1.1.2004

Redakteur und freier Schriftsteller

Das Verhältnis des Redakteurs zum freien Schriftsteller ist nicht so, wie es sein sollte.

   Der Redakteur, dem freien Schriftsteller in mehr als einer Hinsicht nahe verwandt, mit ihm aus demselben Boden entsprossen, betrachtet den freien Schriftsteller nicht so als Berufskollegen, wie das wohl wünschenswert wäre, sondern sieht ihn vielmehr leider mit Verlegeraugen an.

   Der vom Unternehmer angestellte geistige Arbeiter wertet sehr häufig schon nach kurzer Praxis den ökonomisch unsicheren, frei arbeitenden Berufsgenossen so wie sein Brotherr: von oben herunter.

   Diese Sätze beruhen auf meinen Erfahrungen als Mitglied einer berliner Redaktion, und ich muß hinzufügen, daß ich als freier Schriftsteller im allgemeinen über die Kollegen in den Redaktionsstuben in keiner Weise zu klagen habe. Ich spreche also nicht pro domo. (Obgleich das kein Schade wäre.) Es sind mir aber sehr wohl die Klagen vieler freier geistiger Arbeiter bekannt, die sich – meiner Meinung nach mit Recht – über die Haltung der Redakteure beklagen.

   Neben der unangenehmen Wertschätzung der sogenannten „großen Namen“ läuft eine Mißachtung der weniger großen parallel. Da ist zunächst die Frage der überlangen Fristen bei Offertenbeantwortungen. Der aktuelle Artikel, der aus irgendwelchen Gründen vom Redakteur zu lange in der Schublade behalten wird, ist nach vierzehn Tagen bei seiner Rückgabe für den Schreiber unbrauchbar geworden, er kann ihn nirgends mehr anbieten, und so haben wir das seltsame Schauspiel, daß ein geistiger Arbeiter (der Redakteur) das Werk seines Kollegen (des freien Schriftstellers) fahrlässig vernichtet.

   In der Frage der durchaus unzulänglichen Honorare, die von den Zeitungen an die Mitarbeiter gezahlt werden, ist der Redakteur doch nicht ganz so einflußlos, als es den Anschein hat. Es ist mir in meiner Praxis soundso oft gelungen, den Widerstand des sparenden Verlages zu brechen und für die freien Schriftsteller (und Zeichner) wenigstens einigermaßen zureichende Bezüge durchzusetzen. Es kann auf keinen verständigen Unternehmer ohne Einfluß bleiben, wenn ihm sein Redakteur, der Geschäftsführer seiner Ressorts für geistige Arbeit, auseinandersetzt, daß er für schlechte Honorare nur mittelmäßige Schriftsteller zu Mitarbeitern bekommt, und daß er mit der dauernden Unterbietung der Preise Qualität und Niveau der geistigen Arbeiter drückt und sich so letzten Endes selber schadet. Demgegenüber habe ich leider feststellen müssen, daß es eine Reihe Redakteure gibt, die sich durch Überbetonung des Unternehmerstandpunktes ihren Kollegen gegenüber beim Verleger lieb Kind machen und sich lediglich als Angestellte des Unternehmers und nicht auch als Angehörige einer weiteren geistigen Gruppe betrachten. Das Angestelltenverhältnis dem Verleger gegenüber ist nicht zu leugnen, und es involviert sicherlich die Pflicht, die Interessen des Verlages nach außen hin wahrzunehmen. Das geschieht aber häufig mit einer Rücksichtslosigkeit, die jede geistige Artverwandtschaft mit dem freien Schriftsteller leugnet und ein vorhandenes Vertragsverhältnis über das Kollegialitätsgefühl triumphieren läßt.

   Es ist mir sehr wohl bekannt, mit wieviel faulen Elementen, die sich als „Schriftsteller“ ausgeben, der Redakteur zu tun bekommt; ich weiß auch, wie groß die Menge der taktischen Rücksichten und Hemmungen ist, denen der Redakteur nun einmal unterworfen ist. Ich glaube aber doch, daß es anders und besser sein könnte, als es augenblicklich ist. Der Redakteur, der heute seine Stellung verläßt, kann morgen freier Schriftsteller sein, und der freie Schriftsteller, der heute beim Redakteur antichambriert, kann morgen auf seinem Platz sitzen. Sie sind beide geistige Arbeiter. Sie sollten mehr zusammenhalten, und besonders der Redakteur sollte mehr zum freien Schriftsteller halten, damit sich manifestierte, was latent vorhanden ist: ihre Kollegenschaft.


Autorenangabe: Kurt Tucholsky

Ersterscheinung: Deutsche Presse, 31.03.1922, S. 3.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1922

Kurt Tucholsky: Deutsches Tempo. Gesammelte Werke. Ergänzungsband 1. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und J. Raddatz. Rowohlt-Verlag, Reinbek 1985. S. 286 ff.

Der Linksdenker

      Er ist ein Gespenst und doch
      ein Münchner.
            Alfred Polgar

Das war ein heiterer Abschied von Berlin: sechs Wochen Panke und ein Abend Karl Valentin – die Rechnung ging ohne Rest auf.

   Ich kam zu spät ins Theater, der Saal war bereits warm und voller Lachen. Es mochte grade begonnen haben, aber die Leute waren animiert und vergnügt wie sonst erst nach einem guten zweiten Akt. Am Podium der Bühne auf der Bühne, mitten in der Vorstadtkapelle, saß ein Mann mit einer aufgeklebten Perücke, er sah aus, wie man sich sonst wohl einen Provinzkomiker vorstellt: ich blickte angestrengt auf die Szene und wußte beim besten Willen nicht, was es da wohl zu lachen gäbe … Aber die Leute lachten wieder, und der Mann hatte doch gar nichts gesagt … Und plötzlich schweifte mein Auge ab, vorn in der ersten Reihe saß noch einer, den hatte ich bisher nicht bemerkt, und das war: ER.

   Ein zaundürrer, langer Geselle, mit stakigen, spitzen Don-Quichote-Beinen, mit winkligen, spitzigen Knien, einem Löchlein in der Hose, mit blankem, abgeschabtem Anzug. Sein Löchlein in der Hose – er reibt eifrig daran herum. „Das wird Ihnen nichts nützen!“ sagt der gestrenge Orchesterchef. Er, leise vor sich hin: „Mit Benzin wärs scho fort!“ Leise sagt er das, leise, wie es seine schauspielerischen Mittel sind. Er ist sanft und zerbrechlich, schillert in allen Farben wie eine Seifenblase; wenn er plötzlich zerplatzte, hätte sich niemand zu wundern.

   „Fertig!“ klopft der Kapellmeister. Eins, zwei, drei – da, einen Sechzehnteltakt zuvor, setzte der dürre Bläser ab und bedeutete dem Kapellmeister mit ernstem Zeigefinger: „’s Krawattl rutscht Eahna heraus!“ Ärgerlich stopft sich der das Ding hinein.

   „Fertig!“ Eins, zwei, drei … So viel, wie ein Auge Zeit braucht, die Wimper zu heben und zu senken, trennte die Kapelle noch von dem schmetternden Tusch – da setzte der Lange ab und sah um sich. Der Kapellmeister klopfte ab. Was es nun wieder gäbe -? „Ich muß mal husten!“ sagte der Lange. Pause. Das Orchester wartet. Aber nun kann er nicht. Eins, zwei, drei – tätärätä! Es geht los.

   Und es beginnt die seltsamste Komik, die wir seit langem auf der Bühne gesehen haben: ein Höllentanz der Vernunft um beide Pole des Irrsinns. Er ist eine kleine Seele, dieser Bläser, mit Verbandsorgan, Tarif, Stammtisch und Kollegenklatsch. Er ist ängstlich auf seinen vereinbarten Verdienst und ein bißchen darüber hinaus auf seinen Vorteil bedacht. „Spielen Sie genau, was da steht“, sagt der Kapellmeister, „nicht zu viel und nicht zu wenig!“ – „Zu viel schon gar nicht!“ sagt das Verbandsmitglied.

   Oben auf der Bühne will der Vorhang nicht auseinander. „Geh mal sofort einer zum Tapezierer“, sagt der Kapellmeister, „aber sofort, und sag ihm, er soll gelegentlich, wenn er Zeit hat, vorbeikommen.“ Geschieht. Der Tapezierer scheint sofort Zeit zu haben, denn er kommt gelegentlich in die Sängerin hineingeplatzt. Steigt mit der Leiter auf die Bühne – „Zu jener Zeit, wie liebt ich dich, mein Leben“, heult die Sängerin – und packt seine Instrumente aus, klopft, hämmert, macht … Seht doch Valentin! Er ist nicht zu halten. Was gibt es da? Was mag da sein? Er hat die Neugier der kleinen Leute. Immer geigend, denn das ist seine bezahlte Pflicht, richtet er sich hoch, steigt auf den Stuhl, reckt zwei Hälse, den seinen und den der Geige, klettert wieder herunter, schreitet durch das Orchester, nach oben auf die Bühne, steigt dort dem Tapezierer auf seiner Leiter nach, geigt und sieht, arbeitet und guckt, was es da Interessantes gibt … Ich muß lange zurückdenken, um mich zu erinnern, wann in einem Theater so gelacht worden ist.

   Er denkt links. Vor Jahren hat er einmal in München in einem Bierkeller gepredigt: „Vorgestern bin ich mit meiner Großmutter in der Oper ›Lohengrin‹ gewesen. Gestern nacht hat sie die ganze Oper nochmal geträumt; das wann i gwußt hätt, hätten wir gar nicht erst hingehen brauchen!“

   Aber dieser Schreiber, der sich abends sein Brot durch einen kleinen Nebenverdienst aufbessert, wird plötzlich transparent, durchsichtig, über- und unterirdisch und beginnt zu leuchten. Berühren diese langen Beine noch die Erde?

   Es erhebt sich das schwere Problem, eine Pauke von einem Ende der Bühne nach dem andern zu schaffen. Der Auftrag fällt auf Valentin. „I bin eigentlich a Bläser!“ sagt er. Bläser schaffen keine Pauken fort. Aber, na … latscht hin. Allein geht es nicht. Sein Kollege soll helfen. Und hier wird die Sache durchaus mondsüchtig. „Schafft die Pauke her!“ ruft der Kapellmeister ungeduldig. Der Kollege kneetscht in seinen Bart: „Muß das gleich sein?“ Der Kapellmeister: „Bringt die Pauke her!“ Valentin: „Der Anderl laßt fragen, wann.“ – „Gleich!“ Sie drehen sich eine Weile um die Pauke, schließlich sagt der Anderl, er müsse dort stehen, denn er sei Linkshänder. Linkshänder? Vergessen sind Pauke, Kapellmeister und Theateraufführung … Linkshänder! und nun, ganz shakespearisch: „Linkshänder bist? Alles links? Beim Schreiben auch? Beim Essen auch? Beim Schlucken auch? Beim Denken auch?“ Und dann triumphierend: „Der Anderl sagt, er ist links!“ Wie diesseits ist man selbst, wie jenseits der andre, wie verschieden, wie getrennt, wie weitab! Mitmensch? Nebenmensch.

   Sicherlich legen wir hier das Philosophische hinein. Sicherlich hat Valentin theoretisch diese Gedankengänge nicht gehabt. Aber man zeige uns doch erst einmal einen Komiker als Gefäß, in das man so etwas hineinlegen kann. Bei Herrn Westermeier käme man nicht auf solche Gedanken. Hier aber erhebt sich zum Schluß eine Unterhaltung über den Zufall, ein Hin und Her, kleine magische Funken, die aus einem merkwürdig konstruierten Gehirn sprühen. Er sei unter den Linden spaziert, mit dem Nebenmann, da hätten sie von einem Radfahrer gesprochen – und da sei gerade einer des Wegs gekommen. Dies zum Kapitel: Zufall. Der Kapellmeister tobt. Das sei kein Zufall – das sei Unsinn. Da kämen tausend Radfahrer täglich vorbei. „Na ja“, sagt Valentin, „aber es ist grad einer kumma!“ Unvorstellbar, wie so etwas ausgedacht, geschrieben, probiert wird. Die Komik der irrealen Potentialsätze, die monströse Zerlegung des Satzes: „Ich sehe, daß er nicht da ist!“ (was sich da erhebt, ist überhaupt nicht zu sagen!) – die stille Dummheit dieses Witzes, der irrational ist und die leise Komponente des korrigierenden Menschenverstandes nicht aufweist, zwischendurch trinkt er aus einem Seidel Bier, kaut etwas, das er in der Tasche aufbewahrt hatte, denkt mit dem Zeigefinger und hat seine kleine Privatfreude, wenn sich der Kapellmeister geirrt hat. Eine kleine Seele. Als Hans Reimann einmal eine Rundfrage stellte, was sich wohl jedermann wünschte, wenn ihm eine Fee drei Wünsche freistellte, hat Karl Valentin geantwortet: „1. Ewige Gesundheit. 2. Einen Leibarzt.“ Eine kleine Seele.

   Und ein großer Künstler. Wenn ihn nur nicht einmal die berliner Unternehmer einfangen! Das Geheimnis dieses primitiven Ensembles ist seine kräftige Naivität. Das ist nun eben so, und wems nicht paßt, der soll nicht zuschauen. Gott behüte, wenn man den zu Duetten und komischen Couplets abrichtete! Mit diesen verdrossenen, verquälten, nervösen Regisseuren und Direktoren auf der Probe, die nicht zuhören und zunächst einmal zu allem nein sagen. Mit diesem Drum und. Dran von unangenehmen berliner Typen, die vorgeben zu wissen, was das Publikum will, mit dem sie ihren nicht sehr heitern Kreis identifizieren, mit diesen überarbeiteten und unfrohen Gesellen, die nicht mehr fähig sind, von Herzen über das Einfache zu lachen, „weil es schon dagewesen ist“. Sie jedenfalls sind immer schon dagewesen. Karl Valentin aber nur einmal, weil er ein seltener, trauriger, unirdischer, maßlos lustiger Komiker ist, der links denkt.


Autorenangabe: Peter Panter

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 09.10.1924, Nr. 41, S. 550

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1924

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 3, S. 474 ff.

Redakteure (2)

Vor acht Tagen habe ich gefragt, wie sich der schmähliche Zustand, daß der Zeitungsverleger unumschränkt über seine Redakteure herrscht, auswirkt. Das läßt sich leicht beantworten:

   Die Folge ist ein linder Größenwahn des Redakteurs auf allen Gebieten, wo es ungefährlich ist.

   Das Verhältnis des angestellten Schriftstellers zum nicht angestellten Schriftsteller ist ein einziger Skandal – das äußerste an Unkollegialität und an Schmierigkeit, an äußerstem Mangel von Solidarität, der nur denkbar ist. Ich habe in zwanzig Jahren Literatur etwa fünf Redakteure kennen gelernt, die sich nicht einbildeten, deshalb, weil man sie angestellt hatte, etwas Besseres zu sein als ihre Mitarbeiter.

   Daß der Redakteur die Spreu vom Weizen sondert, kann ihm niemand verdenken. In unserm Beruf steht das Angebot in einem grotesken Gegensatz zur Nachfrage – zu schreiben vermeint jeder und jede zu können, und den Kram, der da verlangt wird, kann ja auch jeder Mensch herstellen. Das hebt die Stellung des Redakteurs; er sieht die wirtschaftlichen Ursachen nicht und hält sich für geistig überlegen, wo er nur als Verwalter der kümmerlichen Honorare und als Billettknipser an der Schranke der Öffentlichkeit in Anspruch genommen wird. Und was er sich vor seinem Verleger niemals getraute, das wagt er dem Mitarbeiter gegenüber alle Tage: da trumpft er auf, da ist er der große Mann, dem zeigt er aber, was eine Harke ist. Leider zeigt er ihm nicht, was eine gute Zeitung ist.

   Kein Schriftsteller-Schutzverband, keine Presse-Organisation hat das je zu ändern vermocht. Wieviel Redakteure mag es in Deutschland geben, die von ihrem Verlag über die Höhe des Honoraretats maßgeblich gehört werden? Mir sagte einst einer der besten Bildredakteure der deutschen Presse: „Wissen Sie, auf die Honorare käme es eigentlich nicht an“ (das war in den guten Jahren), „wir könnten ruhig das Doppelte zahlen, der Verlag merkte das gar nicht!“ Sie zahlen aber die Hälfte, und die Honorare der Provinzzeitungen sind ein Hohn, eine Unverschämtheit, aber keine Entlohnung. Der Redakteur, der sich vor seinen Mitarbeitern so gern als kleiner Kaiser aufspielt, ist der allerletzte, der hier auch ein Quentchen hineinzureden hat. Die Honorare werden von der geschäftlichen Leitung festgesetzt, und damit basta. Ausnahmen zugegeben; die Regel ist so.

   Die Folgen sind klar. An Zeitungen arbeiten so viel Außenseiter mit, daß ihr Niveau tiefer ist als es unbedingt notwendig wäre: Professoren; Damen der ersten besten Gesellschaft; Fachleute, die etwas wollen, und Interessenten, die etwas nicht wollen – manchmal auch Schriftsteller. Nun verspüre ich keine Berufsreligion in mir – warum soll ein Professor nicht gut schreiben? Aber erstens schreibt er meistens schlecht, und zweitens bestimmen nun diese Leute, die sich etwas nebenbei verdienen wollen, die Höhe oder vielmehr die Tiefe der Honorare – und so ist aus unserm Beruf eine schlechtbezahlte Beschäftigung geworden.

   Kurz: der Redakteur gleicht seine Machtlosigkeit vor dem Verleger durch Machtprotzerei vor dem Mitarbeiter aus. Und nicht nur dem Mitarbeiter gegenüber. Auch sich selbst gegenüber.

   Ich habe einmal in Dijon einen ganzen Korb voller Journalisten auf einem internationalen Journalisten-Kongreß gesehen; das war wohl das jammervollste an Saturnalien, das man sich vorstellen konnte. Lauter Leute, von denen keiner auch nur eine Zeile schreiben dürfte, wenns ihm der Verleger verboten hätte; kleine Angestellte, mit einem ungeheuren Geltungsbedürfnis; Berichterstatter, deren höchster Ehrgeiz dahin ging, Weltgeschichte zu machen, was ja übrigens der größte Fehler der meisten Auslandskorrespondenten ist: den Diplomaten, die sie bewundernd verachten, ins Handwerk pfuschen zu wollen, es sind verhinderte Attachés – und dieser Haufe inkohärenter und nicht homogener Menschen war nur in zwei Punkten völlig einig: in der Machtlosigkeit vor ihren Verlegern und in dem wütenden Ehrgeiz, nach außen hin repräsentieren zu wollen. Es war traurig mitanzusehn.

   Das, was die meisten Redakteure zu sein vorgeben, sind sie gar nicht: unabhängige Inhaber von Machtpositionen. Das können sie nur einem unkundigen Außenseiter erzählen. Sie sind bis ins letzte Komma abhängig wie die Landarbeiter, und die Stellung, die sie innehaben, nutzen sie niemals aus, weil sie das nicht dürfen, wie ja nicht einmal ihre Verlage die ihre ausnutzen, es sei denn in den allerbescheidensten Grenzen kleiner oder hier und da größerer Geschäftemacherei (Subventionen).

   Das gestehn sich die wenigsten Redakteure ein.

   Beide, Verleger und Redakteure, unterschätzen ihre Positionen. Sie überschätzen sie zu gleicher Zeit auf einem Gebiet, wo ihre Machtlosigkeit zum Himmel schreit: nämlich auf dem Gebiet der großen Politik. Außenpolitisch ist das nur komisch. Mir sagte einmal ein ehemaliger Redakteur der ›Frankfurter Zeitung‹: „Als wir jung waren, haben wir immer geglaubt, die Weltpolitik werde in der Großen Eschenheimer Straße gemacht.“ Das glauben viele Leute von ihren Redaktionen heute noch, und wer einmal im Ausland gelebt hat, der weiß, daß deutsche Zeitungen zwar oft zitiert, aber selten gehört werden. Innenpolitisch richten die Zeitungen um so weniger aus, je größer sie sind; tatsächlich ist ja die Entwicklung der letzten Jahre gegen die Leitartikel der größten Zeitungen, und nicht nur der sogenannten demokratischen, vor sich gegangen. Sie können schreiben, was sie wollen, und die Politiker tun, was sie wollen.

   Die Klugen unter den Redakteuren wissen zwar genau, was los ist; doch beherrscht die Redaktionen jener Spruch, den sich die Herren auf goldene Teller malen lassen sollten: „Das kann man natürlich nicht schreiben!“ Aber warum, warum können sie es nicht schreiben?

   Weil sie keine Macht haben. Weil ihre allzu willfährigen Organisationen, mit dummen Eitelkeitsund Prestige-Fragen befaßt, von den Unternehmern rechtens niemals so beachtet werden wie etwa in frühem Zeiten die Gewerkschaften der Buchdrucker, und weil der Redakteur von seinem Eitelkeitswahn unheilbar besessen ist. Der Verleger zahlt ihn schlecht; so macht er sich durch das bezahlt, was er selber von sich hält. Und er hält sehr viel von sich.

   Ich habe sie kommen und gehen sehn. Ich weiß, wie das ist, wenn sie an einem großen Blatt angestellt sind: die Buchverlage hofieren sie; alle Welt kraucht um sie herum; man nimmt sie für voll, man ladet sie ein, und was die Theaterleute mit ihnen treiben, ist bekannt. In dem Augenblick aber, wo der Verleger sich über sie geärgert hat und wo sie entlassen sind, gelten sie so gut wie gar nichts mehr. Dann wundern sie sich.

   Wolfgang Petzet hat neulich in der Deutschen Republik geschildert, wie die Kaufleute, denen die münchner Jugend gehört, ihn tyrannisiert haben, und wie es dann nicht mehr möglich gewesen ist, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Immer wieder frage ich mich: mit welchem Recht, aus welcher Kompetenz heraus regieren diese Brüder? Weil das Unternehmen ihnen gehört? Wir machen ja auch keine Bilanzen. Verstehn denn diese Kaufleute so viel von dem, was sie vertreiben? Sie verstehn es oft mitnichten, sie handeln nur damit, und das ist nicht immer dasselbe.

   Der treue Abonnent wird im Laufe der Jahre gemerkt haben, daß ich mich nie sehr viel mit Redakteuren herumgezankt habe; ich halte das für sinnlos. Man soll an das Mark der Presse heran: an die Dienstherrschaft, nicht an die Köche. Und diese Dienstherrschaft ist in den meisten Fällen anonym; unfaßbar; bar jeder Legitimation, überhaupt mitreden zu dürfen – und das regiert! Die Redakteure finden es ganz in der Ordnung.

   Es scheint wenigstens so. Denn so gut wie nie liest man in ihren Fachblättern von diesen delikaten Dingen – keiner rührt das heiße Eisen auch nur an. Auf ihren Kongressen geht es gar hoch her: da wird gesprochen von der Pflicht der Kulturbildung und der Wichtigkeit der Presse – aber von der kläglichen Rolle, die der Redakteur vor dem Verleger spielt, ist nicht die Rede. Mit gutem Grund.

   Ich habe nichts zu enthüllen – ich weiß von keinen Skandalgeschichten. Mich interessieren die einzelnen Verleger nicht, und ich kann hier keinen ›Sumpf‹ aufzeigen. Doch erschien es mir richtig, einmal zu sagen, welche bejammernswerte Position der Redakteur dem Verleger gegenüber einnimmt, und wie er sich aus dieser Lage herauslügt: durch Überkompensation seiner selbstverschuldeten Defekte und durch eine trübe Wichtigmacherei sich und seinen Mitarbeitern gegenüber.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 07.06.1932, Nr. 23, S. 856.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 15.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 10, S. 87 ff.

Die Musikalischen

Ich bin unmusikalisch. Wenn ich es sage, antworten die Leute mit einem frohen Gefühl der Überlegenheit: „Aber nein – das ist ja nicht möglich! Sie verstehen gewiß sehr viel von Musik … “ und freuen sich. Es ist aber doch so. Musik läßt mich aufhorchen; wenn ich sie höre, habe ich ein Bündel blödsinniger Assoziationen – und dann verliere ich mich im Gewirr der Töne, finde mich nicht mehr heraus … Und um rat und hilflos zu sein, dazu brauche ich schließlich nicht erst in eine Oper zu gehen. Gut.

   Was aber die Musikalischen sind, so ist das eine eigenartige Sache mit ihnen.

   Ganz vernünftige Menschen, solche mit einer Stellung oder einem Mann oder einer oder mehreren Überzeugungen – diese also fallen plötzlich in das Musikfeld ein. Gurgelnd jagen sie durch die Notenstoppeln. Was gibts -?

   Plötzlich sind sie drin, und ich bin draußen. Auf einmal sind sie alle verwandt, und ich bin eine Waise. Der Name eines Dirigenten fällt: und Haß leuchtet aus ihren Augen, ihre Zähne zermalmen ein Gekeif, sie ereifern sich, Hitze bricht aus den Kühlsten – was gibts, um Gottes willen? Sie sind eine große Familie, wenn sie über Musik sprechen, ja, sie zanken sich, wie man sich nur in Familie zankt, mit jenem kundigen Haß der Nähe, jeder Hieb sitzt, weil man weiß, wo es weh tut, sie schnattern, wirtschaften im Irrgarten ihrer Musik – was gibts? Ich weiß es nicht.

   Auch ist viel Stolz in ihnen und schöne Gesinnung, weil daß sie so musikalisch sind, was sie oft mit musisch verwechseln – besonders die Frauen hassen das Gemeine, sind unentwegt edel und schweben hörbar eine Handbreit über dem Erdboden. So: „Ich bin eine Hohepriesterin der Musik, und das will ich mir auch ausgebeten haben.“

   Auch zeichnen sich Musiker durch einen fühlbaren Mangel an Humor aus – das ist grauslich. Sie verständigen sich schon von weitem durch kabbalistische Terminologie; kaum haben sie sich berochen, so bricht es aus ihnen hervor, jeder hat ein Klavier im Stall oder einen schwarzen Steinway-Rappen und erzählt von seinen Feldzügen auf diesen geschundenen Tieren … Stehn Sie einmal so kulturlos draußen herum, vor der Tür, so durchum und durchaus nicht dazugehörig …

   Horch! Wie sie murmeln! „Furtwängler habe ich doch noch gehört, wie er … Also von Mahler versteht er nichts, davon soll er die Finger lassen … Die Baßlage bei der Kulp ist in der letzten Zeit nicht so … “ Beschämt, zerknirscht, ein Trällerliedchen aus ›Palestrina‹ auf den Lippen – so schleiche ich betrübt aufs Lavabo.

   P. S. Selbstverständlich habe ich die falschen Musiker kennengelernt, Karikaturen musikalischer Menschen – Ausnahmefälle. „Denn Sie werden doch nicht leugnen, daß die Musik … “ Gute Nacht.


Autorenangabe: Kaspar Hauser

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 26.10.1926, Nr. 43, S. 676

Wieder in: Mit 5 PS.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 4, S. 529 ff.

Vorsätze

Ich will den Gänsekiel in die schwarze Flut tauchen. Ich will einen Roman schreiben. Schöne, wahre Menschen sollen auf den Höhen des Lebens wandeln, auf ihrem offenen Antlitz soll sich die Freiheit widerspiegeln …

   Nein. Ich will ein lyrisches Gedicht schreiben. Meine Seele werde ich auf sammetgrünem Flanell betten, und meine Sorgen werden kreischend von dannen ziehen …

   Nein. Ich will eine Ballade schreiben. Der Held soll auf blumiger Au mit den Riesen kämpfen, und wenn die Strahlen des Mondes auf seine schöne Prinzessin fallen, dann …

   Ich will den Gänsekiel in die schwarze Flut tauchen. Ich werde meinem Onkel schreiben, daß ich Geld brauche.


Autorenangabe: anonym

Ersterscheinung: Ulk, 22.11.1907.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 1, Texte 1907-1913.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 1, S. 39 ff.

Bänkelbuch

Das Genre ist nicht groß. Es sind immer wieder dieselben sechs oder acht, die diese leichten Verse machen, dieselben, die Spaß am Spaß haben und Freude an der Ironie. Dergleichen ist bei uns nicht so übermäßig beliebt. Darüber ragt steil die Hornbrille einer verstandesmäßig kühlen Lyrik, die keine ist, darunter riecht es nach dem Humor des Bieres, dem Jargon der Ställe und der Klampfe des Freikorps, dem Jeist der Reichswehr – und ganz zu unterst nach Arnolt Bronnen. Wir andern stehen in der Mitte.

Da steht denn also auch ein niedliches Büchlein, das ›Bänkelbuch‹ (erschienen bei E. P. Tal in Wien); herausgegeben hat es Erich Singer, der in dem Büchlein auch mit hübschen Versen vertreten ist. Das Buch ist eine Anthologie. Weil wir grade bei der Vorrede sind: da hat der Herausgeber, wie ich meine, einen kleinen Schwupper gemacht. »Er bedauert es sehr, daß es keinen Verführungskünsten gelang, den prinzipiellen Widerstand der Herren Joachim Ringelnatz und Bert Brecht zu beseitigen.« In dem Bedauern ist ein Unterton, der mir nicht gefällt. Er hat sagen wollen: »Ich habe sie aufgefordert – sie gehören hier hinein«, aber es klingt anders. Nicht die Herren Ringelnatz und Brecht waren eingeladen, sondern in Wahrheit ist immer der Herausgeber einer Anthologie bei uns zu Gast, was also hier – mit einem leichten Seitenblick auf den Leser: »Wie finden Sie diese Leute?« – geschieht, ist etwa so, wie wenn jemand Krach macht, daß er dort und dort nicht eingeladen ist. Ich verstehe den Widerstand der beiden sehr gut. Erstens ist er durchaus ihre Sache; zweitens geht das häufig so, daß die Leser nur die Anthologie, nicht aber die Bücher der vertretenen Autoren kaufen … und es ist das Recht Brechts und Ringelnatzens, die bänkelbedürftigen Leser auf ihre zu diesem Zweck angefertigten Bücher zu verweisen. Dies nebenbei.
A wie Adler. Hans Adler. Ist das lange her … Da habe ich hier, noch vor dem Kriege, den ›Simplicissimus‹ gefragt, warum er denn nicht diese reizenden kleinen Verslein, die öfter in ihm zu finden waren, gesammelt herausgäbe. In der Tat ist das geschehen; das Buch heißt ›Affentheater‹, die Verse sind noch dieselben, aber inzwischen muß etwas passiert sein. Ist ja wohl auch. Es stimmt mächtig melancholisch, das zu lesen. Immerhin: ein paar Verse bleiben haften – wenn auch der große Feuerwerksschein jenes Vierzeilers:

Wem es bestimmt, der endet auf dem Mist
Mit seinem edelsten Bestreben …
Ich bin zum Beispiel immer noch Jurist.
So ist das Leben.

nicht mehr den abendlichen Garten erhellt – die Entfernung von Mist und Jurist hat sich inzwischen leicht vermindert. Aber es sind doch hübsche Gedichtchen.
Dann hätten wir da Hermann Hesse, aus jener Zeit, da er noch nicht jeden Morgen ein Täßchen Galle trank, so den nicht sehr heiteren Anblick eines bejahrten Primaners bietend, der im Alter von fünfzig Jahren die Nutte entdeckt. Auch er hat schöne Gedichte in diesem Buch; seine Prosa steht weit darüber – so etwas wie ›Ohne dich‹ gibt es nun bei dem alten Liliencron viel, viel besser (›Stammelverse nach durchwachter Nacht‹).
K wie Kästner. Brillant. Da ist ›Jahrgang 1899‹, ein kleines Gedicht, in dem eigentlich alles über diesen Fall ausgesagt ist – mehr kann man darüber gar nicht sagen:

Man hat unsern Körper und unsern Geist
ein wenig zu wenig gekräftigt.
Man hat uns zu viel, zu früh und zumeist
in der Weltgeschichte beschäftigt!

Das ist Nummer eins. Es sind einige sehr gute, wenn nicht die besten Gedichte aus seinen Bänden (›Herz auf Taille‹ und ›Lärm im Spiegel‹, bei C. Weller & Co. in Leipzig) ausgewählt.
Aus der Gesamterscheinung dieses Mannes kann ich nicht ganz klug werden. Die Verse sind wunderbar gearbeitet, mit der Hand genäht, kein Zweifel – aber irgend etwas ist da nicht in Ordnung. Es geht mir manchmal zu glatt, das sollte man einem deutschen Schriftsteller nicht sagen, dieses Formtalent ist so selten! – also sagen wir lieber: die Rechnung geht zu gut auf; sechsunddreißig geteilt durch sechs ist sechs, gewiß, na und? Ich kenne kaum ein einzelnes Gedicht, gegen das ich Einwände zu machen hätte … Ist es die Jugend? Aber grade das, was mir auffällt, ist kein Anzeichen von Jugend: es ist so etwas wie mangelnde Kraft; der dahinter steht, ist mitunter selber ›Jahrgang 1899‹. Ich will mich gern getäuscht haben: so einer verdient Förderung, Ei-Ei und Weitermachen.
Einige alte schöne Verse Kerrs. Einige alte, schöne Verse Klabunds – darunter jenes Gedicht, das, soweit ich mich erinnere, den Stil Blandine Ebingers bestimmt hat. »Und ick baumle mit die Beene, mit die Beene hin und her … » Blandinchen, du hast bei mir auf dem Tisch gesessen und hast es vorgemacht, und der kluge Friedrich Hollaender hat es gleich gesagt: »Sie hat ihren Stil gefunden.«
Alfred Lichtenstein, in Klammern Wilmersdorf: getötet im Jahre 1914.›Der Türke‹ und ›Der Fall in den Fluß‹ – diesen Fall von Lenchen Levi in den tiefen Fluß höre ich und sehe ich immer so, wie Kate Kühl ihn einmal gestaltet hat.
M wie Mehring – die stärksten Verse des Buches. Darüber haben wir uns neulich schon unterhalten.
Schickele … ja, wäre in Deutschland die ›kleine Form‹ nicht so verachtet: wer weiß, ob dieser nicht unser bester deutscher Journalist geworden wäre. ›Schreie auf dem Boulevard‹ ist heute noch das weitaus überragendste, was in den letzten zwanzig Jahren über Paris geschrieben worden ist, und unter diesen Versen hier ist zum Beispiel ›Tragödie‹ – das ist Form, Kraft, Stärke, was ihr wollt.

Am Nebentisch im Café Anglais:
»Ich kann bloß leben in deiner Näh!«
– Det versteh ick nich.
»Für mich ist dein ältester Anzug neu.
Du gehst mit andern, ich bin dir treu.«
– Det versteh ick nich.

Schade, daß das nicht von mir ist.
T wie Tiger; darunter einige Jugendsünden, aber wir wollen sie lassen stahn.
Gleich dahinter das schönste ernste Gedicht des Bändchens: ›Einsam‹ von Berthold Viertel (zuerst veröffentlicht in der ›Fackel‹).

Wenn der Tag zu Ende gebrannt ist,
ist es schwer, nach Hause zu gehn,
wo viermal die starre Wand ist
und die leeren Stühle stehn.

W wie Wedekind … wie sag ichs meinem älteren Abonnenten? Die Hälfte ist mausetot. Wer hats gleich gesagt? Franz Blei. Ja, aber Dunnerkiel, es hat doch Jugendgedichte von ihm gegeben, Gedichte, bei denen man das Blut in den Ohren rauschen hörte – … wenn aber dies hier einer liest, der nichts weiß von Herodes, der liest es nicht. Es liegt auch an der Auswahl. Es gibt stärkere Liköre auf dieser Schnapsorgel – wie kann man so etwas auslassen:

In der Esse fliegt der Hammer
im Cylinder auf und ab;
Gottfried in der Mädchenkammer
fliegt nicht minder auf und ab –

wenn einer ein Bänkelbuch macht: dies ist ein Bänkelsang.
W wie Weichberger, ein Dichter, den A. R. Meyer entdeckt hat, und daran hat er recht getan. Es gibt von ihm unter den alten ›Lyrischen Flugschriften‹ erschütternd komische Dinge; hier ist mein allerliebstes Lieblingsgedicht, eines, darin die deutsche Sprache selber dichtet, man hört ihr Herz puppern; das ist überhaupt nicht auf Papier geschrieben, das ist in den Blumentöpfen eines Balkons gewachsen …

Laß du doch das Klavier in Ruhe;
es hat dir nichts getan;
nimm lieber deine Gummischuhe
und bring mich an die Bahn –

Das wärs. Ein hübsches Buch.
Das Genre ist nicht groß. Daher denn auch alle Kritiker, die uns in die Finger bekommen, jeden, aber auch ausnahmslos jeden von uns mit Heine vergleichen. Das stimmt, für die Art – das stimmt gar nicht, im Größenverhältnis. Man tut Herrn Kästner oder Herrn Tiger auch keinen Gefallen damit. Denn es ist nicht mal ein Kompliment, sie mit Heine zu vergleichen – es ist einfach ein Zeichen literarischer Unbildung. Herr Kästner und Herr Tiger sind Talente: Heinrich Heine aber ist ein Jahrhundertkerl gewesen. Einer, dessen Liebes-Lyrik – mit Ausnahme der letzten Lieder – dahin ist; aber einer, der das Schwert und die Flamme gewesen ist, eine Flamme, die bis zu Nietzsche hinaufloderte. Wie schwach entwickelt muß der Bänkelsang bei den Deutschen sein, daß sie die Gesellen mit dem Meister vergleichen, der den Schmerz und die Todesahnung, die Wut und den Haß, die Liebe zur Heimat und den Abscheu vor dem Vaterland in Versen gesagt hat, die wie Flaumfedern flogen und wie schwere Minen einschlugen – nein, wie Verse! Die Zahl der deutschen Kriegerdenkmäler zur Zahl der deutschen Heine-Denkmäler verhält sich hierzulande wie die Macht zum Geist.

Autorenangabe: Peter Panter

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 9. Juli 1929, Nr. 28, S. 58.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1929, S. 279 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 7, S. 127 ff.

Märchen

Es war einmal ein Kaiser, der über ein unermeßlich großes, reiches und schönes Land herrschte. Und er besaß wie jeder andere Kaiser auch eine Schatzkammer, in der inmitten all der glänzenden und glitzernden Juwelen auch eine Flöte lag. Das war aber ein merkwürdiges Instrument. Wenn man nämlich durch eins der vier Löcher in die Flöte hineinsah – oh! was gab es da alles zu sehen! Da war eine Landschaft darin, klein, aber voll Leben: Eine Thomasche Landschaft mit Böcklinschen Wolken und Leistikowschen Seen. Rezniceksche Dämchen rümpften die Nasen über Zillesche Gestalten, und eine Bauerndirne Meuniers trug einen Arm voll Blumen Orliks – kurz, die ganze moderne Richtung war in der Flöte.

   Und was machte der Kaiser damit? Er pfiff drauf.


Autorenangabe: anonym

Ersterscheinung: Ulk, 22.11.1907, Nr. 47

Wieder in: Mit 5 PS.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 1, Texte 1907-1913.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 1, S. 39 ff.

Die Überschrift

Das haben wir eigentlich aus Amerika gelernt, nicht auf die Suppe, sondern auf den Topf zu gucken. Früher fragte man, wie eine Medizin wirke, heute, wie sie verpackt sei. Ein Königreich für einen Titel!

   Die Zeitungen habens verschuldet, deren geschickteste Angestellte sich den Kopf zerbrechen müssen, um einen Titel, ein lockendes, fettgedrucktes Wort zu erfinden … Es ist nicht zu tadeln, wenn eine gute typographische Druckanordnung die Orientierung des Lesers erleichtert, – aber das geschieht bei uns auf Kosten des Inhalts. Die Überschrift macht den Kohl fett, der sonst so fad wäre, daß ihn niemand schlucken möchte.

   Wenn die Überschrift noch den Extrakt der Nachricht, des Artikels enthielte: keine Spur! Anreizen soll sie, und die Folge ist, daß der ewig überhungrige Leser die dünne Kaviarschicht durchbeißt, auf den pappigen Teig stößt und dann das Ganze überdrüssig wegwirft. So werden viele guten Dinge diskreditiert: nur durch die Überschrift. Es gibt gerade in Berlin Zeitungen, die es darin zu einer beängstigenden Fertigkeit gebracht haben. Es kann kommen, was da will: eine Überschrift muß es haben, die den Leser vor den Kopf stößt. Wie? ‚Der Glaszauber‘? – Und nachher ist es ein Flaschenfabrikant, der allerlei Triviales über sein Geschäft erzählt. ‚Der Schrei in der Nacht’‹? Und das wird wohl das Pfeifen einer Lokomotive bedeuten, und daran anschließend macht es sich sehr hübsch, wenn man ein wenig über die Lohnforderungen der Eisenbahnarbeiter schwätzt. In dieser Art: weil man erstens in der Regel nur Triviales zu bieten hat und zweitens der verhätschelte Leser für ernste und anstrengende Dinge nicht zu haben ist, verputzt man einen an sich gleichgültigen Aufsatz mit glitzernden Mätzchen und krönt ihn mit der Krone des Kolportageromans, mit einem wilden Titel.

   Darunter leiden vor allem die Berichte aus den Gerichtsverhandlungen. ‚Ein trübes Sittenbild aus dem dunkeln Berlin‘. ‚Der geheimnisvolle Juwelendiebstahl.‘ ‚Der Mord im Pantinenkeller‘, und der Unterschied zwischen einem Schundroman und einer parodistischen Operette wird nicht immer gewahrt.

   Der Brauch, Flaschen abgestandener Flüssigkeiten mit aufreizenden Etiketts zu bekleben, hat seine Gefahr, weil der Leser gern seine wirklichen Erlebnisse etikettiert. Es gibt schon eine Menge Leute, die nicht deutsch, sondern Zeitungsdeutsch sprechen und die, statt einen komplizierten Seelenvorgang zu untersuchen, das Wort ›Lebenswandel‹ vorziehen.

   Die Aufmerksamkeit des bürgerlichen Zeitungslesers auf soziale und wirtschaftliche Kämpfe hinzulenken, ist fast nur noch möglich, wenn man mit einer Dosis ranziger Sentimentalität aufkocht. Ehrliche, sachliche Zahlen, trockenes Material wirken längst nicht mehr. Die Überschrift wirkt, die Überschrift, das Etikett, die Schablone, das Schema: mit ihnen amerikanisiert diese aufkommende Presse die Köpfe und die Geister.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel

Ersterscheinung: März, 1.2.1914, Nr. 9, S. 281.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 2.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 1, S. 182 ff.

Der neue Zeitungsstil

So, wie es in Berlin eine englisch-jüdische Tischzeit gibt (ohne auskömmliche Mittagspause, aber durcharbeiten bis abends sieben Uhr), so hat sich ein neuer deutscher Zeitungsstil herausgebildet, der die Untugenden der amerikanischen Hearst-Presse und des ‚Neuen Wiener Journals‘ zu einem schönen Ganzen vereinigt.

   Der Ursprung der Nachrichten hat sich kaum verändert. Von mäßig bezahlten Reportern mäßig aufgenommen, mit kleinen Mitteln rasch zusammengeklaubt, nicht einmal so tendenziös gefärbt wie unsorgfältig zusammengehauen, gehen die Telegramme ihren Weg. Früher druckte man sie ab. Heute macht man sie auf. Was, man macht sie auf! Man macht sie überhaupt erst zu Etwas, man schöpft und schafft aus dem Nichts, man erfindet Wahrheiten. Im Anfang war die Überschrift. Das kleinste Lausetelegramm kann durch geschickte ‚Aufmachung‘ zu einer Art Sensation werden. Der Käufer ist abgestumpft: er hat die Lügen der Obersten Heeresleitung und die großen Kanonen- und Menschenmaterial-Zahlen des Weltkrieges hinter sich –: er muß schon etwas geliefert bekommen für sein Geld. Also etwa so: Der englische Kronprinz wirft eine Parfumflasche in einem pariser Geschäft um. Überschrift: „Englisch-französischer Zusammenstoß“. Dem Kaiser von Doorn werden von der deutschen Republik dreihundertachtzig Milliarden angeboten. Er will aber noch mehr und schreibt zurück: Verzichte, Überschrift: „Verzicht des Ex-Kaisers auf sämtliche Abfindungen?“ Der italienische Konsul in Abessinien bringt sich eine Kokotte aus Rom mit. Überschrift: „Nächtlicher Kampf an der Grenze Abessiniens“. Aber was ist das alles gegen das Bild –!

   Das Bild ist die Schule der Weisheit des kleinen Mannes. Und wieviel große Männer bei uns sind nicht kleine Männer! Das Konkret-Anschauliche wird mit Recht immer den Sieg über das Abstrakte davontragen – aber nun sehe man sich an, wer diese Bilder herstellt, wie sie hergestellt sind, und wer sie aussucht! Über politische Tendenz kann man streiten, über ästhetische Begriffe kann man verschiedener Ansicht sein – aber über den vollkommenen Stumpfsinn dieser Bilder gibt es wohl nur eine Meinung. Nämlich die: Wie ungeheuer interessant! „Die Kronprinzessin von Kambodscha nach dem Tennisturnier.“ „Vizepräsident Schindanger legt einen Kranz auf den Gedenkstein des 500. deutschen Rhönsegelflugsportlers nieder.“ „Baby aus Maori, hinten geimpft.“ Man könnte getrost die Unterschriften vertauschen, es merkt ja doch keiner.

   Die Technik schreitet fort. Artikelüberschriften und Bildunterschriften sind das Gebiet eifrigsten Studiums. Kein Zeitungsmann zerbricht sich den Kopf so über die Gewinnung neuer wichtiger Nachrichten wie über die Textierung des alten herkömmlichen Materials. Es hat sich nicht geändert – aber es wird jetzt viel feiner verpackt.

   Die Weltgeschichte fix und fertig für den Gebrauch von Schwachsinnigen. Die Amerikaner sind wenigstens oberflächlich, suchen und bekommen ihre Sensation, und aus ists. Dies aber gibt sich als: ›Französischer Schick und deutsche Gründlichkeit‹. Täglich prasseln tausend Probleme auf den geängstigten und geschmeichelten Abonnenten; genau wird er über das Steuerwesen auf Honolulu, die Guttemplerbestrebungen bei den Eskimos, das Anwachsen der homosexuellen Kreise auf den Straußenfarmen, die ersten Uhren und die letzten Frauenzimmer unterrichtet. Und immer mit der Anmaßung der Gründlichkeit. Es ist die Verbreitung der Ignoranz durch die Technik.

   Diese aufgeregte Stagnation ist ein getreues Abbild der Gesellschaftsordnung, die sie hervorbringt. Eine lärmende Langeweile und ein tiefes Unrecht dazu: eine Verschleierung der Wahrheit und die Ablenkung vom Wesentlichen.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 16.12.1924, Nr. 51, S. 918.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1924

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 3, S. 527 ff.

Die „Nazis“

Vorbemerkung: Häufig wird behauptet, Kurt Tucholsky habe als erster den Begriff „Nazis“ auf die Nationalsozialisten angewendet. Das soll schon 1923 der Fall gewesen sein. Doch bis Ende der 1920er Jahre war auch bei Tucholsky dieser Sprachgebrauch nicht üblich. Dieser bürgerte sich erst mit den Wahlerfolgen der NSDAP ein. Das mit „Nazis“ vorher Deutschösterreicher und Deutschböhmen gemeint waren, zeigt beispielhaft der folgende Text, der im November 1920 in der Weltbühne erschien.

In Nummer 45 der ‚Weltbühne‘ wird dem oesterreichischen Gesandten Ludo Hartmann nachgesagt, er sei ein aufrichtiger und eifriger Verfechter des Anschlußgedankens gewesen, aber auch ein sehr ungeschickter. Er habe die Norddeutschen nicht zu nehmen verstanden und durch seinen Uebereifer viel verdorben. Daran mag manches richtig sein; aber Hartmann wollte ja nicht seine Person aufdrängen und handelte nur als Vertreter einer Politik, die von den Besten Österreichs als die einzige Rettung aus wirtschaftlicher und kultureller Not erkannt wurde. Ferner: als Hartmann seinen ganzen, dem Norddeutschen befremdlichen, Eifer entfaltete, bestand kurze Zeit eine Möglichkeit, den Anschluß durchzuführen, und wenn diese Möglichkeit wirklich nur durch die „Frostigkeit“ der Norddeutschen versäumt wurde, dann war Hartmann der weitsichtigere Politiker. Denn es handelte sich damals um Stunden, und Taktfragen konnten doch nicht entscheidend sein für eine Sache des Reiches; wären sie es gewesen, fiele die Verantwortung auf die „Frostigen“. Man lächle nicht: die Oesterreicher wären nicht mit leeren Händen gekommen. Denn es ging nicht um die Aufnahme eines verelendeten Kleinstaats, dessen Bankerott Großstaatdimensionen erreicht hatte, sondern um die für Deutschlands Wirtschaft nötige gemeinsame Grenze mit Italien und Jugoslawien. Die für Deutschland unendlich wichtigen, also deutschen Verkehrswege nach Süden und Südosten wären die wirksamste Durchbrechung der Isoliermauer gewesen, die man um Deutschland gezogen hat. Das wußte der „aufdringliche“ Oesterreicher Hartmann, dessen schlichter Privatperson gestikulierende Betriebsamkeit immer fern lag.

Vorläufig ist das nun vorbei. Aber in der zitierten Glosse des „Kleinen Welttheaters“ wurde noch hervorgehoben, daß Hartmann übersehen habe, wie sehr man „in ganz Deutschland noch lange nach dem Kriege auf die ‚Nazis‘ erbittert sein wird, ja ihnen vielfach die Hauptschuld an der endgültigen Niederlage zuschiebt“. Da möchte ich, ein Halb-Nazi (meine Mutter stammt aus Thüringen), der auch schon deshalb nicht voreingenommen sein kann, weil er drei Jahre lang in oesterreichischen Schützengräben gesteckt hat, einiges zur Klarstellung beitragen. Wenn man nämlich unter dem „Nazi“ den Deutschoesterreicher und Deutschböhmen versteht, dann ist es eine schwere Ungerechtigkeit, ihn für das Versagen des habsburgischen Bundesgenossen verantwortlich zu machen. Die staunenswerte Unkenntnis der ethnographischen und politischen Struktur des alten Oesterreich, die der deutschen Öffentlichkeit und leider auch der deutschen Führung eignete, die habsburgische Vogelstraußenmethode und das Hazardspiel ungarischer Großagrarier haben dazu geführt, eine Armee und einen Staat als vollwertige Figuren ins politische Spiel zu setzen, die beide versagen mußten. Die „Nazis“ sind daran unschuldig. Sie bildeten ein Fünftel der Bewohner des bunten habsburgischen Freudenhauses und hatten an der Front wie im Hinterland weitaus die größte Last dieses Krieges zu tragen. Angesichts der großsprecherischen und vielfach lügenhaften Propaganda, welche die Magyaren für ihre Truppen getrieben haben, muß festgestellt werden, daß, neben Kroaten und Dalmatinern, die deutschen Truppen Österreichs die einzigen absolut und immer verläßlichen waren. Man hat sie bis zur Vernichtung mißbraucht, während Truppenteile andrer Nationalität geschont und gestreichelt wurden, solange sie nicht gradezu überliefen. Das ist ja das Geheimnis der oesterreichischen Niederlagen: es gab im Ernstfalle nie eine zusammenhängende Front, sondern nur Inseln wirklicher Soldaten inmitten einer zurückweichenden oder zum Feind übergehenden Masse uniformierter Levantiner. Und diese Inseln wurden zum großen Teile immer wieder von „Nazis“ gebildet. Soviel ich weiß, hatte die oesterreichische Armee die relativ höchste Verlustziffer unter allen Armeen des Weltkriegs; innerhalb der oesterreichischem Armee entfiel von den blutigen Verlusten ein grausam hoher Prozentsatz auf die Nazis, während andre Nationalitäten mehr an den Gefangenenziffern beteiligt sind. In trostlosen Situationen, wie sie die deutsche Armee, in sich ziemlich gleichartig und geschlossen, kaum je gekannt hat, haben die Nazis das Menschenmögliche und oft noch mehr getan; und für die Nazi-Truppen gab es fast immer trostlose Situationen: sie mußten überall hinein, wo andre versagt hatten. Als Entgelt hungerte Deutschoesterreich und Deutschböhmen entsetzlich, während czechische und magyarische Agrargebiete immer noch zu leben hatten.

Kennt man in Berlin die Nazis? Ich glaube, man verwechselt sie mit übeln wiener Typen oder rangiert sie ein als Bayern zweiter Güte. Keines von beiden ist richtig. Und eine Schuld am Zusammenbruch tragen weder die armen Nazis, deren Gräber, soweit sie überhaupt welche haben, in Galizien, Polen, Wolhynien, auf den Dolomiten und dem Karst in trauriger Fülle zu sehen sind, noch die weit ärmern, die jetzt aus dem habsburgischen Starrkrampf in die Aussicht eines seelischen und physischen Hungertodes erwachen. Und wenn sie nach all der schlawinischen Sauwirtschaft in ihre Heimat zurückverlangen, aus der sie die Eigensucht einer Dynastie jahrhundertelang herausregiert hat, so verüble man ihnen die Atemlosigkeit ihrer Sehnsucht nicht; sie haben eben nicht mehr viel Atem. Und ehe man ihr Asthma von zweifelhaften Sauerstoffapparaten der Entente kurieren läßt, nehme man lieber einige ungewohnt südliche Manieren in Kauf und gehe aufs Ganze. Denn der Anschluß wäre auch dann eine deutsche Notwendigkeit, wenn ihn die Oesterreicher nicht wünschten und brauchten.


Autorenangabe: Josef Räuscher

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 25. November 1920, S. 627

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