22.1.2007

Ein bisschen Kritik

Es dürfte schwer zu beurteilen sein, inwieweit folgende Einschätzung des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki seinen Berufsweg beeinflusst hat. Denn das Interessante an ihr ist vor allem, dass sie in mehrfacher Hinsicht ziemlich falsch ist. In einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ bemerkte Reich-Ranicki zur Wahl seines Berufes etwas kokett:

Ich wollte gar nicht so sehr Literaturkritiker sein. Das hing wohl damit zusammen, dass die Rolle der Theaterkritiker im öffentlichen Leben in Berlin in den späten Jahren der Weimarer Republik enorm war: Kerr und Polgar, Siegfried Jacobsohn und Kurt Tucholsky – die hatten einen riesigen Einfluss auf das öffentliche Leben.

Dass die Theaterkritiker gegen Ende der Weimarer Republik tatsächlich noch einen großen Einfluss auf das öffentliche Leben hatten, darf zunächst bezweifelt werden. Schließlich war der Film damals schon das wichtigere Medium. Für die Alfrede Kerr und Polgar trifft wenigstens zu, dass sie in dieser Zeit Theaterkritiker waren. Für Jacobsohn gilt dies auf keinen Fall, denn er war in den letzten sechs Jahren der Weimarer Republik schon tot. Selbst in deren ersten acht Jahren hatte er sich kaum noch als Kritiker betätigt, weil er die Lust am Theater ziemlich verloren hatte und ihn seine Arbeit als Redakteur sehr stark in Anspruch nahm.

Aber auch Tucholsky schrieb nach seinem Wechsel nach Paris im Frühjahr 1924 kaum noch Theaterkritiken. Was machte er statt dessen? In seiner Rubrik „Auf dem Nachttisch“ besprach er hunderte von Büchern. Und auf diese Weise schien er nicht ganz ohne Einfluss gewesen zu sein. Denn wie versicherte er 1931 in einem Artikel über die Schwierigkeiten der Buchkritik:

Seit ich mich bemühe, eine bunte und möglichst lehrreiche Buchkritik zu machen, ist mein erstes Bestreben dies gewesen: nicht das Literaturpäpstlein zu spielen. Das kann es nicht geben, und das soll es auch nicht geben.
Peter Panter: „Die Aussortierten“, in: Die Weltbühne, 13.1.1931, Nr. 2, S. 58

Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

9.1.2007

„Rauchlos helle Flamme“ leuchtet im Netz

Was Tucholsky im vergangenen Jahr betraf, hat nun auch Karl Kraus ereilt: 70 Jahre nach seinem Todestag ist das Werk vom Beginn des Folgejahres an nicht mehr urheberrechtlich geschützt. Was in Krausens Fall aber die Folge hat, dass sein Werk, im Wesentlichen die Zeitschrift Die Fackel, nun komplett online nachzulesen ist. Unter der Adresse www.aac.ac.at/fackel/ lässt sich nach einer kostenlosen Registrierung bequem in sämtlichen Ausgaben der Zeitschrift recherchieren.

Dabei stößt man natürlich sehr einfach auf 42 Stellen, in denen in der Fackel, die er 1920 als „rauchlos helle Flamme“ bezeichnet hatte, der Name Tucholsky genannt wird. Die auffällige Häufung der Namensnennungen in den Jahren 1925 und nach 1930 lässt sich einfach erklären. 1925 steckte ein Plagiats-Vorwurf dahinter, den Tucholsky in der Weltbühne gegenüber dem Kraus-Adepten Heinrich Fischer gemacht hatte. Darin hieß es:

Das geht bis an die letzte erlaubte Grenze. Es ist fast nicht zu glauben, daß Heinrich Fischer den Bauerndichter Christian Wagner nicht kennt; und wenn er ihn kennt, darf er das nicht tun. Die Technik, die Worte, die Reimart, diese seltsame Anwendung des Partizipium Perfekti Passivi – Alles, Alles von da.

Kraus verlangte „Satisfaktion“, Tucholsky sollte bei einem Treffen in Paris Abbitte leisten. Doch dieser verzichtete nach anfänglichem Wunsch darauf, den Wiener nach einem von dessen Vorträgen in Paris zu treffen. Den Grund teilte er Weltbühne-Herausgeber Siegfried Jacobsohn mit:

Dieser Mann ist komplett meschugge. Da er im Privatleben keinen Humor hat, und es ganz ausgeschlossen ist, mit ihm über diese Nichtigkeit so zu reden, wie die Sache sie verdient, wäre er im Stande mich zu brüskieren. Das wäre mir an sich gleichgültig, aber erstens paßt mir das vor Mehring nicht und zweitens nicht vor Franzosen. (…) Wenn er uns in der nächsten Nummer der ›Fackel‹ schlachtet, so ist das seine Sache, und was Du darauf tust, ist Deine. Ich werde wohl nur antworten, wenn er ausgesprochene Verleumdungen in die Welt losläßt, der Rest ist mir wurst.

Die „Abschlachtung“ folgte tatsächlich. Kraus widmete sich in der Fackel Nr. 686–690 vom Mai 1925 auf 15 Seiten dem „Fall Jacobsohn“ und erläuterte dabei aus seiner Sicht, warum es in Paris nicht zu dem Treffen gekommen war:

Ich hätte gegen dessen persönliche Abstattung, also gegen den Verkehr mit Herrn Wrobel nichts einzuwenden gehabt, ließ aber Herrn Tucholsky sagen, daß er, um jenem den Zutritt zu verschaffen, vorerst die Aufklärung schuldig sei, wie seine Ansicht von einem Plagiat Fischers an Wagner, über deren Berechtigung und Ernsthaftigkeit ich mit ihm nicht sprechen wolle, eine Publizität erlangt habe, deren Verwalter doch vor solcher Materie einen alten Schmerz verbeißen mußte, um neue Freude zu erleben. Ohne diese Rechtfertigung, ohne die Zusage einer öffentlichen Zurückziehung des Vorwurfs, ohne die öffentliche Erklärung, daß ein Privatbrief mißbraucht worden sei, oder das private Bedauern über die Bedienung der Ranküne des Herausgebers, kurz ohne zureichende Bereinigung einer so unsaubern Angelegenheit sei ein Verkehr nicht denkbar.

Tucholsky verzichtete auf eine Replik dieser Darstellung, wagte es aber, 1929 zu schreiben:

Der erste Theaterabend fand mittags statt: in der berliner Volksbühne haben sie die ›Unüberwindlichen‹ von Karl Kraus gegeben. Als die Wogen des Beifalls durch das Theater rollten, trat Kraus vor die Gardine und dankte. Er täuschte sich nicht: er hat kein Publikum erobert. Er hat ein erobertes Publikum erobert.

Damit schien er sich jegliche Restsympathie bei Kraus verspielt zu haben. In den Folgejahren störte es Kraus offenbar am meisten, dass man in ihm quasi die Wiener Ausgabe eines Tucholsky sah und beide häufig in ein Boot steckte. Um diesen Eindruck zu zerstören, ließ kaum eine Gelegenheit aus, Tucholskys journalistisches „Vorstrafenregister“ zu zitieren:

Wie der Herr Tucholsky (trotz Kriegsanleihelyrik, schlesischer Tätigkeit und Verulkung Rosa Luxemburgs eine Fahne revolutionären Geistes und unter allen Umständen ein flotter Bursche) in Deutschland stets mit mir zusammengespannt wird (…)

Um Letzteres zu verhindern, griff Kraus schließlich zu radikalen Mitteln:

Einer Mitteilung der Berliner Funkstunde entnehmen wir, daß Sie im Rahmen einer Feierstunde am 15. März das Gedicht »Zum ewigen Frieden« von Karl Kraus zum Vortrag bringen ließen. Mit dem besten Dank für Ihre freundliche Absicht bitten wir, uns in etwaigen künftigen Fällen das Programm rechtzeitig bekanntgeben zu wollen, da der Autor es ablehnt, in einem solchen zum Beispiel mit Herrn Kurt Tucholsky, der ihm als feuilletonistischer Mitarbeiter der bürgerlichen Presse, Verfasser eines Werbegedichts für eine Kriegsanleihe und auch sonst bekannt ist, zu figurieren, und mit ihm keine Feierstunde zu begehen wünscht.

Diese Anschuldigungen wiederholten sich bis 1934, wobei Tucholsky in einem Brief an Carl von Ossietzky im März 1932 klarstellte:

Karl Kraus. Nach dem letzten, etwa 150. Angriff dies:
Der Mann kann gegen mich schreiben, was er lustig ist. Was ich ihm übel nehme ist, daß er genau das macht, was er den großen Zeitungen vorwirft, mit denen er ja – sonst greift man auch nicht dreißig Jahre lang an – solche Ähnlichkeit hat: er lügt durch Verschweigen. Liest man das da in der Fackel, dann glaubt man, ich heiße Auernheimer. Also gut – glauben Sie ja nicht, daß ich etwas unternehmen will. Jedennoch:
Wir wollen – außer Hiller – keinem mehr erlauben, ihn bei uns zu loben. Soweit kanns nun nicht gehn. Ich bitte also formell und feierlich, jedes Lob auf Kraus rücksichtslos zu streichen, und zwar durchaus mit Berufung auf seine Haltung gegen uns, S.J. und die WB. Zitate würde ich nicht streichen – dagegen aufpassen, daß sie wörtlich sind. Damit wir nicht eine dieser albernen Berichtigungen auf den Hals bekommen.

1933 landeten Tucholskys Schriften bei den Bücherverbrennungen der deutschen Studenten im Feuer. Doch selbst diese Situation ließ Kraus nicht solidarisch werden. Statt dessen schrieb er in „Die dritte Walpurgisnacht“, dass er „nicht um einen Nobelpreis mit dem Tucholsky auf einem Scheiterhaufen brennen“ wolle.

Tucholskys letzte Äußerung zu Kraus stammt wenige Wochen vor seinem Tod. Am 9. November 1935 schrieb er:

Wer von jedem Mausdreck im Alltag das äußerste fordert, der endet gewöhnlich nachher im dicksten Kompromiß. Wie z.B. der selige Karl Kraus. Es hat keinen Wert, dauernd der Welt das Neue Testament auf den Kopf zu schlagen – wir wissen ja, daß das ein unangenehmes Geräusch gibt. Aber über die Köpfe hinweg muß mans ab und zu sagen: Selbstzufriedenheit ist eines der wenigen Laster, die es gibt.

3.1.2007

Reich, aber narzisstisch

Bei der Rezension eines Tucholsky-Abends lässt sich in der Regel schwer beurteilen, welche Behauptungen über Tucholsky auf dem Dung des Vortragenden oder der Recherche des Journalisten gewachsen sind. Unfreiwillig komisch wirken auf jeden Fall die begeisterten Passagen, die Sabine Henrichs in der Frankfurter Neuen Presse über ein Tucholsky-Programm los wird. In „Tucholsky als Selbstdarsteller in Perfektion“ berichtet sie über einen Abend mit Oliver Steller und gibt ihr frisch erworbenes Wissen zum Besten:

Seine gute Beobachtungsgabe hatte Tucholsky, der am 9. Januar 1890 geboren wurde, bereits mit seiner ersten Erzählung „Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte“ unter Beweis gestellt. Diese wurde über 120 000 Mal verkauft und ließ den Schriftsteller noch ein wenig reicher werden.

Die Betonung sollte dabei auf „wenig“ liegen. Sehr stark sogar. Denn wie schrieb Tucholsky rückblickend über den finanziellen Erfolg seines Buches:

Ich zeigte damals meinen Vertrag, den ersten, den ich in meinem Leben gemacht hatte, dem damaligen Vorsitzenden des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller. Der weinte eine halbe Stunde vor Freude und streichelte mir dann leise den Kopf. Ich weiß bis heute nicht, was er damit hat sagen wollen.
Kurt Tucholsky: „Rheinsberg“, in: Die Weltbühne, 8.12.1921, S. 579

Was Tucholsky damit meinte: Er hatte die Rechte für einen einmaligen Betrag an den Verleger Alex Juncker abgetreten und war somit an dem finanziellen Erfolg des Buches überhaupt nicht beteiligt.

Auch eine weitere Passage der Rezension liest sich sehr schön:

Immerhin hatte er mit 21 Jahren das Erbe seines sechs Jahre zuvor verstorbenen Vaters in Höhe von heute rund 400 000 Euro angetreten. Doch auch dieses Geld hatte sich irgendwann verflüchtigt und so arbeitete Tucholsky als Privatsekretär in einer großen Bank, wie Steller mit dem Tango „Ich bring’s zu nichts“ erzählte.

Diese „Verflüchtigung des Geldes“ wird häufig auch Inflation genannt, und nach dem Ersten Weltkrieg war Tucholsky sicherlich nicht der einzige in Deutschland, der davon betroffen war. Seine Abkehr vom Journalismus hatte aber auch damit zu tun, dass er 1922/1923 unter schweren Depressionen litt und keinen Sinn mehr im Schreiben erkannte. Es gibt daher auch durchaus andere Gründe als reinen Narzissmus, wenn man sich über den Sinn des Lebens Gedanken macht. Nicht so bei Henrichs:

So war Tucholsky überaus selbstverliebt. Das wurde nicht nur deutlich, als er sich über den Tod Gedanken machte und sich fragte, ob er nicht nur sich selbst, sondern auch anderen fehlen würde, wenn er gestorben sei.

In diesem Fall gehört wohl auch eine gewisse Selbstironie dazu.

29.12.2006

Sauberer Literat

Wäre es Tucholsky im Exil besser ergangen, wenn er einen guten Schutzengel gehabt hätte? Eine solche Funktion für Emigranten hatte der Schriftsteller Hermann Kesten, dem die Welt aus Anlass zweier neu aufgelegter Werke den Artikel „Schutzengel der Exilanten“ widmet.

Zwischen Kesten und Tucholsky gab es während des Exils jedoch keine Verbindungen, was auch damit zusammenhängen dürfte, dass Tucholsky schon seit Anfang der 1930er Jahre recht sicher in Schweden lebte und nur über eine Zürcher Deckadresse erreichbar war. Und als Kesten sich vom amerikanischen Exil aus für seine Schriftstellerkollegen in Europa einsetzte, war Tucholsky schon seit mehreren Jahren tot.

Dennoch taucht ein Porträt Tucholskys in der neu erschienenen Textsammlung Kestens „Meine Freunde, die Poeten“ auf. Darin heißt es, wie die Welt zitiert, über Tucholsky:

Er ist überhaupt ein Ängstlicher, aber von der Sorte, die aus lauter Furcht attackiert und im Angriff immer mutiger wird. Er war ein deutscher Patriot von der echten Sorte. Man erkennt diese am Lachen. Denn die falschen Patrioten sind feierliche Esel oder pathetische Mörder.

Wobei es einen Ausweis an gehobener Dialektik darstellt, Tucholsky, der sich im Patriotismus „von jedem übertreffen“ lassen wollte, deswegen als „echten“ deutschen Patrioten zu bezeichnen.

Kesten taucht in Tucholskys Werk dagegen nur am Rande auf, bei der Besprechung des vom damaligen Lektor des Kiepenheuer-Verlages herausgegebenen Auswahlbandes „24 neue deutsche Erzähler“:

Hm … Vielleicht wäre es gut, dieser sehr sauber gearbeiteten Anthologie den Untertitel «Stufen» zu geben. Es ist, wie wenn sich diese Autoren entsagungsvoll zu Boden geworfen hätten, damit ihre Leiber Stufen für jene bilden mögen, die da aufwärts schreiten sollen zum Parnaß. Nach ihnen. Es stehen sehr hübsche Geschichten in dem Band, es ist beinah alles gut und schön – aber ich werde das bestimmt nicht zum zweiten Mal lesen, und das ist ja eigentlich der wahre Wertmesser eines Buches.
Peter Panter: „Auf dem Nachttisch“, in: Die Weltbühne, 22.4.1930

Besonders echauffiert sich Tucholsky über die Erzählung eines damals noch recht unbekannten Schriftstellers, der sich an der Schilderung des Angestellten-Milieus versuchte:

Guter Mann, das ist gewiß sehr höhnisch gemeint. Doch der Hohn geht daneben.

Die Verbindung zwischen Tucholsky und Kesten endete jedoch nicht mit Tucholskys Tod. Kesten schrieb das Nachwort zur Autobiographie von Lisa Matthias, Tucholskys Geliebter von 1927 bis 1931 und realem Vorbild des „Lottchens“. Kestens damalige Feststellung über das Buch, die so gar nicht den Verrissen seiner Feuilleton-Kollegen entsprach, besitzt heute noch Gültigkeit:

Um die ganze Kunst von Tucholsky zu begreifen, braucht man diese Autobiographie Lottchens, samt den Urtypen, einem halben oder ganzen Dutzend Wendriners. Wer über Tucholsky schreiben will, wer ihn kennen lernen will, kann diese Autobiographie Lottchens gar nicht mehr entbehren, obgleich sie freilich ein parteiischer Bericht ist, ein subjektiv verzerrter Spiegel, und – bei aller unzweifelhaften schriftstellerischen Begabung der Autorin, bei all ihrem Mutterwitz, ihrer psychologischen Einsicht, ihrem Talent, Situationen, Menschen und Zeitläufe zu beschreiben – in keiner Hinsicht dem geliebten und zuweilen mit Liebeshaß umgangenen Gegenstand und Modell, Kurt Tucholsky, ebenbürtig ist.

13.12.2006

Tucholsky zieht wieder in die Schlacht

Das hätte sich Tucholsky wohl nicht träumen lassen. Mehr als 88 Jahre, nachdem er als Feldpolizeikommissar seinen Dienst im deutschen Heer quittierte, darf er noch mal in eine Schlacht ziehen. Zum Glück in eine ganz unmilitärische, denn bei der Darmstädter Dichterschlacht geht es darum, andere lebende und tote Dichterkollegen aus dem Feld zu schlagen. Im „Darmstädter Echo“ heißt es dazu:

Vier Schauspieler der „Theaterquarantäne“ werden dafür in Kostüme schlüpfen und Lyrik und Prosa von Schiller, Tucholsky, Gertrude Stein und der 1999 verstorbenen britischen Autorin Sarah Kane vortragen. Jan Büttenbender von der „Theaterquarantäne“ wird den Abend moderieren. Vier slamerfahrene Poeten, darunter Nora Gomringer und Alex Dreppec, treten für die lebenden Dichter auf.

Vermutlich dürfte Tucholsky noch postum ganz aufgeregt sein. Denn es ist mit Sicherheit sein erster Poetry Slam. Diese Art des Dichterwettstreites wurde erst vor 20 Jahren in den USA erfunden.

29.5.2006

Das Gegenteil von Adof


„Ist Kurt Tucholsky noch der Größte?“
titelt Michael Angele heute in der Netzeitung. Anlass für diese Frage, die nur rhetorisch gemeint sein kann, ist eine „Neuausgabe“ des „Deutschland, Deutschland über alles“-Buches. Als „Die beste Kritik zur Lage der Nation“ hat Herausgeber Timo Rieg diese Ausgabe bezeichnet.

Eine Behauptung, die Angele anhand der Originaltexte überprüfen möchte. Dabei kommt er zu dem wohl naheliegenden Schluss, dass sich seit den Zeiten Tucholskys viel verändert hat:

Nicht nur im deutschen Verkehr. Auch das Verhältnis zu Militarismus und Obrigkeit ist ein anderes geworden, die „Beamtenpest“ scheint nicht mehr unbesiegbar, die Presse mag gegängelt werden, die Justiz sich irren, die selben sind sie nicht mehr. Nein, was bleibt, ist eine einmalige, unverkennbare Stimme, die über die Zeiten hinweg aus den Texten von „Deutschland, Deutschland über alles“ spricht.

Um diese Stimme zu beschreiben, bedient sich Angele einer eleganten Methode:

Sie enthält alles, was dieser fehlt:

„Manchmal überbrüllt er sich, dann kotzt er. Aber sonst nichts: nichts, nichts, nichts. Keine Spannung, keine Höhepunkte, er packt mich nicht (…). Kein Humor, keine Wärme, kein Feuer, – nichts.“

Wer mit dieser Beschreibung gemeint ist, steht hier. An Tucholskys Einschätzung hat sich auch durch Bruno Ganz hoffentlich nichts geändert.

Das Eine-Million-Euro-Gedicht

Diese Frage war aber wirklich schwer. Von wem stammen die Verse „Der Fußballwahn ist eine Krankheit, aber selten, Gott sei Dank!“ wurde Günther Jauch am Samstag in seiner eigenen Show gefragt. War es A: Kurt Tucholsky, B: Erich Kästner, C: Heinz Erhardt oder D: Joachim Ringelnatz? Die richtige Antwort steht hier. Da Jauch sie nicht wusste, riskierte er lieber nicht die auf dem Spiel stehenden 500.000 Euro und ließ sie direkt der Deutschen AIDS-Stiftung zukommen.

Ernsthaft in die Auswahl wären als Antworten wohl nur C und D gekommen. Denn Kästner reimte irgendwie anders, und Tucholsky hat sich offenbar so wenig für Fußball interessiert, dass der Sport ihm nicht einmal ein kritisches Gedicht wert war. So schrieb er 1932 von Wien aus an seine Freundin Hedwig Müller:

Was da so brüllt, sind die Zuschauer eines Fußballmatches in der Nähe. Wofür sich die Leute so begeistern können, wie?

Wobei an der richtigen Antwort D wiederum erstaunt, dass der Autor des Gedichtes schon 1934 gestorben ist. Was lange wahnt, wird nicht immer gut.

30.4.2006

Die ganze Empfehle

Der Benimmonkel der Zeit wurde diese Woche mit einer Frage behelligt, die wohl jeder gerne für beantwortet hätte. Wie halte ich eine gute Rede? Was im dargestellten Falle noch dadurch verschärft wird, dass ein 21-jähriger Enkel eine Tischrede zum 85. Geburtstag seines Großvaters halten soll. Michael Allmeier beantwortet die „Geschmacksfrage“ in seinem Text „Das ganze Gerede“ natürlich sehr pädagogisch, und wird am Ende dann doch etwas konkreteter:

Wenn Sie sich vorbereiten wollen, lesen Sie Tucholskys Ratschläge für einen schlechten Redner. Die sind fast so alt wie Ihr Großvater, aber noch immer unerreicht. Da geht es darum, wie man lernt, schlecht zu reden. Natürlich nur, damit man nicht auf den schlechten Rat hört und das Gegenteil macht. Mit so einem einfachen Dreh macht Tucholsky das dröge Thema lustig. Sicher fällt Ihnen für Ihre Rede auch so etwas ein.

Und wenn die Zeit das schon meint, sollten die „Ratschläge für einen schlechten Redner“ niemandem vorenthalten werden.

16.4.2006

63 Minuten Glück

Nach dem Wegfall der Urheberrechte haben sich gleich mehrere Verlage auf Tucholskys „Bilderbuch für Verliebte“ gestürzt. In diesem Jahr erscheinen bei Diogenes, dtv, Husum und Reclam Neuausgaben von „Rheinsberg“. Eine neue Hörbuch-Edition von Diogenes hat sich dagegen die Berliner Zeitung angeschaut, beziehungsweise -gehört. „Schokoladenkind“ Abini Zöllner war davon recht angetan:

Helene Grass liest dieses „Hörbuch für Verliebte“ erfrischend, macht die Charaktere sympathisch und aus einer Stunde einen Gewinn. Das Glück dauert genau 63 Minuten, ist wunderschön verpackt, hat ein ausführliches Booklet, anmutige Illustrationen und erscheint, natürlich, im Wonnemai. Und – das ist versprochen – es huscht nicht an einem vorüber.

Wozu eigentlich noch selber lesen?

9.4.2006

Fritze Griinbaum

Wenn es darum geht, Originalaufnahmen aus der kabarettistischen Frühzeit zu präsentieren, ist der Berliner Regisseur und Produzent Volker Kühn nicht weit. Die bereits vor einem Jahre von Kühn herausgegebene Doppel-CD „Das Cabaret ist mein Ruin“, die dem österreichischen Kabarettisten Fritz Grünbaum gewidmet ist, hat die FAZ nun in ihrer Ausgabe vom Samstag besprochen. Autor Uwe Ebbinghaus kommt in seinem Text „Mit Heineschem Zug“ gleich zur Sache:

Am Anfang hieß das Kabarett überall noch Cabaret, war körperbetont, erotisch aufgeladen, und eines seiner Hauptverdienste bestand darin, die Uneingeweihten von der „Existenz des außerehelichen Geschlechtsverkehrs“ in Kenntnis zu setzen, wie Kurt Tucholsky einmal witzelte.

Dieser Witz stammt mehr oder weniger sinngemäß aus Tucholskys Text „Berliner Cabarets“ vom März 1913. In diesem Artikel wird Grünbaum nicht eigens erwähnt. Dass Tucholsky den Wiener Künstler durchaus kannte, zeigt eine Passage aus einem Text über Gussy Holl, der nur wenige Monate später erschien:

Sie ist der Spiegel. Sie kann Fritze Griinbaum nachmachen und Schneider-Dunker und die Waldoff’n.
Peter Panter: „Gussy Holl“, in: Die Schaubühne, 3.7.1913, S. 688

Nach dem Ersten Weltkrieg arbeiteten Tucholsky und Grünbaum für Rudolf Nelsons Revue „Total Manoli“ zusammen. Grünbaum steuerte die Texte, Tucholsky den Titelsong bei.

In dem Artikel „Des deutschen Volkes Liederschatz“ bezog sich Tucholsky wenige Jahre später auf Grünbaums populäre Schlagertexte:

Was aber sind alle diese schönen Lieder, wie:
    Am Hügel, wo der Flieder blüht,
    und eine Rosenhecke glüht und:
(…)
Da mögen Welsche und Polen, Tschechen und blatternasige Kosaken dräun: solange wir solche Lieder haben, kann Deutschland nicht untergehn. Der Text stammt von zwei wiener Juden.

Wen Tucholsky mit den „zwei wiener Juden“ tatsächliche gemeint hat, ist unklar. Fest steht nur: Den Schlager „Dort unterm Baum“ , aus dem die obigen Verse entnommen sind, hat der im tschechischen Brünn geborene Jude Grünbaum geschrieben.

Kleine CD-Hörprobe gefällig?

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