeitslose Germanisten . . .
Solche Sottisen machten dem Referenten sichtlich Spaß. Sie bannten die rund 200 Zuhörer gut zwei Stunden lang. Der Referent zitierte Tucholsky: „Man muss den Journalisten nicht bestechen. Man muss ihn nur einladen und wie eine Macht behandeln.“ Und Karl Kraus: „Keinen Gedanken zu haben und den ausdrücken zu können – das macht den Journalisten aus“. Der Journalist Müller-Vogg machte nicht den Anschein, er fühle sich selbst gemeint.
Klaus Nissen: „Ach, die Journalisten …“, in: Frankfurter Rundschau, 27.1.2005, Regionalausgabe R7, S. 35

Dass das Kraus-Zitat von Karl Kraus stammt, ist sicher. Wo das Tucholsky-Zitat herkommt, weiß vermutlich nur Müller-Vogg selbst, oder wenigstens Klaus Nissen. Aber es trifft zumindest die Intention dessen, was Tucholsky an verschiedenen Stellen über die Bestechlichkeit deutscher Journalisten geschrieben hat:

Unsere Korruption sieht anders aus; unsere Journalisten haben andere Fehler und andere Untugenden, hierzulande sind die Leute billiger und schwerer zu bestechen, beeinflußt wird hier, nicht gezahlt – wenn einer von uns Geld nähme, verfiele er einfach der Lächerlichkeit; hier ist es gar nicht pikant, bestochen zu sein – es ist nur dumm. Hier lassen sie sich zum Abendbrot einladen; wenn sie dreimal durch Dahlem getrudelt sind, sind sie nicht mehr dieselben (…)
Peter Panter: „Berliner Theater“, in: Die Weltbühne, 12.11.1929, S. 738

Und was immer den Hinauswurf von Müller-Vogg bei der FAZ begründet haben mochte, Bestechung war sicher nicht im Spiel.

Rausch ohne Erinnerung

Es liegt schon eine gewisse Herausforderung darin, im Werk des Urberliners Tucholsky ein Zitat zu finden, das sich positiv auf den Karneval beziehen lässt. Die „Kölnische Rundschau“ (sic.) hat sich dieser Herausforderung kürzlich gestellt und ist tatsächlich fündig geworden.

An einem Rausch ist das schönste der Augenblick, in dem er anfängt, und die Erinnerung an ihn.
Peter Panter: „Schnipsel“, in: Die Weltbühne, 9.8.1932, S. 205

Warum die „Rundschau“ aber den letzten Halbsatz des Zitates ihren Leser vorenthalten hat, lässt sich wohl nur mit den besonderen Rauscherfahrungen des verantwortlichen Redakteurs erklären. Vielleicht wird das fehlende Zitatstück an Aschermittwoch aber noch nachgeliefert.

26.1.2005

Dem Verleger wird zugesetzt

Wer wie Bernd Lunkewitz nach der Wende einmal Besitzer des „Weltbühne“-Verlages war, sollte auch das Original der Zeitschrift aus der Weimarer Republik ganz gut kennen. Mit einer speziellen Debatte aus jenen Tagen scheint Lunkewitz besonders gut vertraut. In einer Replik auf Günter Grass, der in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ höhere Autorenhonorare gefordert hatte, holt der Aufbau-Verleger diese Diskussion hervor:

Der Konflikt über die Teilung und Angemessenheit der Erlöse aus der Verwertung der Urheberrechte ist so alt wie die Buchbranche selbst. Aber aus der Debatte zwischen Kurt Tucholsky und Ernst Rowohlt in der „Weltbühne“ des Jahrgangs 1928 (Nr. 6, 20 und 33) über die Gewinnverteilung und die populäre Forderung „Macht unsere Bücher billiger!“ ist er schließlich in diesen Ruf gemündet: „Zahlt uns höhere Honorare!“
Bernd F. Lunkewitz: „Was ein Roman kostet“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.1.2005, Nr. 20, Seite 36

Die indirekte Behauptung von Lunkewitz, wonach Tucholsky lediglich billigere Bücher und keine höheren Honorare gefordert habe, ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Seitdem er sein erfolgreiches Erzähldebüt „Rheinsberg“ pauschal für einen relativ geringen Betrag an den Verleger Axel Juncker verkauft hatte, fanden sich Sticheleien gegen die ach so viel Verlust machenden Verlage häufig in Tucholskys Texten.

Wir wußten uns vor Honoraren gar nicht zu lassen. Ich zeigte damals meinen Vertrag, den ersten, den ich in meinem Leben gemacht hatte, dem damaligen Vorsitzenden des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller. Der weinte eine halbe Stunde vor Freude und streichelte mir dann leise den Kopf. Ich weiß bis heute nicht, was er damit hat sagen wollen. Und Juncker setzte inzwischen immerzu zu …
Kurt Tucholsky: „Rheinsberg“, in: Die Weltbühne, 8.12.1921, S. 579

Es war daher auch kein Zufall, dass Tucholsky seine Erzählung „Schloß Gripsholm“ mit einem fingierten Briefwechsel zwischen ihm und seinem Verleger Ernst Rowohlt beginnen ließ. Was sich für Rowohlt wenig schmeichelhaft ausnahm, – selbst nach Abzug der zweifellos darin enthaltenen Ironie:

Da wir grade von Lyrik sprechen:
Wie kommt es, daß Sie in § 9 unsres Verlagsvertrages 15 Prozent honorarfreie Exemplare berechnen? So viel Rezensionsexemplare schicken Sie doch niemals in die Welt hinaus! So jagen Sie den sauern Schweiß Ihrer Autoren durch die Gurgel – kein Wunder, daß Sie auf Samt saufen, während unsereiner auf harten Bänken dünnes Bier schluckt. Aber so ist alles.

Und was die von Lunkewitz erwähnte Debatte betrifft, so haben sich nicht nur Tucholsky und Rowohlt, sondern auch der Mitbegründer des Malik-Verlages, Wieland Herzfelde, daran beteiligt. Und Herzfelde, Bruder des Graphikers John Heartfield, kommt als Verleger ebenfalls zu dem Schluss, dass die Autoren zu wenig Honorar erhalten:

Ich bin der Meinung, das Honorar für die erste Auflage eines Buches muß der Autor als Ersatz für seine Existenzkosten während der Herstellungsdauer seines Werkes, das heißt für seine „Regie“ betrachten. (…) Es ist nicht einzusehen, warum der Verleger bei ersten Auflagen verdienen muss, wo doch der Autor, der sozusagen der Sozius des Verlegers ist, daran noch nicht verdient, und überdies zwei Risiken trägt, erstens das, ob er überhaupt einen Verlag findet und zweitens (gemeinsam mit dem Verleger) das, ob sein Buch Käufer findet.
Wieland Herzfelde: „Das deutsche Buch ist zu teuer“, in: Die Weltbühne, 14.8.1928, S. 245

25.1.2005

Sportler sind Mörder

Was von den Überschriften der „Frankfurter Rundschau“ gilt, hat die Literaturkritikerin Sigrid Löffler auch einmal von der österreichischen Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek behauptet: Sie widerstehe allem, „nur nicht der Versuchung zum Kalauer“. Das schreibt zumindest die „Rundschau“ in einer Kritik über die Inszenierung von Jelineks „Sportstück“ in Kassel. Gleich zu Beginn stellt Joachim F. Tornau darin eine interessante Gleichung auf:

Churchill plus Tucholsky gleich Jelinek. „Sport ist Mord“, verkündete der britische Premier. „Soldaten sind Mörder“, wusste der (un)deutsche Satiriker. Häkelt man beides zusammen, bekommt man Ein Sportstück der österreichischen Schriftstellerin und Literatur-Nobelpreisträgerin des Jahres 2004. „Sportler sind wie Soldaten“, lässt Elfriede Jelinek irgendwo in ihrer fast 190 Seiten starken Abrechnung mit Sport, Krieg, Massen und Familie sagen. „Ein jeder legt sein bestes ins Trikot.“ Quod erat demonstrandum. Was zu beweisen war: Churchill plus Tucholsky gleich Jelinek. Natürlich: Den klassischen Zitatenschatz zu plündern und die Beute zu Pseudo-Gleichungen zu verwursten, ist – hoch lebe die Dialektik – so überspitzt wie platt.

Dabei hätte sich Jelinek, oder auch Tornau, überhaupt nicht auf solch arithmetischen Übungen einlassen müssen. Dass Sport eine Vorübung zum Krieg sein kann, hat Tucholsky nie anders gesehen. Selbst beim Anblick der „Tour de France“ kamen ihm wenig schöne Hintergedanken:

Der Mensch ist ein Säugetier und benötigt zum Leben Nahrung, Luft und Wasser. Damit ist ihm aber noch nicht alles gegeben. Auf daß ihm wohl sei, braucht er: den Betrieb. Einen schönen, vollen, runden, bewegten Betrieb mit allem, was dazugehört: Organisation, Gruppen, Kollektivehre, Kampf, Platz und Sieg. Über diesen Betrieb vergißt er mitunter den Zweck des Rummels – und wer das zu benutzen versteht, der kann mit ihm alles, alles unternehmen, was er nur will.
Sogar Kriege.
Peter Panter: „Tour de France“, in: Die Weltbühne, 13.07.1926, S. 65

Eine gewisse Unsportlichkeit scheint Tucholsky allerdings mit Winston Churchill gemein gehabt zu haben:

Er hat mir nichts gegeben – er hat mir nichts genommen – der Name des Sports sei gelobt.
Peter Panter, „Der Geistige und der Sport“, in: Vossische Zeitung, 25.12.1928, S.1

23.1.2005

Fast vergessen

Der Berliner „Tagesspiegel“ bespricht in seiner Sonntagsausgabe die von Gregor Eisenhauer verfasste Biographie des österreichischen Literaten und Lebemannes Franz Blei. Wie so häufig bei Rezensionen von Werken fast vergessener Schriftsteller bedauert auch Rezensent Tobias Lehmkuhl, dass sich fast niemand mehr an Blei erinnert:

Heute ist Blei fast vergessen. Seine eindringlichen Frauenporträts, seine erotischen Studien, seine Theatertheorien und Literaturgeschichten, seine auch von Tucholsky geschätzten Rezensionen und Essays sind dem angesichts der unglaublichen Vielfalt brillanter Flaneurs und Feuilletonisten des ersten Jahrhundertdrittels über die Jahre aus dem Blick geraten.

In der Tat hatte Tucholsky eine sehr hohe Meinung von Blei, die sich im Laufe der Jahre auch nicht abschwächte:

Der kann große Menschen im Marionettenstil schön erkenntlich machen: er baut ein kleines Theaterchen auf, bewegt selbst die Drähte, spricht alle Rollen persönlich und versteht es gut, grade die weiblichen Puppen zu bewegen. (1913)

(…) dieser Schriftsteller, der sich in so vielen Fällen bescheiden pseudonym und anonym gibt, sollte viel mehr gelesen werden – wie wenige verfügen über diese Grazie, diese Bildung und diese spielende Leichtigkeit, ein solches Wissen so graziös zu verwerten. (1922)

Die Übersetzung ist befremdend. Die Übersetzer, Franz Hessel und Paul Mayer, können natürlich genug Französisch, um zu sehen, was sie da gemacht haben. Sie haben wortwörtlich übersetzt. Ich halte das nicht für gut. Das kann nur einer, mit aller Grazie seines Stils: Franz Blei. (1930)

Franz Blei, dieser verlogene Hund (…) (1935)

Wobei das letzte Zitat für eine Literaten wohl das dickste Lob bedeuten dürfte.

22.1.2005

Unterjochte Sprache

In „Fünf Minuten Deutsch“, der wöchentlichen Sprachkolumne der „Stuttgarter Zeitung“, beschäftigt sich Ruprecht Skasa-Weiß dieses Mal mit der rhetorischen Figur des Zeugma. Skasa-Weißens Begriffserklärung muss den Vergleich mit der Wikipedia nicht scheuen:

Das ist dass Feine an der deutschen Sprache: Man kann darin Schnitzer machen, die selber so fein sind, dass die meisten sie überhaupt nicht bemerken [zum Beispiel das unnötigerweise mit zwei s schreiben, Sudelblog] – während einige wenige diese Schnitzer mit Vorsatz begehen, ja geradezu liebevoll daran feilen. Denn, wie wieder nur wenige wissen: erst im scheinbar Hingestümperten erweist sich bisweilen die wahre Sprachmeisterschaft. Wovon wir reden? Vom Zeugma natürlich. Nüchtern gesprochen, ist das eine Stilfigur, in der sich ein Satzglied auf mehrere Wörter bezieht, ohne zu allen zu passen. Aber mit Nüchternheit kommt man dem Reiz einer so krausen Stilfigur nicht bei. Hier geht es um Wortwitz. Witzig zu sein mit nichts als Wörtern, wie schafft man das?

Am einfachsten beantwortet man eine solche Frage, indem man geeignete Beispiele zitiert:

Zwei Gedankenwelten, die einander völlig fremd sind, rumpeln unvermutet zusammen, aufeinander geschnellt vom Zugseil einer verbindenden Präposition oder eines verbindenden Verbums. Biostunde, frei nach Tucholsky: Der Mensch hat zwei Beine und zwei Überzeugungen – eine, wenn’s ihm gut geht, und eine, wenn’s ihm schlecht geht; die letztere heißt Religion. Oder, nicht von Tucholsky, Momentaufnahme einer Ehe: Sie wirft ihm das Trinken vor und er ihr das Essen nach. Oder, diesmal von unsrem unvergessenen Stuttgarter Nonsensualisten Werner Mitsch, die folgende Kurzbiografie: Die Baronin schenkte ihrem Gemahl sechs Kinder, aber ansonsten keinerlei Beachtung.

Da „Fünf Minuten Deutsch“ nicht mit „Eine Minute Griechisch“ zusammenschnellen dürfen (oder heißt es darf?), muss Skasa-Weiß seinen Lesern leider die Herkunft und eigentliche Bedeutung des Wortes „Zeugma“ unterschlagen. Daher sei an dieser Stelle ergänzt, was Wilhelm Gemoll in seinem griechisch-deutschen Schul- und Handwörterbuch einst darüber zusammengetragen hat:

zeugma Zusammengefügtes. 1. Schiffbrücke. 2. Hafensperre. 3. Joch, Fessel, – n.pr. St. in Syrien bei Samosata.

Die sechs Minuten sind vorbei.

21.1.2005

Auswärtige Angelegenheiten

Die „Financial Times Deutschland“ freut sich darüber, dass man die Politik von US-Präsident George W. Bush auch angreifen kann, ohne Stimmen aus der linken Weltverbesserungsecke bemühen zu müssen. In einem Artikel über die Website des amerikanischen Politik-Magazins „Foreign Affairs“ schreibt Mark Böschen:

Erfrischend finde ich, dass die hier schreibenden Historiker und Außenpolitikstrategen so schamlos über die Regierung Bush herziehen wie sonst nur die Autoren der Flugblätter, mit denen die Anhänger der Weltrevolution die Mensatische deutscher Universitäten eindecken. Anders als bei Pamphleten der Organisation Linksruck beginnt in Foreign Affairs aber nicht jeder Artikel mit einem Zitat von Kurt Tucholsky oder Berthold Brecht.

Dieses alles andere als „erfrischende“ Defizit lässt sich selbstverständlich nur mit einer völligen Unkenntnis der Brechtschen und Tucholskyschen Schriften in den USA erklären. Den in „Foreign Affairs“ schreibenden Historikern und Außenpolitikstrategen seien daher die raren, aber immerhin vorhandenen Tucholsky-Übersetzungen ins Englische wärmstens ans Herz gelegt. Sonst wird das nie was mit der „Befreiung von Tyrannei und Hoffnungslosigkeit“ und so weiter.
Und vor allem müsste Mark Böschen dann nicht mehr den Vornamen des Herrn Brecht von irgendwelchen dubiosen Mensa-Pamphleten abschreiben.

20.1.2005

Was darf die Meenzer Fasenacht?

Ui, ui, ui: die Karnevalsaison ist in diesem Jahr sehr kurz, aber dafür in Mainz um so heftiger. Wenn der Zugmarschall des Mainzer Carneval Vereins, Adi Schmelz, schon die Tucholskysche Satirekeule auspackt, muss einiges los sein am Rhein. Selbst in die Bundeshauptstadt sind Details der Mainzer Karnevalsposse schon vorgedrungen und im Berliner Tagesspiegel unter der sinnigen Überschrift „Mainz, wie es zankt und kracht“ kolportiert worden:

Es geht um eine momentan im Bau befindliche fünf Meter hohe Pappmaschee-Konstruktion. Von dem Wagen gibt es noch keine Fotos, bisher ist nur die Entwurfszeichnung bekannt geworden. Sie zeigt George W. Bush als „Uncle Sam“ mit entblößtem Hintern. Darüber prangt in großen Lettern „Wiedereröffnung“. Und Merkel eilt freudig zur Trittleiter, die zu Bushs Allerwertesten führt. Dazu der Narrenreim: „Da strahlt die Angela am End, George Bush bleibt weiter Präsident, sie fühlt sich wie im Honeymoon, wir wünschen ihr ‚Good After-Noon'“.

Ui, ui, ui. Kein Wunder, dass die Mainzer eine solche Darstellung des US-Präsidenten gar nicht „witzisch“, sondern obszön, unanständig und skandalös finden, wie sie das Lesertelefon der „Allgemeinen Zeitung“ wissen ließen. Karneval, vor allem in Mainz, ist eben eine sehr ernste Sache, die man nicht irgendwelchen Spaßvögeln überlassen kann. Besonders pikant ist in der Tat, dass George W. Bush nur zwei Wochen nach Aschermittwoch, am 23. Februar 2005, der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt einen Besuch abstatten möchte.
Dennoch zeigt sich Zugmarschall Schmelz laut „Tagesspiegel“ ganz unbeeindruckt vom Volkszorn:

Schließlich handele es sich um Satire, sagt der langjährige Zug-Organisator. Und bei der halte er es wie Kurt Tucholsky: „Satire darf alles“.

Einige Mainzer haben bereits angedroht, eine Zeichnung des Zugmotives ans Weiße Haus zu schicken, „um den Bush-Besuch im Februar zu verhindern“. Und um anschließend größere weltpolitische Verwicklungen zu vemeiden, bliebe Zugmarschall Schmelz nichts anderes übrig, als den gesamten Tucholsky-Text als Ausweis deutschen Humorverständnisses hinterherzufaxen. Eine Übersetzung ins Google-Englisch am besten gleich mit: „What may do the satire, Mr. Bush? – Everything“ – With greetings from the Axis of German Fun (Mainz, Cologne, Duesseldorf).

19.1.2005

Neuer Stadtschreiber in Rheinsberg

Die „Berliner Morgenpost“ hat brav notiert, welcher Literat in diesem Jahr die Chronik der Stadt Rheinsberg fortführt:

Der Schriftsteller Thorsten Becker ist der 21. Stadtschreiber in Rheinsberg (Ostprignitz-Ruppin). Bis Mai werde er in dem Städtchen leben, teilte das Kurt Tucholsky Literaturmuseum Schloß Rheinsberg mit. Der 1958 geborene Becker wurde 1985 mit seinem Erstling „Die Bürgschaft“ bekannt.

Darin erschöpft sich auch schon die kleine Nachricht, die auf einer dpa-Meldung basiert. Das Tucholsky-Literatur Museum selbst weiß auf seinen Webseiten noch gar nichts davon zu berichten, hat aber wenigstens eine Liste der bisherigen Stadtschreiber anzubieten.

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