25.2.2007

Vom Klappern und Schmieren

Eines lässt sich von den Briefen, die in den jüngst erschienenen Band 18 der Tucholsky-Gesamtausgabe aufgenommen wurden, sicherlich nicht behaupten: Dass sie ihren Verfasser in den Jahren 1925 bis 1927 in einem besonders schmeichelhaften Licht erscheinen ließen. Dies gilt vor allem für die Jahre 1926 und 1927, in denen es Tucholsky in den zahlreichen Schreiben an seine zweite Frau Mary Gerold meist um zwei Dinge ging: das liebe Geld und die perfekte Wohnung. Vor allem nach dem Tode Siegfried Jacobsohns im Dezember 1926 und dem erzwungenen Wechsel von Paris nach Berlin gerieten die Briefe häufig zu einem einzigen Lamento: Berlin ist „widerwärtig“, Edith Jacobsohn „völlig untüchtig“, Carl von Ossietzky „schlapp“ und „mir ist hundesauelend zu Mute, und ich weiß gar nicht mehr weiter“.

Doch diese Larmoyanz, die nach dem Tode seines Mentors und Freundes Jacobsohn noch verständlich erscheint, klingt bereits in den Briefen des Jahres 1926 sehr stark an. Dabei schien Tucholsky mit dem Wechsel von Berlin nach Paris im Frühjahr 1924 endlich wieder durchatmen und sich „vom Vaterlande ausruhen“ zu können. Von dem Elan war 1925 noch einiges zu spüren. Tucholsky korrespondierte eifrig mit Jacobsohn über die Entwicklung einer Monatsschrift, mit dem in London wohnenden Ehepaar Neven-Dumont tauschte er sich häufiger über das Leben im Ausland aus und in mehreren Schreiben suchte er den Kontakt zur französischen Freimaurerlogen. Bezeichnend für sein Verhältnis zu Mary Gerold wohl das kurze Schreiben vom 3. Januar 1925: „Der Nase geht es fil besser – er ist guter Laune und kann das Mätzchen schön leiden –!“.

Davon konnte wohl spätestens seit der zweimonatigen Pyrenäenreise im Herbst 1925 nicht mehr die Rede sein. Als Faksimile findet sich eine Reisekarte in dem Briefband abgedruckt, auf der Tucholsky die Orte markiert hat, in denen seine Frau „beese“ und „sehr beese“ war. Es waren einige Dutzend. „Nie war ich unglücklicher, zerrissener, ungeklärter und mehr durcheinander, als damals, als ich das ›Pyrenäenbuch‹ schrieb“, erinnerte er sich 1931.

Die Unzufriedenheit mit seiner beruflichen Situation nahm dagegen im Sommer 1926 merklich zu. Schuld daran war vor allem die Revue für Max Pallenberg und Fritzi Massary, die Tucholsky zusammen mit Alfred Polgar erstellen sollte. Da Polgar wochenlang kein Material lieferte, war Tucholsky recht bald von dem Scheitern des Projektes überzeugt, bangte um seine 5000 Mark Honorar. Die beiden Schriftsteller entwickelten zusammen mit den Schauspielern im bayerischen Garmisch dann doch noch eine komplette Revue. Sie wurde nie aufgeführt. In einem Brief an Mary Gerold schrieb er aus Garmisch: „Es geht mit mir jetzt nicht mehr so weiter. Ich will jetzt auf neu.“

Zu diesem Neuanfang sollte auch eine andere Wohnung gehören, die Mary in Abwesenheit Tucholskys monatelang suchte und wozu sie in den Briefen dezidierte Anweisungen erhielt. Im Oktober 1926 zogen beide dann tatsächlich in das rund 60 Kilometer von Paris entfernte Fontainebleau, wo Tucholsky einen ehemaligen Kardinalssitz bezog, dessen Finanzierung ihm noch reichlich Sorgen bereiten sollte. Denn am 3. Dezember starb völlig unerwartet Siegfried Jacobsohn und Tucholsky musste sofort nach Berlin zurückkehren, um zumindest vorübergehend die Leitung der „Weltbühne“ zu übernehmen.

Dass es ihm in Berlin nicht besonders gefallen würde, war von Vornherein abzusehen gewesen. „Mir bekommt die Stadt nicht, alle meine schlechten Eigenschaften entfalten sich in ihr“, schrieb er Anfang Januar an Mary. Tucholsky lamentierte und haderte in den folgenden Monaten mit seinem Schicksal, wog ängstlich Vor- und Nachteile einer Leitung der „Weltbühne“ ab.

Wenn Du mir bloß einen Rat geben könntest –! Für Berlin: Sicherheit der Position. Stärke der Position – man gewährt und erbittet nichts, das äußert sich auch nach außen. Mögliche Erhaltung der Publikationsmöglichkeit. Gegen Berlin: Alles zerflattert einem unter den Fingern. Ungesammelt. Gefahr, daß die Produktion nachläßt, wegen nicht guter Laune und Mangel an Konzentration. Was soll ich tun?

fragte er Anfang Februar seine Frau. Weniger Selbstzweifel beschlichen ihn hingegen, wenn er auf seine Honorarforderungen zu sprechen kam. Insgesamt versuchte Tucholsky, auf monatliche Einnahmen von 2000 Reichsmark zu kommen, was ihm in diesen Jahren auch gelang. Zum Vergleich: ein Arbeiter verdiente 1927 durchschnittlich 2500 Mark im Jahr (M. Hepp). Wenig Rücksicht nahm er dabei auch auf die Situation von Jacobsohns Witwe Edith:

Es hat keinen Zweck, der Frau alles in den Rachen zu werfen und jeden Hundertmarkschein, den sie spart oder der einkommt, ihr zu lassen und sich vielleicht dann gnadenhalber einen schenken zu lassen. So geht es nicht, und so will ich es nicht. Ich werde sehr hart kämpfen.

Schon in den ersten Monaten des Jahres 1927 führte Tucholsky dabei eine Art Doppelleben. Ende Januar hatte er auf einem Ball die Berlinerin Lisa Matthias kennengelernt, die schnell zu seiner Geliebten wurde. Davon ist in den Briefen jedoch noch nichts zu merken. „Ich nehme mir fast gar nichts mehr vor“, schrieb er Anfang März an Mary Gerold, während Matthias zur selben Zeit in ihrem Tagebuch notierte: „Meine Liaison mit Tucholsky besteht noch und wird wohl noch weitere vier Wochen dauern. Es ist eine richtige Ehe geworden, allerdings ‚auf Abruf'“. Dieser „Abruf“ kam zunächst im Mai 1927, als Tucholsky die Leitung der „Weltbühne“ an Carl von Ossietzky übergab und nach Dänemark fuhr, wo er den Auswahlband Mit 5 PS für den Rowohlt-Verlag vorbereitete. Aus dieser Zeit stammt auch die Einschätzung, die Tucholsky zu seinem Verhältnis zu Jacobsohn abgab:

Ich fühle deutlich, daß mir der Mann nicht ersetzlich ist. Das hat nun gar nichts mit Überschätzung zu tun –: es ist das ein rein persönliches Verhältnis gewesen, das sehr stark an Vater und Kind erinnert, und ich glorificiere nicht nachträglich – ich merke nur mit jedem Tag, was allein seine Existenz für mich bedeutet hat. Welchen Wert und welche Bedeutung die objektiv für andere gehabt hat, ist eine andere Sache“

schrieb er im Juni an Maximilian Harden.

Während dieser Wochen wurde ihm außerdem klar, dass er lieber längerfristige schriftstellerische Projekte angehen wollte, als ständig für die verschiedenen Zeitungen zu „schmieren“ und mit seiner Schreibmaschine zu „klappern“.

Sonst ist hier tiefe Depression, während der aber gearbeitet wird. Ich glaube, es ist wirklich alles falsch. Wozu mache ich lauter Dinge, die ich gar nicht meeg? Ich sehe hier wieder, wenn man mich nur in Frieden läßt, daß es ganz gut geht. Es ist diesmal dichterisch nichts Besondres, weil mir das Buch zu viel Arbeit macht – aber so, alles. Wenn ich so daran denke, was für eine unendliche Zeit ich in Paris verwandt habe – wofür eigentlich? Für Dienst? Was soll das alles? Hat das irgend einen Sinn? Kommt man so auch nur um eine Spur weiter? Mit den Teppichleuten kann ich doch nicht konkurrieren – aber mit mir selber schon. Wenn man so ganz still leben könnte, damit man mal in Ruhe eine Sache durcharbeitet, sich wirklich mit der beschäftigt und nicht immerzu schmieren müßte

heißt es in einem Brief an Mary, die zu dieser Zeit selbst auf Reisen war. Und noch expliziter im Juli 1927:

Es ist Wahnsinn, was ich treibe. (…) Wenn ich nun noch die Berliner Post nicht hätte und nicht gezwungen wäre, immer und immerzu zu klappern – dann wächst es langsam. Es klingt ja nie etwas aus – so kann ja nichts zustande kommen. (…) Der Aufwand, den ich so treibe –: mit Leuten, mit Post, mit Betrieb – ist völlig wahnsinnig. Es ist genau umgekehrt, wie Graetz es sagt. Ich habe immer noch aus der stillen Ecke her die Dinge so gesehen, daß die Leute gesagt haben: woher wissen Sie es? Ich weiß es gar nicht. Ich denke es mir aus. Folgerung: Ich muß und ich will mich umstellen.

Diese Umstellung sollte Tucholsky jedoch nicht gelingen. Weder privat, indem er seine Ehe mit Mary retten konnte, noch beruflich, indem er vom Journalisten zum reinen Schriftsteller wurde. Abwechslung von den inneren Kämpfen boten Begegnungen mit seinen Kriegsfreunden Karlchen und Jakopp. Die berühmte Spessartwanderung gefiel Tucholsky offenbar außerordentlich. „Es ist sehr schön“, hieß es in fast jedem Schreiben nach Paris. In Würzburg sprach er sich außerdem mit Ossietzky aus und traf sich mit – Lisa Matthias.

Zwei Briefe an Matthias bilden gewissermaßen auch den Abschluss des Bandes. Darin gesteht er ihr sehr zunächst deutlich seine Zuneigung:

Gedenfalls war es Mamma und Freindin und Kamerad in einem, und ich habe, wenn ich auch ein paar Mal mehr, als nötig war, das Maul gehalten habe, eine mächtige Sehnsucht. Und ich habe viel weniger Talent zum Doppelleben, als Du denkst, weil ich Dich wirklich gern habe, und ich falle dann immer gleich schräg nach vorn – «ein gefühllos Herz, ist ein kostbar Gut – auf der wankenden Erde» – und ich kann das gar nicht. Und ich habe Dich mächtig lieb, und mir tut verschiedenes sehr leid.

Im nächsten Brief macht er aber klar, dass er seine Ehe mit Mary noch nicht komplett aufs Spiel setzen wollte:

Fahre ich nach Lugano, was immerhin möglich ist, so fürchte ich hier manches, es liegt zur Zeit das Schiff etwas schief, und da soll man nicht wackeln. Lottchen, ich weiß alles: daß Du mich nicht heiraten willst, und daß wir beide nur nett sind, wenn wir uns sporadisch sehen – mit klarerem Sinn ward nie ein Weib gefreit.

In diesem Brief findet sich auch das Eingeständnis Tucholskys, dass es Tage gibt, „wo ich nicht schreiben könnte, ohne zu lügen“. Warum Fritz J. Raddatz einer Briefauswahl den abgewandelten Titel „Ich kann nicht schreiben, ohne zu lügen“ gegeben hat, wird wohl immer sein Geheimnis bleiben. So unschmeichelhaft muss man Tucholsky nun wirklich nicht darstellen.

9.2.2007

Nichts Passendes eingefallen

Im inzwischen abgeschlossenen Streit um die Ehrenbürgerschaft Wolf Biermanns in Berlin hat sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit den bisher in dieser Form gewürdigten Menschen befasst. Eine schöne Fleißarbeit. Das wenig überraschende Fazit das Artikels „Sie sind ein Berliner!“ lautet dabei, dass sich die Träger dieser Würde recht gut nach Parteien aufschlüsseln lassen. Zum Schluss seines Textes kommt Autor Martin Otto noch auf den Vorschlag zu sprechen, verstorbenen Literaten anstelle Biermanns die Ehrenbürgerwürde zukommen zu lassen. Was ihm offenbar überhaupt nicht behagte:

Der besonders abstoßende Versuch, die postume Verleihung der Ehrenbürgerschaft für die Tagespolitik zu instrumentalisieren, also ein Handel mit toten Seelen, der allenfalls in der – dort aber theologisch begründeten Totentaufe der Mormomen eine Parallele findet, geriet in der Biermann-Debatte wieder in den Bereich des Denkmöglichen. Einige SPD-Hinterbänkler wollten Biermann gemeinsam mit Brecht und Tucholsky auszeichnen. Insbesondere Letzterem wäre zu seiner postumen Würdigung, noch dazu auf Betreiben seiner geliebten „Radieschenpartei“ SPD, sicher etwas Passendes eingefallen. Dass Wowereit dieses Schauspiel verhindert hat, ist ihm immerhin anzurechnen.
Martin Otto: „Sie sind ein Berliner!“, FAZ vom 8.2.2007

Otto wirft dabei einiges durcheinander. Zunächst war es doch wohl die CDU, die wieder einmal die Verleihung einer Ehrenbürgerschaft tagespolitisch instrumentalisieren wollte. Die Idee des SPD-Fraktionsvorstands, – aus dem bei Otto Hinterbänkler werden -, lag dagegen darin, diese tagespolitische Debatte mit der Würdigung verstorbener Literaten zu beenden. In einem theologischen Zusammenhang von „toten Seelen“ zu sprechen, ist eines Feuilletons wie dem der „FAZ“ eigentlich unwürdig. Das gilt auch für die Formulierung, wonach ein Versuch in „den Bereich des Denkmöglichen“ geraten kann. Und was der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit in dieser Causa noch bestimmen konnte, nachdem seine Fraktion mit großer Mehrheit für Biermann plädiert hatte, sollte ihm nicht nachträglich noch als Verdienst angerechnet werden. Denn das lag fast schon im Bereich des Denkunmöglichen.

22.1.2007

Ein bisschen Kritik

Es dürfte schwer zu beurteilen sein, inwieweit folgende Einschätzung des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki seinen Berufsweg beeinflusst hat. Denn das Interessante an ihr ist vor allem, dass sie in mehrfacher Hinsicht ziemlich falsch ist. In einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ bemerkte Reich-Ranicki zur Wahl seines Berufes etwas kokett:

Ich wollte gar nicht so sehr Literaturkritiker sein. Das hing wohl damit zusammen, dass die Rolle der Theaterkritiker im öffentlichen Leben in Berlin in den späten Jahren der Weimarer Republik enorm war: Kerr und Polgar, Siegfried Jacobsohn und Kurt Tucholsky – die hatten einen riesigen Einfluss auf das öffentliche Leben.

Dass die Theaterkritiker gegen Ende der Weimarer Republik tatsächlich noch einen großen Einfluss auf das öffentliche Leben hatten, darf zunächst bezweifelt werden. Schließlich war der Film damals schon das wichtigere Medium. Für die Alfrede Kerr und Polgar trifft wenigstens zu, dass sie in dieser Zeit Theaterkritiker waren. Für Jacobsohn gilt dies auf keinen Fall, denn er war in den letzten sechs Jahren der Weimarer Republik schon tot. Selbst in deren ersten acht Jahren hatte er sich kaum noch als Kritiker betätigt, weil er die Lust am Theater ziemlich verloren hatte und ihn seine Arbeit als Redakteur sehr stark in Anspruch nahm.

Aber auch Tucholsky schrieb nach seinem Wechsel nach Paris im Frühjahr 1924 kaum noch Theaterkritiken. Was machte er statt dessen? In seiner Rubrik „Auf dem Nachttisch“ besprach er hunderte von Büchern. Und auf diese Weise schien er nicht ganz ohne Einfluss gewesen zu sein. Denn wie versicherte er 1931 in einem Artikel über die Schwierigkeiten der Buchkritik:

Seit ich mich bemühe, eine bunte und möglichst lehrreiche Buchkritik zu machen, ist mein erstes Bestreben dies gewesen: nicht das Literaturpäpstlein zu spielen. Das kann es nicht geben, und das soll es auch nicht geben.
Peter Panter: „Die Aussortierten“, in: Die Weltbühne, 13.1.1931, Nr. 2, S. 58

Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

9.1.2007

„Rauchlos helle Flamme“ leuchtet im Netz

Was Tucholsky im vergangenen Jahr betraf, hat nun auch Karl Kraus ereilt: 70 Jahre nach seinem Todestag ist das Werk vom Beginn des Folgejahres an nicht mehr urheberrechtlich geschützt. Was in Krausens Fall aber die Folge hat, dass sein Werk, im Wesentlichen die Zeitschrift Die Fackel, nun komplett online nachzulesen ist. Unter der Adresse www.aac.ac.at/fackel/ lässt sich nach einer kostenlosen Registrierung bequem in sämtlichen Ausgaben der Zeitschrift recherchieren.

Dabei stößt man natürlich sehr einfach auf 42 Stellen, in denen in der Fackel, die er 1920 als „rauchlos helle Flamme“ bezeichnet hatte, der Name Tucholsky genannt wird. Die auffällige Häufung der Namensnennungen in den Jahren 1925 und nach 1930 lässt sich einfach erklären. 1925 steckte ein Plagiats-Vorwurf dahinter, den Tucholsky in der Weltbühne gegenüber dem Kraus-Adepten Heinrich Fischer gemacht hatte. Darin hieß es:

Das geht bis an die letzte erlaubte Grenze. Es ist fast nicht zu glauben, daß Heinrich Fischer den Bauerndichter Christian Wagner nicht kennt; und wenn er ihn kennt, darf er das nicht tun. Die Technik, die Worte, die Reimart, diese seltsame Anwendung des Partizipium Perfekti Passivi – Alles, Alles von da.

Kraus verlangte „Satisfaktion“, Tucholsky sollte bei einem Treffen in Paris Abbitte leisten. Doch dieser verzichtete nach anfänglichem Wunsch darauf, den Wiener nach einem von dessen Vorträgen in Paris zu treffen. Den Grund teilte er Weltbühne-Herausgeber Siegfried Jacobsohn mit:

Dieser Mann ist komplett meschugge. Da er im Privatleben keinen Humor hat, und es ganz ausgeschlossen ist, mit ihm über diese Nichtigkeit so zu reden, wie die Sache sie verdient, wäre er im Stande mich zu brüskieren. Das wäre mir an sich gleichgültig, aber erstens paßt mir das vor Mehring nicht und zweitens nicht vor Franzosen. (…) Wenn er uns in der nächsten Nummer der ›Fackel‹ schlachtet, so ist das seine Sache, und was Du darauf tust, ist Deine. Ich werde wohl nur antworten, wenn er ausgesprochene Verleumdungen in die Welt losläßt, der Rest ist mir wurst.

Die „Abschlachtung“ folgte tatsächlich. Kraus widmete sich in der Fackel Nr. 686–690 vom Mai 1925 auf 15 Seiten dem „Fall Jacobsohn“ und erläuterte dabei aus seiner Sicht, warum es in Paris nicht zu dem Treffen gekommen war:

Ich hätte gegen dessen persönliche Abstattung, also gegen den Verkehr mit Herrn Wrobel nichts einzuwenden gehabt, ließ aber Herrn Tucholsky sagen, daß er, um jenem den Zutritt zu verschaffen, vorerst die Aufklärung schuldig sei, wie seine Ansicht von einem Plagiat Fischers an Wagner, über deren Berechtigung und Ernsthaftigkeit ich mit ihm nicht sprechen wolle, eine Publizität erlangt habe, deren Verwalter doch vor solcher Materie einen alten Schmerz verbeißen mußte, um neue Freude zu erleben. Ohne diese Rechtfertigung, ohne die Zusage einer öffentlichen Zurückziehung des Vorwurfs, ohne die öffentliche Erklärung, daß ein Privatbrief mißbraucht worden sei, oder das private Bedauern über die Bedienung der Ranküne des Herausgebers, kurz ohne zureichende Bereinigung einer so unsaubern Angelegenheit sei ein Verkehr nicht denkbar.

Tucholsky verzichtete auf eine Replik dieser Darstellung, wagte es aber, 1929 zu schreiben:

Der erste Theaterabend fand mittags statt: in der berliner Volksbühne haben sie die ›Unüberwindlichen‹ von Karl Kraus gegeben. Als die Wogen des Beifalls durch das Theater rollten, trat Kraus vor die Gardine und dankte. Er täuschte sich nicht: er hat kein Publikum erobert. Er hat ein erobertes Publikum erobert.

Damit schien er sich jegliche Restsympathie bei Kraus verspielt zu haben. In den Folgejahren störte es Kraus offenbar am meisten, dass man in ihm quasi die Wiener Ausgabe eines Tucholsky sah und beide häufig in ein Boot steckte. Um diesen Eindruck zu zerstören, ließ kaum eine Gelegenheit aus, Tucholskys journalistisches „Vorstrafenregister“ zu zitieren:

Wie der Herr Tucholsky (trotz Kriegsanleihelyrik, schlesischer Tätigkeit und Verulkung Rosa Luxemburgs eine Fahne revolutionären Geistes und unter allen Umständen ein flotter Bursche) in Deutschland stets mit mir zusammengespannt wird (…)

Um Letzteres zu verhindern, griff Kraus schließlich zu radikalen Mitteln:

Einer Mitteilung der Berliner Funkstunde entnehmen wir, daß Sie im Rahmen einer Feierstunde am 15. März das Gedicht »Zum ewigen Frieden« von Karl Kraus zum Vortrag bringen ließen. Mit dem besten Dank für Ihre freundliche Absicht bitten wir, uns in etwaigen künftigen Fällen das Programm rechtzeitig bekanntgeben zu wollen, da der Autor es ablehnt, in einem solchen zum Beispiel mit Herrn Kurt Tucholsky, der ihm als feuilletonistischer Mitarbeiter der bürgerlichen Presse, Verfasser eines Werbegedichts für eine Kriegsanleihe und auch sonst bekannt ist, zu figurieren, und mit ihm keine Feierstunde zu begehen wünscht.

Diese Anschuldigungen wiederholten sich bis 1934, wobei Tucholsky in einem Brief an Carl von Ossietzky im März 1932 klarstellte:

Karl Kraus. Nach dem letzten, etwa 150. Angriff dies:
Der Mann kann gegen mich schreiben, was er lustig ist. Was ich ihm übel nehme ist, daß er genau das macht, was er den großen Zeitungen vorwirft, mit denen er ja – sonst greift man auch nicht dreißig Jahre lang an – solche Ähnlichkeit hat: er lügt durch Verschweigen. Liest man das da in der Fackel, dann glaubt man, ich heiße Auernheimer. Also gut – glauben Sie ja nicht, daß ich etwas unternehmen will. Jedennoch:
Wir wollen – außer Hiller – keinem mehr erlauben, ihn bei uns zu loben. Soweit kanns nun nicht gehn. Ich bitte also formell und feierlich, jedes Lob auf Kraus rücksichtslos zu streichen, und zwar durchaus mit Berufung auf seine Haltung gegen uns, S.J. und die WB. Zitate würde ich nicht streichen – dagegen aufpassen, daß sie wörtlich sind. Damit wir nicht eine dieser albernen Berichtigungen auf den Hals bekommen.

1933 landeten Tucholskys Schriften bei den Bücherverbrennungen der deutschen Studenten im Feuer. Doch selbst diese Situation ließ Kraus nicht solidarisch werden. Statt dessen schrieb er in „Die dritte Walpurgisnacht“, dass er „nicht um einen Nobelpreis mit dem Tucholsky auf einem Scheiterhaufen brennen“ wolle.

Tucholskys letzte Äußerung zu Kraus stammt wenige Wochen vor seinem Tod. Am 9. November 1935 schrieb er:

Wer von jedem Mausdreck im Alltag das äußerste fordert, der endet gewöhnlich nachher im dicksten Kompromiß. Wie z.B. der selige Karl Kraus. Es hat keinen Wert, dauernd der Welt das Neue Testament auf den Kopf zu schlagen – wir wissen ja, daß das ein unangenehmes Geräusch gibt. Aber über die Köpfe hinweg muß mans ab und zu sagen: Selbstzufriedenheit ist eines der wenigen Laster, die es gibt.

3.1.2007

Reich, aber narzisstisch

Bei der Rezension eines Tucholsky-Abends lässt sich in der Regel schwer beurteilen, welche Behauptungen über Tucholsky auf dem Dung des Vortragenden oder der Recherche des Journalisten gewachsen sind. Unfreiwillig komisch wirken auf jeden Fall die begeisterten Passagen, die Sabine Henrichs in der Frankfurter Neuen Presse über ein Tucholsky-Programm los wird. In „Tucholsky als Selbstdarsteller in Perfektion“ berichtet sie über einen Abend mit Oliver Steller und gibt ihr frisch erworbenes Wissen zum Besten:

Seine gute Beobachtungsgabe hatte Tucholsky, der am 9. Januar 1890 geboren wurde, bereits mit seiner ersten Erzählung „Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte“ unter Beweis gestellt. Diese wurde über 120 000 Mal verkauft und ließ den Schriftsteller noch ein wenig reicher werden.

Die Betonung sollte dabei auf „wenig“ liegen. Sehr stark sogar. Denn wie schrieb Tucholsky rückblickend über den finanziellen Erfolg seines Buches:

Ich zeigte damals meinen Vertrag, den ersten, den ich in meinem Leben gemacht hatte, dem damaligen Vorsitzenden des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller. Der weinte eine halbe Stunde vor Freude und streichelte mir dann leise den Kopf. Ich weiß bis heute nicht, was er damit hat sagen wollen.
Kurt Tucholsky: „Rheinsberg“, in: Die Weltbühne, 8.12.1921, S. 579

Was Tucholsky damit meinte: Er hatte die Rechte für einen einmaligen Betrag an den Verleger Alex Juncker abgetreten und war somit an dem finanziellen Erfolg des Buches überhaupt nicht beteiligt.

Auch eine weitere Passage der Rezension liest sich sehr schön:

Immerhin hatte er mit 21 Jahren das Erbe seines sechs Jahre zuvor verstorbenen Vaters in Höhe von heute rund 400 000 Euro angetreten. Doch auch dieses Geld hatte sich irgendwann verflüchtigt und so arbeitete Tucholsky als Privatsekretär in einer großen Bank, wie Steller mit dem Tango „Ich bring’s zu nichts“ erzählte.

Diese „Verflüchtigung des Geldes“ wird häufig auch Inflation genannt, und nach dem Ersten Weltkrieg war Tucholsky sicherlich nicht der einzige in Deutschland, der davon betroffen war. Seine Abkehr vom Journalismus hatte aber auch damit zu tun, dass er 1922/1923 unter schweren Depressionen litt und keinen Sinn mehr im Schreiben erkannte. Es gibt daher auch durchaus andere Gründe als reinen Narzissmus, wenn man sich über den Sinn des Lebens Gedanken macht. Nicht so bei Henrichs:

So war Tucholsky überaus selbstverliebt. Das wurde nicht nur deutlich, als er sich über den Tod Gedanken machte und sich fragte, ob er nicht nur sich selbst, sondern auch anderen fehlen würde, wenn er gestorben sei.

In diesem Fall gehört wohl auch eine gewisse Selbstironie dazu.

29.12.2006

Sauberer Literat

Wäre es Tucholsky im Exil besser ergangen, wenn er einen guten Schutzengel gehabt hätte? Eine solche Funktion für Emigranten hatte der Schriftsteller Hermann Kesten, dem die Welt aus Anlass zweier neu aufgelegter Werke den Artikel „Schutzengel der Exilanten“ widmet.

Zwischen Kesten und Tucholsky gab es während des Exils jedoch keine Verbindungen, was auch damit zusammenhängen dürfte, dass Tucholsky schon seit Anfang der 1930er Jahre recht sicher in Schweden lebte und nur über eine Zürcher Deckadresse erreichbar war. Und als Kesten sich vom amerikanischen Exil aus für seine Schriftstellerkollegen in Europa einsetzte, war Tucholsky schon seit mehreren Jahren tot.

Dennoch taucht ein Porträt Tucholskys in der neu erschienenen Textsammlung Kestens „Meine Freunde, die Poeten“ auf. Darin heißt es, wie die Welt zitiert, über Tucholsky:

Er ist überhaupt ein Ängstlicher, aber von der Sorte, die aus lauter Furcht attackiert und im Angriff immer mutiger wird. Er war ein deutscher Patriot von der echten Sorte. Man erkennt diese am Lachen. Denn die falschen Patrioten sind feierliche Esel oder pathetische Mörder.

Wobei es einen Ausweis an gehobener Dialektik darstellt, Tucholsky, der sich im Patriotismus „von jedem übertreffen“ lassen wollte, deswegen als „echten“ deutschen Patrioten zu bezeichnen.

Kesten taucht in Tucholskys Werk dagegen nur am Rande auf, bei der Besprechung des vom damaligen Lektor des Kiepenheuer-Verlages herausgegebenen Auswahlbandes „24 neue deutsche Erzähler“:

Hm … Vielleicht wäre es gut, dieser sehr sauber gearbeiteten Anthologie den Untertitel «Stufen» zu geben. Es ist, wie wenn sich diese Autoren entsagungsvoll zu Boden geworfen hätten, damit ihre Leiber Stufen für jene bilden mögen, die da aufwärts schreiten sollen zum Parnaß. Nach ihnen. Es stehen sehr hübsche Geschichten in dem Band, es ist beinah alles gut und schön – aber ich werde das bestimmt nicht zum zweiten Mal lesen, und das ist ja eigentlich der wahre Wertmesser eines Buches.
Peter Panter: „Auf dem Nachttisch“, in: Die Weltbühne, 22.4.1930

Besonders echauffiert sich Tucholsky über die Erzählung eines damals noch recht unbekannten Schriftstellers, der sich an der Schilderung des Angestellten-Milieus versuchte:

Guter Mann, das ist gewiß sehr höhnisch gemeint. Doch der Hohn geht daneben.

Die Verbindung zwischen Tucholsky und Kesten endete jedoch nicht mit Tucholskys Tod. Kesten schrieb das Nachwort zur Autobiographie von Lisa Matthias, Tucholskys Geliebter von 1927 bis 1931 und realem Vorbild des „Lottchens“. Kestens damalige Feststellung über das Buch, die so gar nicht den Verrissen seiner Feuilleton-Kollegen entsprach, besitzt heute noch Gültigkeit:

Um die ganze Kunst von Tucholsky zu begreifen, braucht man diese Autobiographie Lottchens, samt den Urtypen, einem halben oder ganzen Dutzend Wendriners. Wer über Tucholsky schreiben will, wer ihn kennen lernen will, kann diese Autobiographie Lottchens gar nicht mehr entbehren, obgleich sie freilich ein parteiischer Bericht ist, ein subjektiv verzerrter Spiegel, und – bei aller unzweifelhaften schriftstellerischen Begabung der Autorin, bei all ihrem Mutterwitz, ihrer psychologischen Einsicht, ihrem Talent, Situationen, Menschen und Zeitläufe zu beschreiben – in keiner Hinsicht dem geliebten und zuweilen mit Liebeshaß umgangenen Gegenstand und Modell, Kurt Tucholsky, ebenbürtig ist.

13.12.2006

Tucholsky zieht wieder in die Schlacht

Das hätte sich Tucholsky wohl nicht träumen lassen. Mehr als 88 Jahre, nachdem er als Feldpolizeikommissar seinen Dienst im deutschen Heer quittierte, darf er noch mal in eine Schlacht ziehen. Zum Glück in eine ganz unmilitärische, denn bei der Darmstädter Dichterschlacht geht es darum, andere lebende und tote Dichterkollegen aus dem Feld zu schlagen. Im „Darmstädter Echo“ heißt es dazu:

Vier Schauspieler der „Theaterquarantäne“ werden dafür in Kostüme schlüpfen und Lyrik und Prosa von Schiller, Tucholsky, Gertrude Stein und der 1999 verstorbenen britischen Autorin Sarah Kane vortragen. Jan Büttenbender von der „Theaterquarantäne“ wird den Abend moderieren. Vier slamerfahrene Poeten, darunter Nora Gomringer und Alex Dreppec, treten für die lebenden Dichter auf.

Vermutlich dürfte Tucholsky noch postum ganz aufgeregt sein. Denn es ist mit Sicherheit sein erster Poetry Slam. Diese Art des Dichterwettstreites wurde erst vor 20 Jahren in den USA erfunden.

29.5.2006

Das Gegenteil von Adof


„Ist Kurt Tucholsky noch der Größte?“
titelt Michael Angele heute in der Netzeitung. Anlass für diese Frage, die nur rhetorisch gemeint sein kann, ist eine „Neuausgabe“ des „Deutschland, Deutschland über alles“-Buches. Als „Die beste Kritik zur Lage der Nation“ hat Herausgeber Timo Rieg diese Ausgabe bezeichnet.

Eine Behauptung, die Angele anhand der Originaltexte überprüfen möchte. Dabei kommt er zu dem wohl naheliegenden Schluss, dass sich seit den Zeiten Tucholskys viel verändert hat:

Nicht nur im deutschen Verkehr. Auch das Verhältnis zu Militarismus und Obrigkeit ist ein anderes geworden, die „Beamtenpest“ scheint nicht mehr unbesiegbar, die Presse mag gegängelt werden, die Justiz sich irren, die selben sind sie nicht mehr. Nein, was bleibt, ist eine einmalige, unverkennbare Stimme, die über die Zeiten hinweg aus den Texten von „Deutschland, Deutschland über alles“ spricht.

Um diese Stimme zu beschreiben, bedient sich Angele einer eleganten Methode:

Sie enthält alles, was dieser fehlt:

„Manchmal überbrüllt er sich, dann kotzt er. Aber sonst nichts: nichts, nichts, nichts. Keine Spannung, keine Höhepunkte, er packt mich nicht (…). Kein Humor, keine Wärme, kein Feuer, – nichts.“

Wer mit dieser Beschreibung gemeint ist, steht hier. An Tucholskys Einschätzung hat sich auch durch Bruno Ganz hoffentlich nichts geändert.

Das Eine-Million-Euro-Gedicht

Diese Frage war aber wirklich schwer. Von wem stammen die Verse „Der Fußballwahn ist eine Krankheit, aber selten, Gott sei Dank!“ wurde Günther Jauch am Samstag in seiner eigenen Show gefragt. War es A: Kurt Tucholsky, B: Erich Kästner, C: Heinz Erhardt oder D: Joachim Ringelnatz? Die richtige Antwort steht hier. Da Jauch sie nicht wusste, riskierte er lieber nicht die auf dem Spiel stehenden 500.000 Euro und ließ sie direkt der Deutschen AIDS-Stiftung zukommen.

Ernsthaft in die Auswahl wären als Antworten wohl nur C und D gekommen. Denn Kästner reimte irgendwie anders, und Tucholsky hat sich offenbar so wenig für Fußball interessiert, dass der Sport ihm nicht einmal ein kritisches Gedicht wert war. So schrieb er 1932 von Wien aus an seine Freundin Hedwig Müller:

Was da so brüllt, sind die Zuschauer eines Fußballmatches in der Nähe. Wofür sich die Leute so begeistern können, wie?

Wobei an der richtigen Antwort D wiederum erstaunt, dass der Autor des Gedichtes schon 1934 gestorben ist. Was lange wahnt, wird nicht immer gut.

30.4.2006

Die ganze Empfehle

Der Benimmonkel der Zeit wurde diese Woche mit einer Frage behelligt, die wohl jeder gerne für beantwortet hätte. Wie halte ich eine gute Rede? Was im dargestellten Falle noch dadurch verschärft wird, dass ein 21-jähriger Enkel eine Tischrede zum 85. Geburtstag seines Großvaters halten soll. Michael Allmeier beantwortet die „Geschmacksfrage“ in seinem Text „Das ganze Gerede“ natürlich sehr pädagogisch, und wird am Ende dann doch etwas konkreteter:

Wenn Sie sich vorbereiten wollen, lesen Sie Tucholskys Ratschläge für einen schlechten Redner. Die sind fast so alt wie Ihr Großvater, aber noch immer unerreicht. Da geht es darum, wie man lernt, schlecht zu reden. Natürlich nur, damit man nicht auf den schlechten Rat hört und das Gegenteil macht. Mit so einem einfachen Dreh macht Tucholsky das dröge Thema lustig. Sicher fällt Ihnen für Ihre Rede auch so etwas ein.

Und wenn die Zeit das schon meint, sollten die „Ratschläge für einen schlechten Redner“ niemandem vorenthalten werden.

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