1.10.2015

Zum Gedenken an Volker Kühn

2015 scheint das Jahr zu sein, in dem uns die alte Garde der Tucholsky-Fans für immer verlässt. Nach Fritz J. Raddatz, Roland Links und Gerhard Zwerenz starb zuletzt Volker Kühn. Während Raddatz (im Westen) und Links (im Osten) die gedruckte Verbreitung von Tucholskys Werk entscheidend beeinflussten, versuchte Zwerenz mit der 1979 erschienenen Biographie einige der damals noch großen Lücken in der Tucholsky-Forschung zu schließen. Kühn gehörte in den sechziger und siebziger Jahren zu den prägenden Figuren der westdeutschen Kabarettszene. Daneben war er ein hervorragender Kenner der Kabarettgeschichte. Seinen Stern im „Walk of Fame“ in Mainz hat er sich redlich verdient.

Während „Dandy“ Raddatz die gut dotierte Tucholsky-Stiftung ins Leben rief, engagierten sich Links und Kühn jahrzehntelang ehrenamtlich in der Tucholsky-Gesellschaft. Legendär waren die Matineen im Deutschen Theater, die Kühn zur Verleihung des Tucholsky-Preises regelmäßig inszenierte. 2005 brachte er für das Programm „Eisler meets Tucholsky“ stattliche 16 Schauspieler und Sänger auf die Bühne. Darunter Gisela May, Rainer Basedow, Maxim Mehmet, Ilja Richter und natürlich seine Frau Katharina Lange. Selbstverständlich, dass alle Beteiligten nur Volker Kühn zuliebe auftraten und auf ein Honorar verzichteten.



Volker Kühn (m.) neben der Sängerin Gisela May
(Zum Vergrößern bitte anklicken)

Seine letzte Preisverleihung arrangierte „Vauka“ im Jahr 2007 mit „Musik und Lyrik gegen den Krieg“. Zum 75. Todestag Tucholskys stellte er in der Berliner Akademie der Künste ein Programm mit dem Titel „Fisch sucht Angel oder: Die im Bett hat immer Recht“ mit Katharina Lange und Walter Plathe auf die Beine. Sein letztes Tucholsky-Programm wurde im März 2013 im Deutschen Kabarettarchiv in Mainz aufgeführt.

Dabei hatte Kühn schon seit Jahren große gesundheitliche Probleme, die ihn in seinem Schaffensdrang stark behinderten. „Ein großes Herz hat aufgehört zu schlagen“, heißt es nun auf seiner Website. Das Herz eines „schöpferischen Menschen, der viele, viele positive Spuren hinterlassen hat“. Nicht für das Kabarett im allgemeinen, sondern auch sehr für das Erbe Tucholskys.


Volker Kühn auf der Veranstaltung zum 75. Todestag Tucholskys

Links zu Nachrufen auf Volker Kühn

Der Tagesspiegel: Ich lache Tränen, heule Heiterkeit

Frankfurter Rundschau: Zum Tod des Kabarett-Autors Volker Kühn

Berliner Zeitung: Der Virtuose im Hinschauen

30.9.2015

Tucholsky before the Gates

Die traditionsreiche Berliner Restaurantion Tucholsky in der Torstraße hat seit einigen Wochen geschlossen. Das ist schade, denn der Wirt Lutz Keller hatte sich von Beginn an darum bemüht, seinen Gästen den Namenspatron seines Lokals näher zu bringen. Schon vor der Wende, 1987, hatte Keller die „Tucholsky Stuben“ am nördlichen Ende der Tucholskystraße eröffnen wollen. Doch auf Protest von Tucholskys Großcousine Brigitte Rothert musste Keller vorübergehend den Namen ändern. „Zur alten Tankstelle“ hieß die Kneipe dann bis 1993, als ihr Name schließlich in „Restauration Tucholsky“ umgeändert wurde.

Damit ist es nun vorbei.

Doch Tucholsky bleibt der vielfältigen Berliner Kneipenlandschaft erhalten. Aber nicht wie gehabt. Der neue Kneipenname lautet: „Tucholsky’s“.

Das tut schon weh. Das schicke, in der Ankündigung typografisch falsche Apostroph kommt offenbar aus dem Englischen. Und Englisch ist hip. Und die hippen Touristen oder noch hipperen Hipster sind offenbar die Zielgruppe für den neuen Laden in der Gate Street.

Da passt es gut, dass die rührige Eva Schweitzer einen weiteren Band mit Tucholsky-Texten ins Englische übersetzen ließ: Prayer After the Slaughter. Passend zum allgegenwärtigen Gedenken an den Ersten Weltkrieg vor 100 Jahren enthält der schmale Band einige Texte, die Tucholsky im und nach dem Krieg geschrieben hat. Anders in der Textsammlung Berlin! Berlin! sind der englischen Übersetzung die deutschen Originaltexte gegenüber gestellt.

Der Band enthält bekannte Gedichte wie „Memento“ (1916), „Krieg dem Kriege“ (1919) und „Gebet nach den Schlachten“ (1924). Zu den längeren Prosatexten gehören die Kriegsbetrachtungen „Die Katze spielt mit der Maus“ (1916), „Das Grammophon“ (1916) und ein Teil der aufsehenerregenden Militaria-Serie, „Unser Militär“ (1919). Peter Appelbaum und James Scott übersetzten die 21 Texte. Von dem New Yorker Germanisten Noah Isenberg stammt ein kundiges Vorwort. Darin beschreibt er, wie sein Interesse an Tucholsky Anfang der 1990er Jahre entstand:

I remember becoming increasingly interested in this seemingly obscure literary figure known as Tucholsky, who despite having been translated into some fourteen languages had not found much of an Anglo-American critical reception.

Vielleicht greift das neue „Tucholsky’s“ eine Idee seines Namenspatrons auf und belebt die Bücherbar, Verzeihung, Book Bar, wieder neu. Für fünf getrunkene Cocktails erhalten die Gäste ein Exemplar des englischsprachigen Kriegsbuches oder von Berlin! Berlin!. Das würde der anglo-amerikanischen Tucholsky-Rezeption sicherlich nützen und wäre wirklich hip.

Nachtrag vom 3. Dezember 2015

Das „Tucholsky’s“ hat im Oktober dann doch noch eröffnet. Ein Besuch scheint aber nicht zu lohnen. Zumindest dann, wenn man etwas essen will und der vernichtenden Gastro-Kritik der Berliner Zeitung vertraut.

Mein Abend im Tucholsky’s begann zunächst einmal damit, dass sich alles in mir gegen den Apostroph sträubte. Ich vermute, die Betreiber wollten es nach englischer Manier schreiben. Aber in Berlin ein Restaurant Tucholsky’s zu nennen, halte ich für einen Fehler.

schreibt die Autorin Tina Hüttl. Das Essen war nicht besser als die Orthografie:

Ein Kollege, der mich begleitete, sprach von „solidem Kantinenniveau“. … Gut, könnte sein, dass die Küche Braten und Knödel nicht beherrscht, doch die anderen Gerichte auf der sehr deutsch gehaltenen Karte waren nicht besser. … Und gegen die Beilage, eine aus dem Wasser gezogene halbierte Fenchelknolle mit Rosmarinzweig, rebellierten meine Geschmacksnerven.

Hüttls Fazit: „Wären sie nur beim Cuba Libre geblieben.“

28.1.2015

Presseschau zum 125. Geburtstag Tucholskys

Mit freundlichem Dank an tucholsky125.wordpress.com!

Der 125. Geburtstag Kurt Tucholskys am 9. Januar 2015 wurde in Presse, Funk und Netz überraschend ausgiebig gewürdigt. Das lag nicht nur daran, dass Tucholskys Aussagen zur Satire mit dem Terroranschlag auf die französische Satirezeitung Charlie Hebdo leider eine erschreckende Aktualität erhalten hatten. Schon deutlich vor den Anschlägen hatte das Sudelblog einige Anfragen von Journalisten erhalten, die sich anlässlich des Gedenktages mit der aktuellen Bedeutung Tucholskys beschäftigen wollten. Die Debatte um die Grenzen der Satire ist jedoch alles andere als beendet, so dass die Erwähnungen Tucholskys seit dem 9. Januar 2015 kaum weniger geworden sind. (Hinweise zu weiteren Geburtstagwürdigungen gerne per Mail an sudelblog.de)

Presse
Erstaunlich viele Beiträge sind hinter einer Paywall versteckt. Das ist schade, aber nunja, so ist es, damit fallen sie hier leider raus.

Das Blättchen hat eine 32-seitige Sonderausgabe zu Tucholskys Geburtstag gestaltet. Dabei sind Beiträge u.a. von Fritz J. Raddatz, Georg Schramm, der Kurt Tucholsky-Preisträger Konstantin Wecker, Heribert Prantl und Daniela Dahn sowie zahlreiche weitere unbedingt lesenswerte Beiträge. Die Beiträge von Schramm, Wecker, Prantl und Dahn liegen sogar als Hörversion vor. Chapeau und vielen Dank!
>> zur Sonderausgabe.

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7.1.2015

„Gute Leute! Nicht schießen!“

Schon bei den ersten Veröffentlichungen der Mohammed-Karikaturen im Jahr 2006 hatte das Sudelblog Tucholskys zahlreiche Äußerungen zu den Grenzen der Satire näher untersucht. Es ist ein extrem trauriger Anlass, dass diese genau zwei Tage vor Tucholskys 125. Geburtstag mit dem Mordanschlag auf die Redaktion des französischen Satire-Magazins Charlie Hebdo eine besondere Aktualität erhalten. Dutzende Male wurde heute Tucholskys Diktum „Was darf die Satire? Alles“ getwittert. Selbst Vizekanzler Sigmar Gabriel soll es zitiert haben.

Aus zahlreichen Text- und Briefstellen Tucholskys geht allerdings hervor, dass sein Verständnis von Satire nicht auf die Position “sie darf alles” reduziert werden sollte. Vor allen in religiösen Fragen unterschied er klar zwischen den geistigen Inhalten und den daraus entspringenden gesellschaftlichen Ansprüchen der Religionen.

Beinahe verzweifelt wirkte der Appell, mit dem er 1924 den Artikel »Wie mache ich mich unbeliebt?« beschloss:

Dem Satiriker gab ein Gott zu sagen, was sie treiben. Man kann ja nun nicht gerade verlangen, daß der Großpapa, dem der Enkel einen kleinen Flitzbogenpfeil in die hintere, untere Schlafrockseite bohrt, dem guten Kind auch noch einen Bonbon gibt. Aber nicht gleich aufspringen und mit harten Gegenständen werfen. Die Würde muß es sich gefallen lassen, daß sie manchmal am Bart gezupft wird. (Auch Bartlose haben einen Bart, mitunter.)

Denn die moderne Sorte Humorist muß heute noch mit einem Schutzpanzer umhergehen:

Gute Leute! Nicht schießen!

Gewalt kann und darf nie ein Mittel sein, Satire zu bekämpfen.

5.1.2015

Die Rettung des Schwejk

Kurt Tucholsky gehörte zu den frühen deutschsprachigen Fans des Schwejk, den er in Auszügen schon in einer Humoranthologie Roda Rodas (Band 6) entdeckt hatte:

Hervorzuheben die kleine Erzählung eines Tschechen: Hascheks, ich habe den Namen nie gehört. Sie ist das Muster einer politischen Satire, von einer Bitterkeit, die doppelt wirkt, weil sie eingemummelt ist in sanfte Blödheit, die scheinbar von nichts nicht weiß. Was ist das für ein Mann -?

schrieb er im Dezember 1925 in der Weltbühne. Hätte Tucholsky das Konkurrenzblatt Tagebuch gelesen, wäre ihm 1923 vielleicht schon der Nachruf Egon Erwin Kischs auf den früh gestorbenen Schwejk-Erfinder Jaroslav Haschek aufgefallen. So aber stellte ein Weltbühne-Leser den Autor und dessen Hauptwerk im April 1926 mit den Worten vor:

Seit Jahrzehnten ist kein tschechisches Buch so gelesen und so gekauft worden. Es ist kaum zu übersetzen, und das ist schade. Denn aus diesem Buch kann man den Krieg kennen lernen, wie er wirklich gewesen ist. Karel [sic] Haschek war ein Vollblut-Tscheche und eine Vollblut-Europäer.

in: »Antworten«: Peter Panter, Die Weltbühne, 6.4.1926, S. 557 f.

Richtig populär wurde der »brave Soldat« auch in Deutschland, als der erste von vier Bänden übersetzt wurden. Die Übersetzerin Grete Reiner hatte ihr Werk zuvor schon den Lesern der Weltbühne angekündigt und sehr selbstbewusst der Einschätzung des zitierten Lesers widersprochen:

Der Schreiber dieser begeisterten Zeilen hat nur zum Teil recht, nämlich in Bezug auf die einzigartige Bedeutung dieses Werkes. Dagegen irrt er ein wenig, wenn er dieses köstliche Buch für unübersetzbar hält und bedauert, dass es dem deutschen Publikum dauernd entzogen bleiben soll. Ich habe es übersetzt und soeben im Verlag A. Synek zu Prag erscheinen lassen.

in: »Antworten«: Grete Reiner in Prag, Die Weltbühne, 27.4.1926, S. 676

Keine Frage, dass sich Tucholsky alias Peter Panter sogleich auf die Übersetzung stürzte und sie wenige Wochen später ausführlich rezensierte.

Obwohl er kein Tschechisch konnte, war er von der Leistung Reiners nicht überzeugt:

Das Buch ist aus dem Tschechischen ins Deutsche übertragen worden – soweit ich das beurteilen kann, nicht sehr glücklich. Vielleicht ist es gut übersetzt, aber der Eindruck dieses Jargons, den Schwejk spricht, ist nicht lustig. Seine Grammatik ist farblos und steht in gar keinem Verhältnis zu den herrlichen Sachen, die er zusammenphilosophiert – man ahnt, was einem da Alles verloren gegangen sein mag. Ich gebe zu: dergleichen überträgt sich nicht. »Du bist woll mit de Muffe jebufft?« heißt nicht: »Hat Sie Jemand unsanft mit einem Pelzmuff angerührt?« – sondern etwas anders. Und das bleibt freilich am Bodensatz des Dialekts kleben, es kommt nicht herauf, und hier steckt die Tragik des Buches.

Auch den zweiten Band nahm er sich direkt nach dem Erscheinen vor. Darin kanzelte er Reiner noch schärfer ab:

Gott weiß, was uns durch diese unmögliche Übersetzung verloren geht – aber es bleibt noch genug.

Dieses »genug« reichte immerhin aus, dass bis vor kurzem keine weitere deutsche Übersetzung des Schwejk gegeben hat.

Ein Makel, den nun der 1962 in Prag geborene Übersetzer Antonín Brousek beseitigt hat. Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg sind zwar schon im vergangenen Jahr bei Reclam erschienen, werden aber weiterhin fleißig in den Feuilletons besprochen. Darin geht es unter anderem um die Frage, wie »kongenial« Reiners Übersetzung war, oder, besser gesagt, wie sehr sie das Werk verfremdete und umdeutete. Reiner ließ den Schwejk »böhmakeln«, laut Wikipedia ein »gesprochenes Deutsch mit auffallendem ›böhmischen‹ Akzent«. Als deutscher Leser nimmt man nun mit Erstaunen zur Kenntnis, dass eine solche Sprechweise überhaupt nicht dem Original entspricht. Mit den Worten Brouseks:

Grete Reiner hat sich mit ihrem »Böhmakeln« etwas Neues ausgedacht. Dabei hat sie das Buch nicht übersetzt, sondern interpretiert und umgeschrieben und damit ein eigenständiges Werk geschaffen. Das bedeutet, die deutsche Fassung entsprach nicht nur nicht der tschechischen, sondern war auch noch eine eigenständige neue Interpretation, die mit dem Original nur bedingt etwas gemeinsam hat. […]

Hašeks Roman ist im Original in einem modernen Umgangstschechisch geschrieben. Es musste also ein modernes Umgangsdeutsch her. Das Buch enthält teilweise altertümelnde Begriffe, aber in der Regel reden alle Leute völlig normal. Das heißt, es ist genau umgekehrt zu Grete Reiner. […]

Alle Dialoge sind in einem normalen Umgangstschechisch verfasst, das auch »Schwejk« spricht. Die einzigen, die im Roman komisch sprechen, sind die Deutschen, denn diese können kein richtiges Tschechisch – und sobald sie versuchen Tschechisch zu sprechen, hört sich dies lächerlich an.

Brousek gibt im Interview mit Radio Prag der Kritik Tucholskys an der merkwürdigen Sprache der Protagonisten ausdrücklich recht:

Ich finde es erstaunlich, dass Tucholsky damals fast als Einziger dies bemerkte, obwohl er kein Tschechisch sprach. Den meisten gefiel Reiners Übersetzung bei der Veröffentlichung. Bert Brecht fand die Übersetzung beispielsweise urkomisch. Doch Kurt Tucholsky hat es richtig beschrieben, die Übersetzung ist in gewissem Sinne »unmöglich«.

Gut möglich ist aber, dass Reiner auch inhaltlich in den Roman eingriff. So schimpft Schwejk bei Brousek über die Deutschen: »Das sind solche Drecksäcke, wie sonst keiner auf der Welt.« Diese Passage zu Beginn des Buches findet sich bei Reiner nicht, wie die Berliner Zeitung kritisch bemerkt:

Bisher war dieser Satz, gesprochen zum Auftakt des Romans im Wirtshaus Zum Kelch, allen Lesern des Svejk bekannt – nur den titulierten Drecksäcken nicht. Denn in der einzigen deutschen Übertragung des Romans von 1926 und sämtlichen Neuauflagen fehlen diese Worte.

Kein Wunder, dass die Rezensenten die neue Übersetzung als »bahnbrechend« (Berliner Zeitung) und »überfällige Rettung eines modernen Klassikers aus dem K.-u.-k.-Komödienstadel« (Tagesspiegel) loben.

Umso besser, dass Brousek die Lorbeeren für sein Werk noch zu Lebzeiten ernten kann. Nicht nur die Schwäbische Zeitung hat ihn mit einem Namensvetter verwechselt und bereits 2013 sterben lassen. Auch der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek schreibt dem gleichnamigen Dichter und Literaturkritiker Brousek die neue Schwejk-Übersetzung zu. Wie quicklebendig der Übersetzer und laut Reclam in Berlin lebende Richter Brousek ist, zeigte er auch auf einer Lesung während der Leipziger Buchmesse 2014.

18.11.2013

»Still, wie eine Jungfrau im achten Monat« – Unbekannter Tucholsky-Brief entdeckt

Es kommt nur sehr selten vor, dass fast 80 Jahre nach dem Tod Tucholskys unbekannte Briefe aus der Maschine des manischen Briefschreibers auftauchen. Doch gelegentlich werden solche raren Exemplare auf irgendeinem Dachboden wieder hervorgekramt. So auch im Falle von Jørn Dietrich. Dieser entdeckte im Nachlass seines Großvaters Alfred Dietrich einen Brief, den Tucholsky am 23. Juni 1927 während seines Aufenthaltes im dänischen Mogenstrup Kro getippt hatte. Der Brief ist zweifellos ein echter Tucholsky:

Hier ist es ganz still, der Wirt spricht so wenig Deutsch, dass meine Konversation auf das erfreulichste eingerostet ist, und ich arbeite vor mich hin und gehe im Wald spazieren und lebe still, wie eine Jungfrau im achten Monat.

Zugleich beantwortet der Brief einige Fragen, die Tucholskys Aufenthalte in Kopenhagen betreffen und klärt die Identität einer Person, die in einem anderen Brief erwähnt wurde. Ein Fund, der sich für die Tucholsky-Forschung gelohnt hat.

Der Briefadressat war damals Presseattaché der deutschen Botschaft in der dänischen Hauptstadt. Tucholsky hatte ihn wohl zu einem Essen eingeladen, um über ihn Kontakte zu prominenten dänischen Literaten und Politikern zu knüpfen. Das geht aus einem »Kassensturz« vom 13. Juni 1927 hervor, den er einem Brief an seine Frau Mary Tucholsky beilegte.

Hotel 140 Kronen (Dabei ein unverschämt hoher
Gepäcktransport von Terminus.)
Gepäck 15
Marken 45
Papier 15
Diverses 30
Whisky 10
Bücher 20
eine Pfeife 15
Essen mit
Dietrich 30

steht dort notiert. In der Tucholsky-Gesamtausgabe (Band 18, S. 627) heißt es noch zu Dietrich: »Nicht identifiziert.«

Auch wenn Tucholsky sich in dem Brief bitterlich beklagte, wohin seine ansehnlichen Honorare verschwunden sind (»Es sieht ja schrecklich mit dem Geld aus, und ich möchte nur wissen, wie das gekommen ist«). Die 30 Kronen für das Essen mit Dietrich waren offenbar gut angelegt. Denn in dem Schreiben an den Diplomaten bedankt er sich sehr artig «für alle Freundlichkeiten«, mit denen Dietrich ihm »wirklich ganz besonders nett weitergeholfen« habe. Ob dies der einzige Kontakt zwischen dem umherreisenden Schriftsteller und dem Presseattaché war, geht aus den überlieferten Texten und Briefen Tucholskys nicht hervor. Wobei er sich bei Dietrich mit dem Satz verabschiedete: »Sollte ich in Kopenhagen noch einmal Station machen, melde ich mich natürlich.«

Weitere Begegnungen sind durchaus wahrscheinlich. Es ist dazu sehr aufschlussreich, sich das Leben Dietrichs genauer anzuschauen. Denn in vieler Hinsicht ist es typisch für die Karriere eines linken Intellektuellen in den Wirren von Kaiserzeit, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Nachkriegsepoche. Eine gute Quelle dafür ist ein Lebenslauf, den Dietrich nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb, um als »Opfer des Faschismus« anerkannt zu werden.

Karl Wilhelm Alfred Dietrich wurde demnach am 1. September 1878 in Spremberg in der Niederlausitz geboren. Der Sohn eines Seilermeisters sollte nach dem Willen seines Vaters evangelischer Geistlicher werden, was Dietrich jedoch ablehnte, so dass er nur die Volksschule absolvierte. Mit 14 Jahren kam er zum Spremberger Anzeiger, wo er zum Setzer und Stenografen ausgebildet wurde. Mit 18 wurde er Redaktionsgehilfe beim Niederlausitzer Anzeiger in Finsterwalde. Von dort zog er nach Bremen, wo er bei der Weser-Zeitung sechs Jahre lang als Redakteur arbeitete. In Bremen lernte er auch den späteren Reichspräsidenten Friedrich Ebert kennen, mit dem ihm eine »warme Freundschaft“ verband, wie Dietrich in dem Lebenslauf schreibt. Zum Jahreswechsel 1904 ging Dietrich nach Kopenhagen, wo er 40 Jahre seines Lebens verbringen sollte. Bis nach Ende des Ersten Weltkrieges arbeitete er dort als Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien, darunter das offiziöse Nachrichtenbüro WTB, die Kölnische Zeitung und das Hamburger Fremdenblatt. Nach der Novemberrevolution zahlten sich die alten Verbindungen zur SPD und insbesondere zu Ebert aus. Dietrich wurde 1919 Leiter der Presse- und Kulturabteilung der deutschen Gesandtschaft in Kopenhagen und behielt diesen Posten bis zum 1. Oktober 1934.

In diesen 15 Jahren machte er die Bekanntschaft mit vielen »bedeutenden Persönlichkeiten«, wie in dem Lebenslauf schreibt. Zu den ersten Bekanntschaften zählte einer der Fliegerhelden des Ersten Weltkrieges, der nach der Abrüstung der Reichswehr als Militärberater nach Dänemark gegangen war. Der spätere Nazi-Bonze und Reichsmarschall Hermann Göring habe am meisten als »Schürzenjäger, Säufer und Morphinist« von sich reden gemacht, schreibt Dietrich. Ein Teil seiner Dienstzeit sei damit draufgegangen, Görings »zahlreiche Gläubiger zu beruhigen«. Dass Göring schon vor dem Münchner Putsch von 1923 Morphinist gewesen sein soll, widerspricht historischen Darstellungen. Er soll sich aber bereits im Ersten Weltkrieg mit Kokain aufgeputscht haben und nahm die Droge vielleicht auch in Kopenhagen. Die Bekanntschaft mit Göring sollte Dietrich aber noch einmal aus einer prekären Situation helfen.

Solange Dietrich noch als Presseattaché wirkte, lernte er zahlreiche deutsche und dänische Literaten kennen. »Ich nenne hierbei besonders Max Reinhardt, Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Ernst Toller, Emil Ludwig, Kurt Tucholski [sic], ferner Einstein, Thälmann und Scheidemann …« Auch mit dem dänischen Ministerpräsidenten Thorvald Stauning sowie den Schriftstellern Martin Andersen Nexø und Georges Brandes hätten ihn »eine viele Jahre währende Freundschaft« verbunden. Es wundert nicht, dass die Nazis nach ihrer Machtübernahme den sozialdemokratischen Diplomaten auf Linie bringen wollten. Dietrich musste nach eigenen Angaben bei Propagandaminister Joseph Goebbels in Berlin zum Rapport, weigerte sich jedoch, der NSDAP beizutreten.

Eine persönliche Aussprach mit Goebbels hierüber, die der damalige Außenminister v. Neurath vermittelt hatte, und die im Auswärtigen Amt in Berlin stattfand, verlief ausserordentlich heftig, aber vollkommen ergebnislos. U.A. machte Goebbels mir zum Vorwurf, dass ich immer von einer »Partei« spräche, während es sich doch jetzt um eine Weltanschauung handele, worauf ich ihm erwidern konnte, dass er mich ja selbst aufgefordert habe, in die Partei einzutreten. Mit blutrotem Kopf fuhr er mich hierauf an, dass er sich eine derartige »Anpöbelung« verbäte.

Am 1. Oktober 1934 verlor Dietrich seinen Posten und fand in Kopenhagen nach Darstellung seines Enkels jahrelang keinen Job, was auch mit seiner Nazi-kritischer Haltung zusammengehangen haben könnte. Dietrich selbst behauptet hingegen, schon im April 1935 als Schriftleiter bei der Zeitung Licitationen angefangen zu haben. Auch in anderer Hinsicht flunkert Dietrich in seinem Lebenslauf ein wenig. Während er schreibt, seine Ehe sei 1935 geschieden worden, weil seine Frau ihm die ablehnende Haltung gegenüber den Nazis nicht habe verzeihen können, sieht das seine Familie anders. Der Diplomat sei immer schon seiner Frau untreu gewesen und habe das auch in den dreißiger Jahren fortgesetzt, was schließlich zum Bruch geführt habe.

Glaubhaft hingegen scheint, dass Dietrich sich aktiv für Flüchtlinge und durchreisende Regimegegner einsetzte: »Ernst Toller und Kurt Tucholski und andere haben bei mir vorübergehend Unterkunft erhalten«, schreibt er, wobei in diesem Fall unklar ist, ob Kopenhagen für Tucholsky weiterhin als Durchreisestation diente oder er auf dem Weg in die Schweiz nicht gleich per Schiff von Schweden nach den Niederlanden oder Belgien gefahren ist.

Die Geheime Staatspolizei beobachtete Dietrich auch nach seiner Entlassung aus dem diplomatischen Dienst und notierte Hitler-kritische Reden in der Öffentlichkeit. Anderthalb Jahre nach der Besetzung Dänemarks durch deutsche Truppen wurde er von der Gestapo in Dänemark verhaftet. Am 9. November 1941 brachten ihn zwei Beamte nach Deutschland, wo er schließlich im berüchtigten Polizeipräsidium am Berliner Alexanderplatz landete. »Vollkommen überrascht« sei er gewesen, als er im April 1942 entlassen worden sei. Dahinter steckte offenbar ein Besuch seiner Tochter bei Göring, die den damaligen Reichsmarschall daran erinnerte, wie ihr Vater ihn 1920 in sturzbetrunkenem Zustand und ohne Geld aus einer Bar mit nach Hause genommen hatte. Zwar habe Göring behauptet, im Gegensatz zu Goebbels nichts für Dietrich tun zu können, doch die plötzliche Entlassung dürfte sicherlich in einem Zusammenhang mit dem Besuch gestanden haben.

Dietrich durfte Berlin nicht verlassen. Ausgebombt und nervenkrank überstand er das Ende des Krieges in der Berliner Charité. Im September 1945 heiratete er seine zweite Frau Emma. Nach dem Krieg arbeitete er für den Berliner Magistrat unter den Bürgermeistern Louise Schroeder und Ernst Reuter. Wie aus dem abgebildeten Ausweis hervorgeht, wurde er als »Opfer des Faschismus« anerkannt. Am 27. Oktober 1951 starb er im Alter von 73 Jahren und wurde auf dem St. Thomas-Friedhof in Neukölln beerdigt. Postum erhielt er 1953 eine Entschädigung von 1.395 D-Mark für 279 Tage Freiheitsentzug in der NS-Zeit. Seine Witwe erhielt 1964 eine Entschädigungssumme von 25.000 D-Mark, die Dietrich offenbar als Opfer des NS-Regimes zustand.

Wann und wie er Tucholsky zum letzten Mal gesehen hatte, ist nicht bekannt. Im April 1931 wurde Tucholsky in Kopenhagen an der Nase operiert. Ende Juni 1934 war er zum letzten Mal nach Schweden eingereist – dabei aber vermutlich mit dem Schiff von Amsterdam nach Göteborg gefahren. Solche und viele weitere Details von Tucholskys Leben sind noch ungeklärt. Aber vielleicht findet sich mal wieder ein verschollener Brief auf einem Dachboden, der für neue Erkenntnisse sorgt.

21.12.2012

Tucholsky und der Hindukusch

Der SPD-Politiker und frühere Verteidigungsminister Peter Struck ist am Mittwoch überraschend in Berlin gestorben. Politiker und Medien würdigten Struck zu Recht als einen Mann der klaren Worte. Wie zum Beweis stellte Spiegel Online eine Übersicht der prägnantesten Zitate ins Netz, Belege für »eine unverfälschte Persönlichkeit« und für einen Politiker, »der offene Worte fand – die nicht jedem gefielen«.

Nicht gefallen hat den meisten Tucholsky-Fans eine Äußerung, die Struck bei einem öffentlichen Bundeswehr-Gelöbnis im Juni 2003 in Hamburg machte. Als Demonstranten in Anspielung auf das Tucholsky-Diktum »Soldaten sind Mörder« ein Transparent mit der Aufschrift »Tucholsky hat recht« entrollten, bemerkte der damalige Verteidigungsminister:

Wenn Tucholsky heute leben würde, hielte er die Auslandseinsätze der Bundeswehr für richtig.

Ob Tucholsky ihm jetzt dafür auf den Wellen die Leviten liest?
Zum damaligen Anlass hat das schon die Titanic in einem »Brief an die Leser« gebührend übernommen. Dem muss man nun nichts mehr hinzufügen. Angesichts vieler weichgespülter Politiker-Statements werden wir Typen wie Struck dennoch vermissen.

25.1.2012

Hitlers »komisches Buch«

Der britische Verleger Peter McGee hat mit seinen Plänen für Wirbel gesorgt, Auszüge aus Adolf Hitlers Manifest Mein Kampf in kommentierter Form auf den deutschen Zeitungsmarkt zu bringen. Die bayerische Landesregierung hat dem nun einen Riegel vorgeschoben, weil sie weiter die Urheberrechte an dem Werk geltend macht. Doch was spricht dagegen, die »NS-Bibel« (Focus) vor dem Wegfall des Urheberschutzes im Jahr 2015 schon den deutschen Lesern zugänglich zu machen? Eigentlich nichts, außer der Tatsache, dass Hitlers Werk ein unlesbarer Schmarrn ist.

Dieses Urteil haben zumindest die Autoren der Weltbühne gefällt, die in der Zeit der Weimarer Republik den zweifelhaften Vorteil hatten, das Buch ungehindert lesen zu können. Auf welche Weise haben sich nun Journalisten wie Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky mit Hitlers Ergüssen aus seiner Landsberger Festungshaft auseinandergesetzt? Genau so, wie das Buch es verdiente: nämlich gar nicht. Es ist schon bemerkenswert, dass Mein Kampf erst im Februar in der Weltbühne 1931 überhaupt erwähnt wurde. Damals saßen die Nazis schon mit mehr als 100 Abgeordneten im Reichstag. In einer »Antwort« an den ehemaligen Reichskanzler Joseph Wirth hieß es lapidar:

Wie Sie selbst dazu stehen, haben Sie verraten, als sie bemerkten, dass in Adolf Hitlers komischem Buch manche Stellen Sie an Nietzsche erinnert hätten.

Einen Seitenhieb auf Hitler und sein Manifest machte dann der Pazifist Hellmut von Gerlach im Oktober 1932, als er in einem Artikel vor möglichen Pogromen nach einer Machtübernahme der Nazis warnte:

Für klug hat ihn wohl noch nie jemand gehalten, der sein Buch Mein Kampf gelesen hat.

Immerhin schien Gerlach das Buch gelesen zu haben.

Ebenfalls im Oktober 1932 widmete sich die Zeitschrift schließlich in einem eigenen Text Hitlers Buch, »dieser reichhaltigsten Kathederblüten-Sammlung der Welt«. Der Titel des Artikels von Heinz Horn, »Hitlers Deutsch«, war bezeichnend: Ein Buch, das solch hanebüchenen Thesen vertrat und in so schlechtem Deutsch geschrieben war, hatte auch angesichts der drohenden Machtübernahme keine ernsthafte Betrachtung verdient. Horn machte dabei nichts anderes, als einige der schrägsten Formulierungen aneinanderzureihen. Das sah dann so aus:

Adolf Hitlers grundlegendes Buch Mein Kampf ist in der deutschen Literatur vollkommen einmalig. Durchaus angebracht, daß uns andre Völker ob dieser reichhaltigsten Kathederblüten-Sammlung der Welt beneiden. Mögen andre Leute derartige Dinge mühsam aus Hunderten von Büchern und Schriften zusammenklauben, was hier vorliegt, ist von der ersten bis zur letzten Zeile Originalarbeit, tierisch ernst gemeint und mit wundervollem Pathos vorgetragen — in einer Sprache, die in ihrer orientalischen Üppigkeit und in ihrem östlichen Bilderreichtum noch die Tiraden des kleinen Hadschi Halef Omar in Karl Mays Reisebeschreibungen übertrifft. Wer nicht weiß, wo Braunau liegt, muß aus der Sprache, die der größte Sohn dieser kleinen Stadt spricht, schließen, es läge im verdächtigsten Morgenland.

Die Bilder und Vergleiche, mit denen Hitler seine tiefsinnigen Aussprüche ziert, sind mit Vorliebe dem Gebiet der Naturwissenschaften entnommen, wobei vor allem unappetitliches Kleinvieh wie Maden, Bazillen und Quallen eine prominente Rolle spielt.

So wie man nur vorsichtig in eine solche Geschwulst hineinschnitt, fand man, wie die Made im faulenden Leibe, oft ganz geblendet vom plötzlichen Lichte, ein Jüdlein (S. 61).

So schön an sich diese reiche Bildersprache ist, läßt sie einen doch nicht recht erkennen, wer da eigentlich vom plötzlichen Lichte geblendet ist: die Made, das Jüdlein oder der kühne Chirurg höchstpersönlich. Außerdem ist dem Dichter bei diesem Vergleich leider entgangen, daß die Made im Leibe ist, weil er faulig ist, und nicht etwa der Leib deshalb fault, weil die Made darin ist. Weiter:

Man bedenke, daß auf einen Goethe die Natur immer noch leicht zehntausend solcher Schmierer der Mitwelt in den Pelz setzt, die nun als Bazillenträger schlimmster Art die Seelen vergiften (S. 62). (…)

Aber auch wo sie die Tierwelt in Ruhe läßt, zeichnet sich Hitlers Prosa durch eine Farbenpracht der Diktion aus, für die hier noch einige Beispiele gegeben seien:

Dieses Pack aber fabriziert zu mehr als zwei Dritteln die sogenannte »öffentliche Meinung«, deren Schaum dann die parlamentarische Aphrodite entsteigt (S. 94). (…)

Was wirklich über das Normalmaß des breiten Durchschnitts hinausragt, pflegt sich in der Weltgeschichte meistens persönlich anzumelden (S. 96).

Man hatte keine blasse Ahnung, daß die Begeisterung, erst einmal geknickt, nicht mehr nach Bedarf zu erwecken ist (S. 183).

Ebenbilder Gottes dürfte man nur mehr wenige finden, ohne des Allerhöchsten freveln zu wollen (S. 281).

Ohne des Allerhöchsten freveln zu wollen: wer solches mit ungeknickter und nach Bedarf zu weckender Begeisterung zu lesen vermag, dem ist wohl nicht zu helfen.

Warum die Deutschen dieses Buch nun endlich wieder zur Kenntnis nehmen sollen? Eine Antwort gibt ein Geschichtslehrer in einem Gastbeitrag für die Rhein-Zeitung:

Hitler geht immer und sorgt für Auflage. Das ist bekannt. Das weiß auch der Verleger Peter McGee.

Dennoch befürwortet der Lehrer Daniel Bernsen eine Veröffentlichung auch in Deutschland und verweist auf die Lesereise des deutsch-türkischen Kabarettisten Serdar Somuncu, der dem Publikum Passagen aus Mein Kampf vorgetragen hatte:

So absurd und unfreiwillig komisch Hitlers Argumentation bisweilen ist, so schrecklich waren die Folgen dieser Gedanken. Die Balance dazwischen gelingt Somuncu ausgesprochen gut.

Die Auseinandersetzung mit dem Text, seiner Entstehungs- und Wirkungsgeschichte ist wichtig. Das bisherige Verbot hat in Deutschland offensichtlich das Gegenteil erreicht. Das Lachen über den Text zeigt das Erkennen der Absurdität der vorgetragenen Argumentation. Es ist genau dieses Lachen, das den Text von seiner mystischen Aura befreit.

Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte, dass McGee die Passagen aus Mein Kampf nun »unleserlich« machen will. Das waren sie nach Ansicht der Weltbühne schon immer.

15.8.2011

Was sind Soldaten eigentlich?

Wie schwer es war, mit der Generation der Wehrmachtssoldaten über deren Kriegserlebnisse zu reden, hat der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil schon als kleiner Junge erfahren. In seinem schönen Büchlein Die Moselreise, das er als Kind geschrieben hat, bemerkt er:

Ich fragte Papa danach nichts Weiteres über die furchtbare Unruhe und den Krieg, weil ich weiß, dass Papa nicht gern über den Krieg spricht. Papa ist damals für einige Jahre Soldat gewesen, und ich weiß, dass er während dieser Zeit als Soldat viele, viele Fotos gemacht hat. Papa hat mir jedoch noch nie eines dieser Fotos gezeigt. (Als ich ihn später in Köln einmal gefragt habe, warum er mir seine Fotos aus dem Krieg nicht zeigt und warum wir diesen Krieg nicht auch nacherleben, hat Papa gesagt, dass er den Krieg um keinen Preis nacherleben wolle und dass er sich nichts Furchtbareres vorstellen könne als den Krieg nachzuerleben. Ich habe dann nicht weiter nach den Fotos und nach dem Krieg gefragt, weil Papa sehr ernst geworden ist, als ich ihn nach den Fotos und nach dem Krieg gefragt habe.)

So wie Ortheils Vater dürfte es den meisten deutschen Soldaten gegangen sein. Um so überraschender kam für Publikum und Historiker eine Studie, die im Frühjahr dieses Jahres publiziert wurde. Einfache Soldaten und auch Offiziere schilderten ihre Kriegserlebnisse ungewöhnlich offen und freimütig. Die Alliierten hatten Gespräche von deutschen Kriegsgefangenen heimlich mitgeschnitten und aufbewahrt. Zwei kurze Beispiele:

Bäumer: »Da haben wir vorne eine Zwei-Zentimeter-Kanone einbauen lassen. Dann sind wir im Tiefflug über die Straßen, und wenn uns Autos entgegenkamen, haben wir den Scheinwerfer angemacht, die dachten, es käme ein Auto ihnen entgegen. Dann haben wir mit der Kanone reingehalten. Damit hatten wir viele Erfolge. Das war sehr schön, das machte riesigen Spaß. Auch Eisenbahnzüge und so Zeug.«

Greim: »Wir haben einmal einen Tiefangriff bei Eastbourne gemacht. Da kommen wir an und sahen ein großes Schloss, da war anscheinend ein Ball oder was, auf alle Fälle viele Damen in Kostümen und eine Kapelle. Das erste Mal sind wir vorbeigeflogen, dann haben wir noch einen Angriff gemacht und haben reingehalten. Mein lieber Freund, das hat Spaß gemacht.«

Es wundert einen daher nicht, dass der Mitautor der Studie, Harald Welzer, im Magazin Stern gefragt wurde: »Sind, mit Tucholsky, Soldaten Mörder?« Welzer antwortete:

Natürlich sind sie das, das schreiben wir am Ende des Buches auch ganz deutlich: Töten ist ihr Job. Alles andere ist Romantik. In Tucholskys Äußerung schwingt ja mit, dass er nicht versteht, warum es Soldaten überhaupt gibt. Seine Aussage ist moralisch grundiert. Empirisch betrachtet: Soldaten sollen töten, das lernen sie, das ist ihr Handwer.k

Die 512 Seiten lange Untersuchung ist aber alles andere als eine Materialsammlung, die nur Gesprächsprotokolle wiedergibt. Vielmehr versuchen Welzer und sein Co-Autor Sönke Neitzel, die Aussagen der Soldaten sehr genau in ihren damaligen Kontext einzuordnen. Sie wollen den »Referenzrahmen des Krieges« analysieren. Erläutern, warum die Armee des nationalsozialistischen Deutschen Reiches solche Verbrechen begehen konnten. Und verstehen, ob es tatsächlich an der Erziehung und Propaganda im Dritten Reich lag, dass die Soldaten so schnell »Spaß« am Töten bekamen. Ein eindeutiges Mordmerkmal. Der Spiegel bezeichnete die Abhörprotokolle als »Sensationsfund« und urteilte:

Die Wissenschaft hat schon immer die Frage interessiert, wie schnell aus ganz normalen Menschen Tötungsmaschinen werden können. Nach den vorliegenden Berichten muss man sagen: sehr schnell.

Es ist allerdings nicht so, dass die Autoren in ihrer Untersuchung explizit auf die Frage eingehen, ob Soldaten Mörder sind. Obwohl das Buch auf die Entwicklung des Wehrgedankens in der Weimarer Republik eingeht, wird Tucholskys Position nicht erwähnt. Am Ende heißt es nur: »Menschen töten aus den verschiedensten Gründen. Soldaten töten, weil das ihre Aufgabe ist.« Erstaunlicherweise wird diese noch recht sachliche Position von den Protokollen selbst überholt:

Zotlöterer: »Ich habe einen Franzosen von hinten erschossen. Der fuhr mit dem Fahrrad.«
Weber: »Von ganz nahe?«
Zotlöterer: »Ja.«
Heuser: »Wollte der dich gefangen nehmen?«
Zotlöterer: »Quatsch. Ich wollte das Fahrrad haben.«

Sicherlich haben nicht alle Soldaten so gewissenlos gehandelt. Aber die Tatsache, dass Zotlöterer seinen Mord so freimütig dem Kameraden mitteilte, macht deutlich, dass dieser sich keiner besonderen Schuld bewusst war. Er glaubte offenbar, völlig im Recht so gehandelt zu haben. Im damaligen Prozess um das »Soldaten sind Mörder«-Zitat hatten die Anwälte Carl von Ossietzkys viele antimilitaristische Zitate aus der Geistesgeschichte bemüht. In ähnlichen Prozessen könnte man in Zukunft dieses Buch als Beleg für die These vor Gericht präsentieren. Und auch das Fazit des Spiegel erwähnen:

Nicht im Menschen ist die Moral begründet, die sein Handeln bestimmt, sie liegt in den Strukturen, die ihn umgeben. Ändern sich diese, ist grundsätzlich alles möglich, auch das absolute Grauen.

Die Struktur, die das absolute Grauen hervorbringt, hatte für Tucholsky einen Namen: Krieg. Die Schilderungen der Wehrmachtsoldaten hätten aber wohl jenseits seiner Vorstellungskraft gelegen.

Sönke Neitzel und Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 521 S., geb., 22,95 Euro.

25.7.2011

Wirre Welten

Wie haben linke Journalisten und Schriftsteller in der Weimarer Republik den Nationalsozialismus bekämpft? Warum sind sie gescheitert? Mit diesen Fragen beschäftigte sich vor einiger Zeit eine Tagung der Tucholsky-Gesellschaft. Warum schafften es auch brillante Autoren wie Tucholsky und standhafte Journalisten wie Carl von Ossietzky nicht, dem Aufstieg der Nazis etwas entgegenzusetzen? Eine durchaus selbstkritische Analyse des verlorenen Kampfes fand sich schon damals in der Weltbühne. Im November 1932 schrieb Walther Karsch, der spätere Mitbegründer des Berliner Tagesspiegels, unter anderem:

Die Linke hat es sich selbst zuzuschreiben, daß sich das Gift der Ideen, Theorien und Argumente der Gegner ungehindert ausbreiten und die Gehirne vernebeln konnte. Wie selten traf man vor dem September 1930 auf eine Arbeit, die den Versuch unternahm, den Feind in seinem Hause aufzusuchen, ihn so zu zeichnen, wie er war, und dann sein politisches Gebäude anzubohren. Jetzt endlich bequemt man sich dazu, näher und ernsthaft auf diese Fragen einzugehen.

Walther Karsch: »Die Linke hat Schuld«, in: Die Weltbühne, 28. Jg., Nr. 45 (8.11.1932), S. 697–698

Trifft dieser Vorwurf auch heutige Journalisten, die sich mit dem Thema Rechtsextremismus beschäftigen? Schon möglich, aber mit Sicherheit nicht die Autoren Astrid Geisler und Christoph Schultheis. Die beiden haben sich für ihr Buch Heile Welten — Rechter Alltag in Deutschland ausführlich mit dem weiten Spektrum rechtsextremer Tendenzen in Deutschland auseinandergesetzt. Und haben keine Mühe gescheut, »den Feind in seinem Hause aufzusuchen«. Dazu gehört beispielsweise die engagierte »Tante Ines vom Spielplatz«, die ihre völkischen Ideen auch als Elternsprecherin und Schöffin vertritt. Oder den Gründer des Internetportals Politically Incorrect, Stefan Herre, »eine der Leitfiguren der deutschen Islam-Gegner, einer illustren, politisch unübersichtlichen Szene, die bis in rechtsextreme Kreise reicht«.

Der Tenor des Buches: Anders als meist geglaubt wird, ist der »Kampf gegen Rechts« häufig keine Erfolgsgeschichte, haben die Rechten oft einen langen Atem in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Gezeigt wird das am Beispiel Delmenhorst, wo die Bürger im Jahr 2006 erfolgreich den Verkauf eines Hotels an den Neonazi Jürgen Rieger verhinderten. Doch inzwischen ist Ernüchterung eingekehrt. Das mit viel Spendengeld gekaufte Hotel wurde längst abgerissen, die Neonazis sind in der Stadt jedoch präsenter denn je.

Walther Karsch mahnte 1932:

Mochten sie nun Hitler oder Hugenberg, Goebbels oder Hussong, Müller oder Schulze heißen, die meisten Auslassungen der Linken ließen diese Figuren als mehr oder minder große Trottel erscheinen. Jetzt sind diese »Trottel« auf einmal an der Macht oder bedenklich in ihre Nähe gerückt.

Nach der Lektüre von Heile Welten hat zwar man nicht den Eindruck, als könnten die Herres und Schreibers bedenklich in die Nähe der Macht rücken. Aber es lässt sich, wie von den Autoren behauptet, kaum leugnen, dass sich

in ganz Deutschland eine Subkultur etabliert [hat], die sich nach außen bürgerlich gibt, tatsächlich aber für eine rassistische und nationalistische Gesellschaft kämpft.

Welche Folgen das haben kann? Es bleibt sehr zu hoffen, dass sich nicht auch in Deutschland unter solchem Einfluss die Gehirne vernebeln.

Astrid Geisler, Christoph Schultheis: Heile Welten – Rechter Alltag in Deutschland, 224 Seiten. Klappenbroschur,
€ 15,90 [D] / sFR 23,90 [CH] / € 16,40 [A] (ISBN 978-3-446-23578-6)
Auch als E-Book (978-3-446-23699-8, € 11,99 [D]) erhältlich.
© Carl Hanser Verlag München

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