Die „Nazis“

Vorbemerkung: Häufig wird behauptet, Kurt Tucholsky habe als erster den Begriff „Nazis“ auf die Nationalsozialisten angewendet. Das soll schon 1923 der Fall gewesen sein. Doch bis Ende der 1920er Jahre war auch bei Tucholsky dieser Sprachgebrauch nicht üblich. Dieser bürgerte sich erst mit den Wahlerfolgen der NSDAP ein. Das mit „Nazis“ vorher Deutschösterreicher und Deutschböhmen gemeint waren, zeigt beispielhaft der folgende Text, der im November 1920 in der Weltbühne erschien.

In Nummer 45 der ‚Weltbühne‘ wird dem oesterreichischen Gesandten Ludo Hartmann nachgesagt, er sei ein aufrichtiger und eifriger Verfechter des Anschlußgedankens gewesen, aber auch ein sehr ungeschickter. Er habe die Norddeutschen nicht zu nehmen verstanden und durch seinen Uebereifer viel verdorben. Daran mag manches richtig sein; aber Hartmann wollte ja nicht seine Person aufdrängen und handelte nur als Vertreter einer Politik, die von den Besten Österreichs als die einzige Rettung aus wirtschaftlicher und kultureller Not erkannt wurde. Ferner: als Hartmann seinen ganzen, dem Norddeutschen befremdlichen, Eifer entfaltete, bestand kurze Zeit eine Möglichkeit, den Anschluß durchzuführen, und wenn diese Möglichkeit wirklich nur durch die „Frostigkeit“ der Norddeutschen versäumt wurde, dann war Hartmann der weitsichtigere Politiker. Denn es handelte sich damals um Stunden, und Taktfragen konnten doch nicht entscheidend sein für eine Sache des Reiches; wären sie es gewesen, fiele die Verantwortung auf die „Frostigen“. Man lächle nicht: die Oesterreicher wären nicht mit leeren Händen gekommen. Denn es ging nicht um die Aufnahme eines verelendeten Kleinstaats, dessen Bankerott Großstaatdimensionen erreicht hatte, sondern um die für Deutschlands Wirtschaft nötige gemeinsame Grenze mit Italien und Jugoslawien. Die für Deutschland unendlich wichtigen, also deutschen Verkehrswege nach Süden und Südosten wären die wirksamste Durchbrechung der Isoliermauer gewesen, die man um Deutschland gezogen hat. Das wußte der „aufdringliche“ Oesterreicher Hartmann, dessen schlichter Privatperson gestikulierende Betriebsamkeit immer fern lag.

Vorläufig ist das nun vorbei. Aber in der zitierten Glosse des „Kleinen Welttheaters“ wurde noch hervorgehoben, daß Hartmann übersehen habe, wie sehr man „in ganz Deutschland noch lange nach dem Kriege auf die ‚Nazis‘ erbittert sein wird, ja ihnen vielfach die Hauptschuld an der endgültigen Niederlage zuschiebt“. Da möchte ich, ein Halb-Nazi (meine Mutter stammt aus Thüringen), der auch schon deshalb nicht voreingenommen sein kann, weil er drei Jahre lang in oesterreichischen Schützengräben gesteckt hat, einiges zur Klarstellung beitragen. Wenn man nämlich unter dem „Nazi“ den Deutschoesterreicher und Deutschböhmen versteht, dann ist es eine schwere Ungerechtigkeit, ihn für das Versagen des habsburgischen Bundesgenossen verantwortlich zu machen. Die staunenswerte Unkenntnis der ethnographischen und politischen Struktur des alten Oesterreich, die der deutschen Öffentlichkeit und leider auch der deutschen Führung eignete, die habsburgische Vogelstraußenmethode und das Hazardspiel ungarischer Großagrarier haben dazu geführt, eine Armee und einen Staat als vollwertige Figuren ins politische Spiel zu setzen, die beide versagen mußten. Die „Nazis“ sind daran unschuldig. Sie bildeten ein Fünftel der Bewohner des bunten habsburgischen Freudenhauses und hatten an der Front wie im Hinterland weitaus die größte Last dieses Krieges zu tragen. Angesichts der großsprecherischen und vielfach lügenhaften Propaganda, welche die Magyaren für ihre Truppen getrieben haben, muß festgestellt werden, daß, neben Kroaten und Dalmatinern, die deutschen Truppen Österreichs die einzigen absolut und immer verläßlichen waren. Man hat sie bis zur Vernichtung mißbraucht, während Truppenteile andrer Nationalität geschont und gestreichelt wurden, solange sie nicht gradezu überliefen. Das ist ja das Geheimnis der oesterreichischen Niederlagen: es gab im Ernstfalle nie eine zusammenhängende Front, sondern nur Inseln wirklicher Soldaten inmitten einer zurückweichenden oder zum Feind übergehenden Masse uniformierter Levantiner. Und diese Inseln wurden zum großen Teile immer wieder von „Nazis“ gebildet. Soviel ich weiß, hatte die oesterreichische Armee die relativ höchste Verlustziffer unter allen Armeen des Weltkriegs; innerhalb der oesterreichischem Armee entfiel von den blutigen Verlusten ein grausam hoher Prozentsatz auf die Nazis, während andre Nationalitäten mehr an den Gefangenenziffern beteiligt sind. In trostlosen Situationen, wie sie die deutsche Armee, in sich ziemlich gleichartig und geschlossen, kaum je gekannt hat, haben die Nazis das Menschenmögliche und oft noch mehr getan; und für die Nazi-Truppen gab es fast immer trostlose Situationen: sie mußten überall hinein, wo andre versagt hatten. Als Entgelt hungerte Deutschoesterreich und Deutschböhmen entsetzlich, während czechische und magyarische Agrargebiete immer noch zu leben hatten.

Kennt man in Berlin die Nazis? Ich glaube, man verwechselt sie mit übeln wiener Typen oder rangiert sie ein als Bayern zweiter Güte. Keines von beiden ist richtig. Und eine Schuld am Zusammenbruch tragen weder die armen Nazis, deren Gräber, soweit sie überhaupt welche haben, in Galizien, Polen, Wolhynien, auf den Dolomiten und dem Karst in trauriger Fülle zu sehen sind, noch die weit ärmern, die jetzt aus dem habsburgischen Starrkrampf in die Aussicht eines seelischen und physischen Hungertodes erwachen. Und wenn sie nach all der schlawinischen Sauwirtschaft in ihre Heimat zurückverlangen, aus der sie die Eigensucht einer Dynastie jahrhundertelang herausregiert hat, so verüble man ihnen die Atemlosigkeit ihrer Sehnsucht nicht; sie haben eben nicht mehr viel Atem. Und ehe man ihr Asthma von zweifelhaften Sauerstoffapparaten der Entente kurieren läßt, nehme man lieber einige ungewohnt südliche Manieren in Kauf und gehe aufs Ganze. Denn der Anschluß wäre auch dann eine deutsche Notwendigkeit, wenn ihn die Oesterreicher nicht wünschten und brauchten.


Autorenangabe: Josef Räuscher

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 25. November 1920, S. 627

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1.1.2004

Die „Nazis“

Vorbemerkung: Häufig wird behauptet, Kurt Tucholsky habe als erster den Begriff „Nazis“ auf die Nationalsozialisten angewendet. Das soll schon 1923 der Fall gewesen sein. Doch bis Ende der 1920er Jahre war auch bei Tucholsky dieser Sprachgebrauch nicht üblich. Dieser bürgerte sich erst mit den Wahlerfolgen der NSDAP ein. Das mit „Nazis“ vorher Deutschösterreicher und Deutschböhmen gemeint waren, zeigt beispielhaft der folgende Text, der im November 1920 in der Weltbühne erschien.

In Nummer 45 der ‚Weltbühne‘ wird dem oesterreichischen Gesandten Ludo Hartmann nachgesagt, er sei ein aufrichtiger und eifriger Verfechter des Anschlußgedankens gewesen, aber auch ein sehr ungeschickter. Er habe die Norddeutschen nicht zu nehmen verstanden und durch seinen Uebereifer viel verdorben. Daran mag manches richtig sein; aber Hartmann wollte ja nicht seine Person aufdrängen und handelte nur als Vertreter einer Politik, die von den Besten Österreichs als die einzige Rettung aus wirtschaftlicher und kultureller Not erkannt wurde. Ferner: als Hartmann seinen ganzen, dem Norddeutschen befremdlichen, Eifer entfaltete, bestand kurze Zeit eine Möglichkeit, den Anschluß durchzuführen, und wenn diese Möglichkeit wirklich nur durch die „Frostigkeit“ der Norddeutschen versäumt wurde, dann war Hartmann der weitsichtigere Politiker. Denn es handelte sich damals um Stunden, und Taktfragen konnten doch nicht entscheidend sein für eine Sache des Reiches; wären sie es gewesen, fiele die Verantwortung auf die „Frostigen“. Man lächle nicht: die Oesterreicher wären nicht mit leeren Händen gekommen. Denn es ging nicht um die Aufnahme eines verelendeten Kleinstaats, dessen Bankerott Großstaatdimensionen erreicht hatte, sondern um die für Deutschlands Wirtschaft nötige gemeinsame Grenze mit Italien und Jugoslawien. Die für Deutschland unendlich wichtigen, also deutschen Verkehrswege nach Süden und Südosten wären die wirksamste Durchbrechung der Isoliermauer gewesen, die man um Deutschland gezogen hat. Das wußte der „aufdringliche“ Oesterreicher Hartmann, dessen schlichter Privatperson gestikulierende Betriebsamkeit immer fern lag.

Vorläufig ist das nun vorbei. Aber in der zitierten Glosse des „Kleinen Welttheaters“ wurde noch hervorgehoben, daß Hartmann übersehen habe, wie sehr man „in ganz Deutschland noch lange nach dem Kriege auf die ‚Nazis‘ erbittert sein wird, ja ihnen vielfach die Hauptschuld an der endgültigen Niederlage zuschiebt“. Da möchte ich, ein Halb-Nazi (meine Mutter stammt aus Thüringen), der auch schon deshalb nicht voreingenommen sein kann, weil er drei Jahre lang in oesterreichischen Schützengräben gesteckt hat, einiges zur Klarstellung beitragen. Wenn man nämlich unter dem „Nazi“ den Deutschoesterreicher und Deutschböhmen versteht, dann ist es eine schwere Ungerechtigkeit, ihn für das Versagen des habsburgischen Bundesgenossen verantwortlich zu machen. Die staunenswerte Unkenntnis der ethnographischen und politischen Struktur des alten Oesterreich, die der deutschen Öffentlichkeit und leider auch der deutschen Führung eignete, die habsburgische Vogelstraußenmethode und das Hazardspiel ungarischer Großagrarier haben dazu geführt, eine Armee und einen Staat als vollwertige Figuren ins politische Spiel zu setzen, die beide versagen mußten. Die „Nazis“ sind daran unschuldig. Sie bildeten ein Fünftel der Bewohner des bunten habsburgischen Freudenhauses und hatten an der Front wie im Hinterland weitaus die größte Last dieses Krieges zu tragen. Angesichts der großsprecherischen und vielfach lügenhaften Propaganda, welche die Magyaren für ihre Truppen getrieben haben, muß festgestellt werden, daß, neben Kroaten und Dalmatinern, die deutschen Truppen Österreichs die einzigen absolut und immer verläßlichen waren. Man hat sie bis zur Vernichtung mißbraucht, während Truppenteile andrer Nationalität geschont und gestreichelt wurden, solange sie nicht gradezu überliefen. Das ist ja das Geheimnis der oesterreichischen Niederlagen: es gab im Ernstfalle nie eine zusammenhängende Front, sondern nur Inseln wirklicher Soldaten inmitten einer zurückweichenden oder zum Feind übergehenden Masse uniformierter Levantiner. Und diese Inseln wurden zum großen Teile immer wieder von „Nazis“ gebildet. Soviel ich weiß, hatte die oesterreichische Armee die relativ höchste Verlustziffer unter allen Armeen des Weltkriegs; innerhalb der oesterreichischem Armee entfiel von den blutigen Verlusten ein grausam hoher Prozentsatz auf die Nazis, während andre Nationalitäten mehr an den Gefangenenziffern beteiligt sind. In trostlosen Situationen, wie sie die deutsche Armee, in sich ziemlich gleichartig und geschlossen, kaum je gekannt hat, haben die Nazis das Menschenmögliche und oft noch mehr getan; und für die Nazi-Truppen gab es fast immer trostlose Situationen: sie mußten überall hinein, wo andre versagt hatten. Als Entgelt hungerte Deutschoesterreich und Deutschböhmen entsetzlich, während czechische und magyarische Agrargebiete immer noch zu leben hatten.

Kennt man in Berlin die Nazis? Ich glaube, man verwechselt sie mit übeln wiener Typen oder rangiert sie ein als Bayern zweiter Güte. Keines von beiden ist richtig. Und eine Schuld am Zusammenbruch tragen weder die armen Nazis, deren Gräber, soweit sie überhaupt welche haben, in Galizien, Polen, Wolhynien, auf den Dolomiten und dem Karst in trauriger Fülle zu sehen sind, noch die weit ärmern, die jetzt aus dem habsburgischen Starrkrampf in die Aussicht eines seelischen und physischen Hungertodes erwachen. Und wenn sie nach all der schlawinischen Sauwirtschaft in ihre Heimat zurückverlangen, aus der sie die Eigensucht einer Dynastie jahrhundertelang herausregiert hat, so verüble man ihnen die Atemlosigkeit ihrer Sehnsucht nicht; sie haben eben nicht mehr viel Atem. Und ehe man ihr Asthma von zweifelhaften Sauerstoffapparaten der Entente kurieren läßt, nehme man lieber einige ungewohnt südliche Manieren in Kauf und gehe aufs Ganze. Denn der Anschluß wäre auch dann eine deutsche Notwendigkeit, wenn ihn die Oesterreicher nicht wünschten und brauchten.


Autorenangabe: Josef Räuscher

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 25. November 1920, S. 627

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