31.12.2005

Zensur à la Tucholsky

In ihrer Reihe über Auswüchse der DDR-Zensur hat sich die „Berliner Zeitung“ in dieser Woche mit den Werkausgaben Kurt Tucholskys befasst. Wie aus Siegfried Lokatis‘ Text „Dialektik“ hervorgeht, fiel es den Zensurbehörden der DDR naturgemäß nicht leicht, mit den marxismus-kritischen Passagen im Werk des bürgerlichen Antifaschisten Tucholsky umzugehen. Wie sah das konkret aus?

Arno Hausmann zensierte Tucholsky im Geist eines fürsorglichen Erbsachwalters, nicht etwa „nur wegen der uns obliegenden politischen Aufgaben“, sondern auch „aus der Achtung, die wir dem Andenken Tucholskys schulden.“ „Eine unkritische, womöglich vollständige Neuherausgabe all dessen, was Tucholsky schrieb“, sei, so Hausmann 1955, „nicht denkbar“: „Lebte er heute noch, so würde er gewiss vieles aus dieser 1919 zusammengestellten Auswahl herausstreichen, wie er damals schon vieles beiseite legte, was nicht mehr taugte. Wir sollten es wie Tucholsky machen.“

Kein Wunder, dass Tucholsky-Herausgeber Fritz J. Raddatz 1958 schließlich entnervt in den Westen verschwand. Dessen Nachfolger Roland Links bescheinigt Lokatis dagegen ein geschickteres Vorgehen bei der Publikation. So sei es Links gelungen, systemkritische Texte in der sechsbändigen Werkausgabe unterzubringen.

In der DDR konnte sich 1973 (im Band 6, Schloß Gripsholm, Auswahl 1930-1932) nur Tucholsky leisten, Trotzki positiv zu zitieren („Die Zeit“), die theoretischen Grundannahmen des Marxismus mit Freud zu kritisieren („Replik“) und der „kommunistischen Theologie“ den Gebrauch des Wortes „Dialektik“ zu verbieten („B.Traven“).

In einem Punkt irrt Lokatis jedoch. Zwar sind in den westdeutschen Ausgaben die Texte in der Tat chronologisch geordnet, dennoch hatte sich Raddatz entschieden, nicht die Originalfassungen, sondern die von Tucholsky selbst bearbeiteten Versionen der Sammelbände zu publizieren. Erst in der Gesamtausgabe wurde diese Praxis geändert.

24.12.2005

Blaue Pseudonyme

Die „Berliner Zeitung“ hat sich die „kleine Tucholsky-Revue“ angeschaut, die das Berliner Ensemble aus Anlass von Tucholskys 70. Todestag am 21. Dezember aufführte. In ihrem Text „„Ich bin mich endlich los“ hat Carmen Böker hier und da etwas an der Inszenierung auszusetzen, im Großen und Ganzen scheint ihr der Abend jedoch gefallen zu haben.

Ein interessantes Farbkonzept (Bühne/Kostüme: Meentje Nielsen) hält die Truppe optisch zusammen: Alle tragen Kleidung in abgestuften Blautönen – vom fast weißen Hellblau bei der kessen Naiven (Müller) bis zum marineblauen Zweireiher des seriösen Satirikers (Seifert). Bei allen sind die Lippen expressionistisch tintenblau getönt – ein Effekt aus der Stummfilmära, historisch naheliegender und tiefgründiger als die Idee, die älteste im Bunde, Ruth Glöss, für ihre „Schnipsel“-Einstreuungen in einen Rollstuhl zu verfrachten.

Der Tucholsky-Abend ist wieder am 27.12. (19 Uhr), 12.1. (20.15 Uhr), 17.1. (20.30 Uhr) zu sehen.

21.12.2005

Würdigungen III. – …

Die Art und Weise, wie der 70. Todestag Tucholskys in den Medien behandelt wurde, sagt hoffentlich wenig über den Zustand der deutschen Presse.

Da sind zum einen die sogenannten Qualitätszeitungen wie „FAZ“ und „Süddeutsche“. Findet sich in deren Feuilletons etwa ein Text zu diesem Anlass? Mitnichten. Dabei ist gerade der 70. Todestag eines Autors eine gute Gelegenheit, sich mit dessen Rezeptionsgeschichte zu befassen und einen Ausblick zu wagen, wie es nach dem Wegfall des Urheberschutzes weitergeht.

Da sind zum anderen die Regionalzeitungen. Viele von ihnen haben immerhin in ihren Online-Ausgaben eine Würdigung abgedruckt, die die Nachrichtenagentur dpa verbreitet hatte. Da die dpa-Texte meist ungeprüft auf den Seiten erscheinen, ist kaum zu erwarten, dass ein Redakteur die falsche Behauptung korrigiert, wonach Tucholskys Einbürgerungseintrag von den schwedischen Behörden abgelehnt worden sei. Den Druckfehler „Einbürgeung“ hat natürlich ebenfalls niemand gesehen . Eine löbliche Ausnahme bildet die „Mitteldeutsche Zeitung“, die den Leiter des Rheinsberger Tucholsky-Museums, Peter Böthig, zum Thema interviewte.

Da sind die Berliner Blätter. Das „Neue Deutschland“ nimmt das Erscheinen des 19. Bandes der Gesamtausgabe zum Anlass, sich über den Brief- und Vielschreiber Tucholsky zu äußern, die „Berliner Zeitung“ findet einen eher persönlichen Zugang zu dem Schriftsteller, der die lächerlichen Schwächen der Menschen so gnadenlos bloßstellte.

Und zu guter Letzt ist da noch die Nachrichtenagentur AP, die den wohl innovativsten Text über Tucholsky verfasste. Wer deren Artikel mit dem entsprechenden Tucholsky-Text in der Wikipedia vergleicht, kann sehr schön erkennen, wo die Zukunft des Journalismus liegt.

13.12.2005

Würdigungen, die I.

Noch sind es einige Tage hin, bis Tucholskys Todestag sich zum 70. Mal jährt. Die Reihe der zu erwartenden Würdigungen wurde am Sonntag bereits im Berliner „Tagesspiegel“ eröffnet. Stefan Berkholz hat sich zu diesem Zweck auf die Suche nach Tucholsky-Zeugnissen in dessen Heimtstadt Berlin gemacht. Leider Fehlanzeige, wie es in dem schönen Artikel „Die giftgrüne Tinte des Satirikers“ heißt:

Der Weizsäcker-Senat forderte damals, 1983, eine „Tucholsky-Gedenkstätte“ im Literaturhaus in der Fasanenstraße einzurichten, die gesamte Stadtvilla womöglich nach Tucholsky zu benennen. Verwirklicht wurde davon nichts. Die Benennung nach Tucholsky fiel gleich flach, ein nach ihm benannter Raum blieb übrig. Von einer Gedenkstätte redet heute längst keiner mehr. Hinter dem Plastikschild lärmt der erweiterte Kaffeehausbetrieb. Alle anderen Bemühungen in der Stadt, zum Beispiel in Tucholskys Geburtshaus in Moabit eine Dokumentationsstätte zu errichten, sind längst zu den Akten gelegt. Man hat also zu reisen.

Berkholz tat gut daran, nach Rheinsberg zu fahren. Denn im dortigen Tucholsky-Literaturmuseum fand er nicht nur eine Ausstellung zu dem Schriftsteller, sondern noch eine weitere zu dessen Publikationsorgan „Die Weltbühne“. Die schaute er sich gleich mit an und ergänzte den Bericht um einige Bemerkungen zur Rolle radikaldemokratischer Medien in der Weimarer Republik.

Und was hat es mit der giftgrünen Tinte aus der Überschrift auf sich, die bei dem Schreibmaschinenfetischisten Tucholsky sicherlich vertrocknet sein dürfte?

In Schaukästen ein paar Fundstücke: ein Leihzettel aus der Königlichen Bibliothek in Berlin, von Tucholsky handschriftlich ausgefüllt; etwas Kitsch aus Tucholskys schwedischem Nachlass, eine Keramikvase, ein Tintenfass, beides giftgrün.

Ein Satiriker war er aber ganz gewiss.

12.12.2005

Im Dichter-Olymp

Wer es in den Lyrikkanon von Marcel Reich-Ranicki geschafft hat, darf sich als Dichter selbst postum noch auf die Schulter klopfen. Tucholsky scheint es dem FAZ-Literaturkritiker ohnehin angetan zu haben. Jüngst hatte er noch Schloß Gripsholm als einen „der bedeutenderen Romane des vergangenen Jahrhunderts, die geprägt sind von Humor, Witz, Ironie, Komik“ hervorgehoben. Am Sonntag gehörte nun das Gedicht „Parc Monceau“ zu der exklusiven Auswahl von Stücken, die von der „FAS“ aus dem 1370 Texten des Lyrikkanons ausgewählt und präsentiert wurden. Jeder Redakteur erläuterte kurz die Gründe für seine Wahl. Peter Körte schrieb zu „Parc Monceau“:

Es klingt so einfach, so klar, als flögen die Reime vorbei und ließen sich kurz nieder wie der kleine Vogel. Das sogenannte lyrische Ich arbeitet wie eine Kamera, die ihren Blick durch den Raum schweifen läßt; sie streift das Beiläufige mit milder Ironie wie in einem frühen Film von Truffaut, und wenn man das heute liest, denkt man auch weniger an die zwanziger Jahre als an den Blick der Nouvelle Vague oder an einen Roman von Patrick Modiano, an ein sonniges Paris, und es wird einem ganz leicht dabei.

„Parc Monceau“ ist aber nicht das einzige Tucholsky-Gedicht, das in dem Kanon enthalten ist. Die anderen Texte lauten: „Letzte Fahrt“, „Luftveränderung“, „Das Ideal“, „Ideal und Wirklichkeit“, „Aus!“, „Danach“, „Augen in der Großstadt“ und „An das Baby“. Womit Reich-Ranicki bewiesen hat, dass er auch ein hervorragender Herausgeber von Schullesebüchern wäre.

4.12.2005

Kantersieg in der Zitatenliga

3:1 für Tucholsky, lautet die eindeutige Bilanz dieses Medienwochenendes. Ein überraschendes Ergebnis angesichts der schweren Auswärtsbegegnungen, die auf dem Spielplan standen.

Zunächst galt es, sich im schweizerischen Zürich mit einer Rezension von Siegfried Jacobsohns „Gesammelten Schriften“ auseinanderzusetzen. Ganz klar, dass sich die „NZZ“ in ihrem Text „Das Theater allein kann sich nicht bessern“ auch auf Tucholsky berief. Dieser wurde am Ende des Textes präsise zitiert, um Jacobsohns journalistische Maxime zu nennen:

Wir alle, die wir unter seiner Führung gegen dieses Militär, gegen diese Richter und gegen diese Reaktion gekämpft haben, kennen seinen tiefsten Herzenswunsch: die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit Mozarts, die Wahrheit Schopenhauers, die Wahrheit Tolstois – inmitten einer Welt von Widersachern: die Wahrheit.
Kurt Tucholsky: „Siegfried Jacobsohn †“ , in: Die Weltbühne, 7.12.1926, S. 873

Die NZZ ließ sich die Chance nicht entgehen und brachte Tucholsky souverän mit 1:0 in Führung.

Das 2:0 fiel nach einer schönen Kombination in Frankfurt. Dort machte sich Mario Müller in der „FR“ Gedanken darüber, ob die Entscheidung der EZB, den Leitzins anzuheben, auch ökonomisch Sinn ergibt. Und wenn es um Volkswirtschaft geht, ist Tucholskys „Kurzer Abriss der Nationalökonomie“ immer für eine Steilvorlage gut: „Zusammenfassend kann gesagt werden: die Nationalökonomie ist die Metaphysik des Pokerspielers.“ Müller verwandelte den Traumpass anschließend sicher mit spielerischen Bemerkungen zu Peer Steinbrück und Jean-Claude Trichet.

Einen unerwarteten Gegentreffer erhielt Tucholsky in Gelnhausen. Dort war es zuvor zu einem heftigen Gerangel im Magistrat gekommen, wie der „Gießener Anzeiger“ berichtete:

Wer die SPD so rasch informierte, interessiert Christdemokrat Michaelis brennend. Und da er gerne Tucholsky zitiert, ruft er dessen bekannten Spruch in diesen Tagen wohl besonders oft in Erinnerung: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“

Nun hat sich das USPD-Mitglied Tucholsky häufig darüber aufgeregt, dass die Mehrheits-SPDler unter Friedrich Ebert die Revolution von 1918/19 verraten haben, aber das genannte Zitat findet sich in seinem gesamten Werk nicht wieder. Ein eklatanter Stellungsfehler in der journalistischen Zitatenabwehr.

Den Schlusstreffer erzielte Tucholsky in Berlin, wo der Heimvorteil voll zur Geltung kam. Das „Neue Deutschland“ berichtete über eine Veranstaltung der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, auf der dem Verfassungsrichter Udo di Fabio der Preis für den „Reformer des Jahres“ verliehen wurde. Diese Veranstaltung wurde von einer Gruppe „Überflüssiger“ gestört, denen sich die Veranstalter problemlos entledigten. Das ND kommentierte diesen ungleichen Kampf mit einem länglichen Tucholsky-Zitat:

Denn nichts ist gefährlicher, als den Partner zu niedrig einzuschätzen – auf diese Weise sollen schon Kriege verloren gegangen sein. Glaub du ja nicht, du seist der einzig Schlaue weit und breit.
Peter Panter/Theobald Tiger: „Sind Sie eine Persönlichkeit?“, in: Uhu, 1.6.1931 S. 72

Mit dieser starken Leistung darf Tucholsky hoffen, nicht in die literarische Regionalliga abzusteigen.

1.12.2005

Weder verwandt, noch verschwägert

Der Schriftsteller und Satiriker Wiglaf Droste hat einen Literaturpreis erhalten, der nicht nach seiner Ururgroßmutter benannt ist. Dabei stammte Anna Elisabeth Franzisca Adolphine Wilhelmine Louise Maria von Droste-Hülshoff ebenso wie der neue Träger des nach ihr benannten Preises aus Westfalen. In der Preisbegründung wurde Droste jedoch mit anderen literarischen Vorbildern in Verbindung gebracht, wie die Nachrichtenagentur dpa mitteilte:

„Sein Werk zeugt von so hoher sprachlicher Virtuosität, dass sich der Vergleich mit den großen Vorbildern Tucholsky, Kästner und Heinrich Heine geradezu aufdrängt“, sagte Laudator Wolfgang Schäfer gestern bei der Preisverleihung im Museum für Westfälische Literatur in Oelde. (…) Droste habe seine Vorgänger nicht kopiert, sondern einen eigenen, unverwechselbaren Ton gefunden, befand die Jury.

Was letztere Behauptung betrifft, so hat die Jury sicherlich recht. Ob es sinnvoll ist, überhaupt noch so wie die „großen Vorbilder“ zu schreiben, wird in diesem Text zu beantworten versucht.

8.11.2005

www.seifenblasen-der-nie-gedrehte-film.de

Vermutlich hat „FAZ“-Redakteur Andreas Kilb mit seiner Behauptung Recht, wonach die Bezeichnung Medienmensch für einen Journalisten und Schriftsteller heutzutage wenig schmeichelhaft ist. Aber da es in den Tagen Tucholskys noch keine ewig gleichen Talkshows und Interviews gab, ist in seinem Falle wohl etwas anderes damit gemeint. Tucholsky lebte von und für die Medien, und daher hatte sich die Tucholsky-Gesellschaft vorgenommen, sich auf ihrer Jahrestagung 2005 näher mit dem Verhältnis ihres Namensgebers zu den damaligen Medien zu befassen.

Als Filmexperte interessiert sich Kilb natürlich am meisten für den gescheiterten Versuch Tucholskys, ein Drehbuch zu verfassen:

Interessanterweise saß Tucholsky just zu der Zeit, da Benjamin ihn tadelte, an einem Filmskript. Im August 1931 war „Seifenblasen“ dann fertig, eine Auftragsarbeit für die Nero-Film der Gebrüder Nebenzahl, die im Jahr zuvor G. W. Pabsts „Westfront 1918“ und Fritz Langs „M“ produziert hatten. „Ich habe kein Drehbuch abgeliefert, sondern eine Szenenkette, im Präsens erzählt“, schrieb der Autor an seinen Freund Emil Jannings, „ich glaube: manche Einfälle sind brauchbar.“ Leider waren sie es nicht. „Seifenblasen“, eine Verwechslungskomödie um eine Frau, die sich als männlicher Damenimitator verkleidet, wurde nie produziert, statt dessen trieb die Ufa ein auf der gleichen Idee fußendes Konkurrenzprojekt voran, das zwei Jahre später als „Viktor und Viktoria“ unter der Regie Reinhold Schünzels auf die Leinwand kam.

Leider bleibt in dem Text unerwähnt, dass der Filmwissenschaftler Frank Burkhard Habel von einem Kurzfilm berichtete, der bereits vor dem Krieg nach einer Geschichte Tucholskys gedreht worden war. „Wie kommen die Löcher in den Käse?“ lautete der Titel des 18-minütigen Films, der am 21. September 1932 uraufgeführt wurde. Regisseur war Erich Waschnek, das Drehbuch schrieb Franz Winterstein. Habel konnte auf der Tagung jedoch keine Ausschnitte des Films zeigen, da die Aufnahmen verschollen sind.

1.11.2005

Das Feuilleton an und für sich

Es war eine illustre Runde, die sich auf der Frankfurter Buchmesse zusammengefunden hatte. Marcel Reich-Ranicki, Frank Schirrmacher, Joachim Kaiser und Mathias Döpfner diskutierten über Chancen und Risiken des heutigen Feuilletons. Anlass war der 80. Geburtstag der „Literarischen Welt“, deren Herausgeberin Rachel Salamander die Diskussion moderierte und in deren jüngster Ausgabe ein Protokoll der Debatte erschienen ist.

Dort heißt es einleitend:

Vor 80 Jahren erschien die erste Ausgabe der von Willy Haas gegründeten „Literarischen Welt“. Die glanzvollen Namen dieser Zeit publizierten dort – Hugo von Hofmannsthal, Heinrich und Thomas Mann, Egon Erwin Kisch, Kurt Tucholsky… 1933 mußte die Zeitschrift schließen. Seit 1998 erscheint sie wieder, als Wochenendbeilage der „WELT“

Nun sollte nicht der Eindruck entstehen, als habe Tucholsky in der Zeitschrift regelmäßig publiziert. Genau genommen hat er nur einen Artikel darin veröffentlicht, einmal in einem Brief auf eine Frage von Willy Haas geantwortet und sechs Mal auf die von Reich-Ranicki lobend erwähnten Umfragen reagiert. Die von Tucholsky beantworteten Themenstellungen waren in der Tat interessant und lauteten: Wie soll Ihr Nekrolog aussehen? Was würden Sie tun, wenn Sie die Macht hätten? Was soll mit den Zehn Geboten geschehen? Soll die deutsche Rechtschreibung reformiert werden? Zum Jubiläum einer Buchhandlung. Die Krise des Buches, Wege zu ihrer Linderung.

Was Tucholsky zur Reformierung der Rechtschreibung vorschlug, dürfte auch die Verlagshäuser Springer und FAZ interessieren:

Eine phonetische Rechtschreibung ist solange eine Barbarei, solange die geschichtlichen Erinnerungen und Traditionen der Orthographie nicht untergegangen sind. Sie bestehen heute noch – also soll man keine Reiterkunststücke machen. Wohl aber ließe sich eine Bearbeitung des Duden denken, die die schlimmsten Zacken an dieser Barockfassade ausbricht.
Kurt Tucholsky: „Soll die deutsche Rechtschreibung reformiert werden?“, in: Literarische Welt, 18.7.1930

Interessant auch die Diskussion, die sich an der Frage journalistischer Vorbilder entzündete:

Döpfner: Ich bestreite vehement, daß heute alles schlechter ist und wir heute weniger gute Autoren haben. Wieviel hatten wir denn früher und wieviel sind denn übrig geblieben. Da sagt man immer, ja der Polgar, Kerr, Tucholsky…

Reich-Ranicki: Polgar und Kerr wurden zu ihren Lebzeiten gar nicht gelobt. Ihre Bücher waren unverkäuflich.

Döpfner: Darauf will ich hinaus. Es sind da drei große Namen und daran halten wir uns fest und dann sagen wir, wen hatten wir denn in den vergangenen Jahrzehnten (…)

Es gab wohl kaum einen Journalisten, den Tucholsky mehr gelobt als Polgar. Und dass es mehr als diese drei Namen gab, zeigt die Autorenliste der „Weltbühne“ deutlich genug.

25.10.2005

Satire, Satire über alles

Der 70. Todestag Tucholskys rückt näher und damit auch der Zeitpunkt, an dem der Urheberschutz an seinem Werk erlischt. Vom 1. Januar 2006 an können beliebig viele Tucholsky-Texte veröffentlicht und vorgetragen werden, ohne eine Erlaubnis bei den bisherigen Rechte-Inhabern, der Kurt Tucholsky-Stiftung, einholen und Honorare entrichten zu müssen.

Dass nun Verlage auf die Idee kommen, neueTucholsky-Ausgaben zu publizieren, war nicht anders zu erwarten. Dazu ist das Werk Tucholskys noch immer zu populär. Eine erste Ankündigung dieser Art liegt inzwischen vor. Sie stammt vom Verlag Berliner Konsortium, – und darin wird der Wegfall des Urheberschutzes mit dem schönen Satz umschrieben:

Mit einem „Relaunch“ von Kurt Tucholskys kritischem Bilderbuch „Deutschland, Deutschland über alles“ wird der Verlag „Berliner Konsortium“ den 70. Todestag des bekannten Publizisten würdigen.

Der „Relaunch“ wurde von dem Journalisten Timo Rieg besorgt, der das Original um eigene Texte ergänzte und die Fotos vollständig durch aktuelle Aufnahmen ersetzt hat. Eine sicherlich reizvolle Idee, so lange dahinter nicht Überzeugung steht, dass die Berliner Republik irgendetwas mit der Weimarer zu tun hat. Das lässt aber ein Satz aus der Buchankündigung befürchten, die sich auch leider dadurch auszeichnet, dass dem verehrten Textlieferanten postum etwas kumpelhaft auf die Schulter geklopft wird:

Das Spannende ist gerade die Komposition von Tuchos 76-jährigen Texten mit Bildern unserer Gegenwart, denn: viel hat sich offenbar nicht geändert, die Grundkritik ist identisch.

Der 1. Januar 2006 darf daher mit Spannung erwartet werden.

PS: Das Original konnte sich wenigstens noch ein Komma zwischen den beiden Deutschlands imTitel leisten.

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