22.8.2005

Stöckelschuhe im Einheitsbrei

Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich die Feuilletons der „Neuen Zürcher Zeitung“ und des Berliner „Tagesspiegels“ abgesprochen haben. Aber die Art und Weise, in der sich zwei Beiträge in deren Sonntagsausgaben ergänzen, ist schon frappant. Da beklagt Regula Freuler in der „NZZ“ den „optischen Einheitsbrei auf dem Büchertisch“ und lässt Tucholsky meckern:

„Neuerscheinung! Soeben erschienen! Nur ja nichts lesen, was schon länger als vier Tage aus der Druckerpresse heraus ist!“ Kurt Tucholsky hatte gut schimpfen. Wenn er bereits 1930 den Buchmarkt als „Hochflut“ bezeichnet – durch die er als Kritiker viele Bahnen zog -, gehört heute eigentlich ein Tiefsee-Tauchbrevet ins Curriculum von Literaturredaktoren.

Aber nicht nur die schiere Masse an Neuerscheinungen stört Freuler:

Wenn es nur die Flut wäre. Schlimmer ist der optische Einheitsbrei: Stöckelschuhe, Frauenbeine, Stöckelschuhe, Frauenbeine – zum Davonlaufen!

Da hatten es die Leser früherer Generationen noch besser, um auf den Artikel im „Tagesspiegel“ zu sprechen zu kommen. Schon Tucholsky lobte 1932:

Wenn ich nicht Peter Panter wäre, möchte ich Buchumschlag im Malik-Verlag sein. Dieser John Heartfield ist wirklich ein kleines Weltwunder. Was fällt ihm alles ein! Was macht er für bezaubernde Dinge. Eine seiner Fotomontagen habe ich mir rahmen lassen, und aufbewahren möchte man sich beinah alle.

Letzteres war gar nicht nötig, denn das haben andere für Tucholsky übernommen. Das Ergebnis dieser Sammelleidenschaft lässt sich nun in einem äußert umfangreichen Bildband bewundern, den der „Tagesspiegel“ in dem Artikel „Eingeschlagen, umgeschlagen“ präsentiert:

„Blickfang. Bucheinbände und Schutzumschläge Berliner Verlage 1919 – 1933“ heißt das monumentale Kompendium, das in 86 alphabetisch geordneten Kapiteln glatte 1000 Buchumschläge farbig wiedergibt und oft die Rückseiten und Buchrücken dazu.

Vielleicht lassen sich ja einige Graphiker von dem drei Kilo schweren „Erschlagewerk“ aus dem Holstein-Verlag inspirieren, damit die Prophezeiung der „NZZ“ fürs nächste Jahr vielleicht doch nicht wahr wird:

„Wir wollen nicht das Neuste lesen; wir wollen das Beste, das Bunteste, das Amüsanteste lesen.“ Die Waage, lieber Herr Tucholsky, die diese drei im Gleichgewicht hält, muss erst noch erfunden werden. Bis dahin gilt: Auf in die nächste Stöckelschuh-Saison!



Von John Heartfield gestaltetes Cover

Startseite

Powered by WordPress