1.1.2004

Traktat über den Hund, sowie über Lerm und Geräusch: 2. Satire

Die Wahrheiten müssen Akrobaten
werden, damit wir sie erkennen.
O. W.

„Über Lerm und Geräusch.“ So schrieb Schopenhauer: ‚Lerm’ – mit einem E; plattköpfig und stumpf kroch das um ihn herum, was er, außer Hegeln, am meisten haßte. Den Lärmempfindlichen hat er Komplimente gemacht, die wir bescheiden ablehnen …
Da habe ich über die Hunde traktiert, eigentlich mehr über das nervenabtötende Gebell dieser Tiere, und man muß schon das Vaterland, das teure, und was an Generalen, Zeitungen und deutschen Männern drum und dran hängt, beleidigen, um einen solchen Lerm zu erleben. Die Aufregung, die aus Prag herüberkam, kann ich mir nur so erklären, daß Schwejk dort mit herrlich gefälschten Hunden gehandelt hat; was ich daselbst gedruckt zu hören bekommen habe, war allerdings freundlich und ging noch an. Aber die Briefe, die die Hundefreunde geschrieben haben, die kann man nicht erfinden. „Ich bin noch nie von einem Hund verbellt worden – der Hund bellt nur schlechtgekleidete Sujets an“ und: „Wollte mal fragen, ob Sie keine Würstchen unter sich lassen – erfinden Sie doch mal einen Nachttopf für Hunde!“, und ein ‚Reichsbund zur Wahrung der Hundebelange’ schloß seinen Brief: „Wir zeichnen, weil es so üblich ist, mit Hochachtung“ – da haben wir Glück gehabt, und so in infinitum zur Morgenund zur Abendsuppe. Wenn ich ein Hund wäre: solche Freunde möchte ich nicht haben.
Abgesehen von der triefäugigen Sentimentalität, die alle Vorwürfe akkordiert, wenn sie gegen menschliche Säuglinge gerichtet sind, die ohne Grund brüllten, sich einmachten und überhaupt, im Gegensatz zu den süßen Hündlein, abscheulich seien – abgesehen von der göttlichen Liebe, die sich da verklemmt hat: ich habe keine leichte Zeit hinter mir. Wilhelm Speyer, der etwas von Tieren versteht, hat mir in mein hochfein möbliertes Haus geschrieben, ich sei wohl vom wilden Strindberg gebissen – ein Mann in meinen Jahren! Kurz: keiner der obbezeichneten Hunde möchte hinfürder noch ein Stück Brot von mir nehmen, wenn er eins bekäme. Lasset uns beten. Und ernsthaft untersuchen, was es denn da gegeben hat.
Durch nichts, aber auch durch nichts kann man Menschen so aus dem Häuschen bringen als dadurch, daß man ihnen verbietet, gewohnten Lärm zu machen. Du kannst eine Monarchie durch eine gleich minderwertige Republik ablösen – darüber läßt sich reden. Aber der Lärm ist geheiligt.
Der Städter ist ein armes Luder.
Zu essen bekommt er, was ihm die Händler geben, es wird nicht sauberer durch die Hände, die es passiert; vom Grund und Boden weiß er nur, daß er den andern, immer den andern gehört, und widerstandslos erduldet er die satanische Komik von Grundstücksspekulanten, die mit der Haut der Erde handeln, unter die man sie – sechs Fuß tief – herunterläßt, wenn alles vorbei ist, und in deren wahre Tiefen niemand dringt; unfrei ist der Städter, gebunden an Händen, Füßen, Valuta, Schullesebuch und Vaterland. Aber eine Freiheit hat er, nimmt er sich, mißbraucht er – einmal besauft sich der Sklave und spielt torkelnd den Herrn. Er macht Radau.
Daß einer eng am andern wohnt, weiß der eine; daß man nicht Feuer im Hof anzünden, nicht nachts in einer Wohnung, dem überzahlten castle, Pferde zureiten darf; daß man nicht aus dem Fenster schießt: das hat sich allmählich herumgesprochen. Belästigungen durch Rauch, durch Geschosse, durch Rohrund Drahtleitungen, ja, durch Aufstellung von Reklametafeln sind Gegenstand braver bürgerlicher Prozesse.
Lärm aber darf gemacht werden.
Die Hundefreunde, denen man untersagt, ihren Köter zu quälen, ihn einzusperren, ihn stundenlang bellen zu lassen, fühlen sich im Heiligsten getroffen; in ihrer, verzeihen Sie das harte Wort, Freiheit.
Hat der Parzellenmensch eine Prärie um sich? Er ist in Schubladen wohnend untergebracht und richtet sich auch in allem danach – nur das Ohr des Schubladennachbarn ist Freigut; die Gehörsphäre braucht nicht geschont zu werden. Alles, was an Einfluß auf Krieg und Frieden, auf Verwendung der Steuern nicht vorhanden ist, tobt sich im Hause aus. Darin nähern sich besonders Frauen dem Urzustand der Primitiven.
Als ich das letzte Mal in Berlin wohnte, da rollte jeden Morgen eine Stunde lang eine reitende Artillerie-Brigade über die Decke dahin: eine deutsche Hausfrau (e. V.) ackerte dort ihr Schlafzimmer, anders war der Lärm nicht zu erklären.
Nun sind aber die Lebensgewohnheiten im bürgerlichen Haushalt keinem Wechsel der Geschichte unterworfen; „der bürgerliche Haushalt wird nur deshalb betrieben, damit der archäologische Forscher dort noch heute die Arbeitsmethoden der Steinzeit studieren kann“ (Sir Galahad). Hier eingreifen stößt auf Mord. Keine Zeitung, die es wagen könnte, in diesen Muff eine wettersichere Grubenlampe hinunterzulassen – das Geschrei von Hausfrauen, klavierübenden und gesangsheulenden Damen beiderlei Geschlechts, von organisierten Tierfreunden und reinmachewahnsinnigen Besessenen dampfte ihr entgegen. In meiner Wohnung kann ich machen, was ich will – das wäre ja gelacht.
Es ist zum Weinen.
Denn da und nur da sind die Wurzeln ihrer Kraft. Das ändere du mal. Da zeig mal, was du kannst. Sie machen sich das Leben schwer, den andern zur Hölle – und sie sind so stolz darauf! Die Reinmachenden machen nicht rein: sie unterliegen gewissen Zwangsvorstellungen einen Hausgott ehrend, der unerhörte Opfer verlangt – mit Sauberkeit hat das wenig zu tun. Es ist Recht, Pflicht und göttliches Gebot, dem Nachbarn den Teppichstaub in den Suppentopf zu schlagen; wie Kanonenschläge hallt das durch die steilen Steinhöfe. Ordnung muß sein. Der schwarze Hals des Lautsprechers gurgelt im schweren Übelsein heraus, was er zuviel an Lärm gefressen hat – dazu öffnet man füglich die Fenster, damit der Nachbar auch etwas davon habe, und wenn Ihnen det nich paßt, denn missen Se ehm inne Wieste ziehn.
Aber das wird nicht gut auslaufen. Denn in der Wüste steht das Zelt des Forschungsreisenden Karbumke, und der hat einen Hund. Und der Hund steht, am Zeltpflock angebunden, und bellt alles an, was sich ringsum bewegt. Es soll sich, außer seinen Flöhen, nichts bewegen.
Bleiben wir im Lande und nähren wir uns redlich, die Ohren mit Wachs verklebt wie die Gefährten des Odysseus, die die Musik-Etüden des Sirenen-Konservatoriums nicht hören sollten. Schrei: „Ruhe!“ Eine Flut von Schimpfworten, Geheul, Rufen, eine Wolke von geschwungenen Federbesen, eine Welle von Papierfetzen, alten Pappdeckeln, Holzstücken und Müllwasser rauscht auf. Ich weiß, wo sie verletztlich sind. Es juckt, sie da anzufassen. Da, in der Abwehr, auch da, wo sie recht haben, zum Beispiel in der Beurteilung ihrer Hunde, sind sie ganz sie selbst. Die Haut reißen sie sich herunter, so nackt sind sie da. Und keine Zeitung, keine Broschüre, kein Buch kann sie in diesem Punkt ändern. In der Stickluft dieser ungelüfteten Treibhäuser gedeihen die Mikroben der Religion, des Berufskostüms und des Vaterlandes.
Und zu wissen, daß man dazu gehört und einer von ihnen, und daß da kein Grund ist zu überheblichem Mitleid, daß das Spiel mitzuspielen ist, Gleicher unter Gleichen, und daß man helfen soll und lieben. Denn manchmal weinen sie und paaren sich seufzend und lallen mit ihren Kindern und sind selber welche und machen mancherlei Lerm und Geräusch.


Autorenangabe: Peter Panter
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 4. Oktober 1927, Nr. 40, S. 522

Wieder in: Das Lächeln der Mona Lisa. Berlin 1929.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1927, S. 717 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 5, S. 328 ff.

Traktat über den Hund, sowie über Lerm und Geräusch: 1. Scherz

a) Das Tier

Wie dem Hund, dem auf dem Wege
vom Herzen zum Maule alles zum
Gebell wird.
Alfred Polgar

Der Hund ist ein von Flöhen bewohnter Organismus, der bellt (Leibniz). Dieser Definition wäre einiges hinzuzufügen.
Im Hund hat sich der bäuerische Eigentumstrieb des Menschen selbständig gemacht; der Hund ist ein monomaner Kapitalist. Er bewacht das Eigentum, das er nicht verwerten kann, um des Eigentums willen und behandelt das seines Herrn, als gebe es daneben nichts auf der Welt. Er ist auch treu um der Treue willen, ohne viel zu fragen, wem er eigentlich die Treue hält: eine Eigenschaft, die in manchen Ländern hoch geschätzt wird. Sie ist für den Betreuten recht bequem.
Einem Hund, der etwas bewacht, zuzusehen, kommt dem Erlebnis gleich, einen Urmenschen zu beobachten. Er ist stets unsicher, unruhig und macht sich mit Lärm Mut – er greift an, weil ihn seine Angst nach vorn treibt.
Der Hund ist ein anachronistisches Wesen.
Der Hund lebt ständig im Dreißigjährigen Krieg. In jedem Briefträger wittert er den fahrenden Landsknecht, im Milchmann die schwedische Vorhut, im Freund, der uns besucht, den Gottseibeiuns. Er bewacht nicht nur den Hof seines Herrn, sondern auch den Weg, der daran vorbeiführt, und versteht niemals, daß die Leute, die dort gehen, neutral sind – diesen Begriff kennt er nicht. Seine Welt zerfällt in Freunde (seines Futternapfes) und in gefährliche Feinde. Undressierte Hunde leben noch im Urzustand der Erde.
Der Hund bellt immer.
Er bellt, wenn jemand kommt, sowie auch, wenn jemand geht – er bellt zwischendurch, und wenn er keinen Anlaß hat, erbellt er sich einen. Er hört auch so bald nicht wieder auf, ja, es scheint, als besäßen die Hunde eine Bellblase, die man nur anzustechen braucht, damit sie sich entleere. Ein besserer Hund bellt seine vier, fünf Stunden täglich. (Weltrekord: Hund Peschke aus Königswusterhausen; bellte am 4. Oktober 1927 zweiundfünfzigtausendvierhundertachtundsiebzigmal in sechzehn Stunden. Als das vorbei war, sprach sein Herr: „Ich weiß gar nicht, was der Hund hat – er ist so still?“)
Wenn ein Hund sehr lange bellt, hört es sich an, als übergebe sich einer.
Ein Hund bellt, wenn er mit den Sinnen etwas wahrgenommen hat; daraufhin, weil ihn sein Bellen erschreckt und aufregt, und des weiteren, weil sich das wahrgenommene Objekt um ihn kümmert, nicht um ihn kümmert oder davonläuft. Dieses Geschrei wird von vielen Leuten als Wachsamkeit ausgelegt; schon der französische Kynologe Hispa sagt: „Der Hund ist ein wachsames Tier, das mit seinem Gebell den Herrn nachts aufweckt, damit der aufsteht und ruft: ‚Halt die Schnauze!’“ Da Hunde immer bellen, so dient ihr Gebrüll lediglich dazu, daß sich die Einbrecher vor ihrem Geschäft Gift besorgen und es dem Hundchen streuen.
Niemanden haßt der Hund so wie den Wolf; er erinnert ihn an seinen Verrat, sich dem Menschen verkauft zu haben – daher er dem Wolf seine Freiheit neidet, ihn hassend fürchtet und sich durch doppelten Verrat beim Menschen lieb Hund zu machen sucht.
Hunde blaffen mit Vorliebe schlecht gekleidete Menschen an, wie sie überhaupt die mindern Eigenschaften des Besitzers personifizieren. Nachts, wenn kein Fremder da ist, machen sie eine alte Familienfehde mit dem Mond aus. Der Mond, den das nächtliche Gebell auf der Erde stört, kehrt ihr darum seit Jahr und Tag sein blankes Hinterteil zu. Wir kommen nunmehr zu dem Tierhalter.

b) Der Tierhalter

Hundebesitzer sind die rücksichtslosesten Menschen auf der Welt.
Hier soll nicht einmal von jenen gesprochen werden, die ihrem Mistbatzen das Fressen aus Restaurationsschüsseln reichen; der Hund, frisch aus dem Popo einer Hundedame entronnen, steckt seine feuchte Nase in deinen Teller … Aber auch sonst können Hundebesitzer zum Beispiel nicht begreifen, daß der Lärm, den ihr Liebling macht, andern Leuten nicht angenehm ist. Kein grünes Rasenstück, das er nicht verbellt.
Die Ausdehnung einer Lärmglocke, die ein bellender Hund seinen Nachbarn über den Kopf stülpt, beträgt etwa achtzehnhundert Kubikfuß; auf diese Entfernung hin hat alles an den Entzückungen, Anfällen und Aufregungen eines mittleren Hundes teilzunehmen. Es ist also unsre Pflicht, uns mit ihm zu erheben, sein Vormittagsgeschrei sowie sein Nachmittagsgebell mit ihm zu teilen, und nachts zu lauschen, wie er, wenn Nachtigallen fehlen, das Mondgesäß beschimpft.
Auf diese Weise sind Villen-Vororte großer Städte fast unbewohnbar geworden, weil sich jeder gegen jeden mit einer Bellmaschine gesichert hat, die angeblich gegen Einbrecher gut ist. Es muß danach angenommen werden, daß in Vororten niemals mehr eingebrochen werden kann. Wird aber.
Ich habe mich schon so an das Gebell gewöhnt, daß ich es hier, am Kap der Roten Grütze, sehr entbehre. Kunstschriftsteller Hasenclever hat sich jedoch erboten, jeden Morgen zum Frühstück zu kommen und ein Stündchen zu bellen.
Es ist nunmehr die Stelle des Aufsatzes gekommen, wo der Hundebesitzer seinem Flohtier über die Nase streicht, mit der jener die kleinen Hundewürstchen und den Urin der Verwandten aufriecht, und spricht: „Was schreiben sie denn da alles von dir! Jaa! Nicht wahr, du bellst nicht? – nein!“ Und zu mir, fortfahrend: „Sie sind aber nerfeehs!“
Hätte einer im Zeitalter Ludwigs des Quecksilbernen bemerkt: „Nun wollen wir uns einmal alle jeden Morgen die Füße waschen!“ – so hätte er sich mit einem hohen katholischen Heiligen entschuldigen müssen, sonst hätten sie ihn verbrannt. Hätte er für frische Luft plädiert, für Hygiene der Säuglinge – er wäre genau so ausgelacht worden wie einer, der heute für Stille plädiert. Was Stille bedeutet, wissen sie noch nicht.
„Ich höre das gar nicht!“ sagen sie. Es ist nicht wahr; sie hören es doch. Davon wissen ihre Untergebenen zu sagen, die Lärm, Geratter, Wagenstöße, Klavierspiel und Hundegebell ausbaden müssen. „Was der Alte nur hat?“ sagen sie dann. Es ist der Lärm. Seine schlechte Laune ist der Lärm, der aus ihm herausbrodelt und der wieder ans Licht will; er hat ihn von den Ohren her nach innen gesogen; es hilft ihm aber nichts, er kommt wieder hochgegurgelt. Um es ‚nicht zu hören’, verbrauchen sie so viel unnötig vertane Kraft, die man besser anwenden könnte. Der Beweis dafür ist die Steigerung aller Lebenskräfte, wenn es einem gelingt, in das Reich der ungebrochenen Stille einzudringen; in den Bergen, im Luftballon über dem Meer, auf dem Segelboot, am windstillen Tag im Wald. Da lassen die Nervenstränge nach, da entspannt sich der Wille, da ruht der Mensch. In der vollkommenen Stille hört man die ganze Welt. Nur so ist wahre Erholung möglich; sie ist aber fast unerreichbar. Gegen diese wohltuende Wirkung der Stille auf den Intellekt gibt es nur ein einziges Gegenargument: das sind die Regierungsgebäude, die gewöhnlich in stillen Parks liegen.
Menschen, die sich lebende Hunde in Mietwohnungen halten, sollten mitsamt ihrem Köter aus der Wohnung gejagt werden.
Menschen, die einen Hund anbinden oder einsperren, verdienen, ihrerseits angebunden zu werden. Es ist das äußerste an Quälerei, ein jagendes, laufendes und unruhiges Tier zu fesseln und in seiner Freiheit zu beschränken. Diese Leute haben gar keinen Hund – sie haben nur ein Stückchen Hund; der Rest ist unterdrückt und rächt sich mit flammendem Gebell.
Ich habe noch nie gesehen, daß Hundebesitzer mit Erfolg ihren Hunden, wenn sie unnütz kläffen, zu schweigen befehlen. Weil jene stumpfohrig sind, hören sie das Gebelfer nicht und bürden nun andern die Plage auf.
Dafür haben Hundebesitzer den Tick, als ‚bessere Menschen’ durchs Leben zu gehen. Sie haben erfunden, daß es ein Zeichen von Seele sei, Hunde zu lieben, ihren schmutzigen Geruch zu ertragen, ihr lästiges Geschrei mitanzuhören. Ihre Persönlichkeit kriecht in den Hund, wo sie den Kampf ums Dasein noch einmal mitkämpft: „Mein Hund läuft aber schneller als Ihrer!“ Das ist ein großer Sieg.
Etwas gegen den Hund zu sagen, heißt für viele, am Heiligsten rühren, wo der Mensch hat. Die Hundenarren sind häufig ganz erbarmungslose Menschen; Leute, die einen Kommunisten vor ihrer Tür verbluten ließen, nicht eine Mark für entlassene Gefangene geben, überhaupt nichts Gutes tun – ihren Hund lieben sie mit jener stummen Aggressivität, die das beste Zeichen eines hohlen Affekts ist. Der Hund ist ihnen nicht nur Schutz, sondern auch Selbstbetätigung.
Nie legt ein Hundebesitzer in das Tun der Menschen a priori so viel Gutes wie in den Blick seines Hundes. Wenn ihn der ansieht, zerschmilzt er vor Lyrik. Ein Bettler wird ihn vergebens so ansehen. Der sentimentalitätstriefende Blick jenes aber heischt mit Erfolg verschmiertes Mitleid.
So ist der treue Hund so recht ein Ausdruck für die menschliche Seele. Allerseits geschätzt; nur selten in der Jugend ersäuft; gehalten, weil sich der Nachbar einen hält, von feineren Herrschaften auch als Schimpfwort benutzt – so bellt er sich durchs Leben. Und ich will nicht länger murren, wenn es kaum noch einen Fleck gibt, den er nicht verunreinigt: mit Unrat, nassem Geruch und mit nimmer endendem Lärm. Seiner Gnade ist unsre Ruhe ausgeliefert.
Eine fortgeschrittene Zivilisation wird ihn als barbarisch abschaffen.


Autorenangabe: Peter Panter
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 2. August 1927, Nr. 31, S. 181
Wieder in: Das Lächeln der Mona Lisa. Berlin 1929

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1927, S. 709 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 5, S. 324 ff.

Brief an Arnold Zweig

Zürich, 15.12.35

Lieber Arnold Zweig, ich danke Ihnen herzlichst für Ihren Brief vom 13.11. Dank für alle freundlichen Worte – und wenn Sie mir neben ‚Verdun‘ auch die ‚Bilanz der Judenheit‘ schicken lassen wollten, so wäre ich Ihnen sehr dankbar. Daß ich erst heute antworte, liegt an meinem Gesundheitszustand: es geht mir nicht gut.

Ja, da wäre also einiges zu sagen.

Sie sind, lieber Zweig, einer der so seltenen Schriftsteller, die eine Kritik (damals über Grischan) so aufgenommen haben, wie sie gemeint gewesen ist: nämlich freundschaftlich. Das habe ich Ihnen nicht vergessen. Deshalb möchte ich Ihnen etwas schreiben, das wenig mit Ihrem Werk, viel mit Ihrer Anschauung zu tun hat – es richtet sich gar nicht an Sie, aber ich spreche zu Ihnen.

Ich bin im Jahre 1911 „aus dem Judentum ausgetreten“, und ich weiß, daß man das gar nicht kann. Die Formel vor dem Amtsgericht lautete so. Sie wissen, daß damit keine Konjunkturriecherei verbunden gewesen ist, ein Jude hatte es im Kaiserreich erträglich, ein Konfessionsloser nicht. (Militär, vadächtiger Hund, vadächtiga.) Warum also tat ich das -? Ich habe es getan, weil ich noch aus der frühsten Jugendzeit her einen unauslöschlichen Abscheu vor dem gesalbten Rabbiner hatte – weil ich die Feigheit dieser Gesellschaft mehr fühlte als begriff … Wendriner war damals noch nicht geboren. Doch – aber er hatte noch keinen Namen. Also heraus.

Antisemitismus habe ich nur in den Zeitungen zu spüren bekommen, im Leben nie. Mit dem feinen Instinkt der die Boches auszeichnet, haben mich viele Leute nicht für einen Juden gehalten, was ich nicht geschmeichelt anmerke, sondern belustigt. In dreieinhalb Jahren Militär: nichts. Zuletzt war ich Polizeikommissar – auch nicht die Spur eines Hauches einer Idee. Ich habe mit den Kerlen im Kasino gesoffen, was mir eine gute Kenntnis des Milieus für später ermöglicht hat – nichts war zu spüren. Ich spreche also nicht aus Ressentiment.

Auch gehöre ich nicht zu den bekannten jüdischen Antisemiten.

Über Palästina erlaube ich mir keinerlei Bemerkung –: ich kenne die Verhältnisse nicht. Zweierlei fällt mir auf:

Das ist kein jüdischer Staat, sondern eine englische Kolonie, in der die Juden – wie unter Pontius Pilatus – eine Rolle spielen, die mir nicht schmeckt und wohl manchen Juden dort unten auch nicht. Zweitens: die deutschen Juden, die Geld hatten, durften nur heraus, wenn sie statt ihres Geldes eine Abmachung mit herausnahmen, bei der Palästina mit deutschen Waren überschwemmt wird.

Doch ist das Sache der Zionisten, und da ich nicht mittue, nehme ich mir wenig Recht, zu kritisieren. Wohl aber darf ich Ihnen sagen:

Was sind Sie -? Angehöriger eines geschlagenen, aber nicht besiegten Heeres? Nein, Arnold Zweig, das ist nicht wahr. Das Judentum ist besiegt, so besiegt, wie es das verdient – und es ist auch nicht wahr, daß es seit Jahrtausenden kämpft. Es kämpft eben nicht.

Die Emanzipation der Juden ist nicht das Werk von Juden. Diese Befreiung ist den Juden durch die Französische Revolution, also von Nicht-Juden, geschenkt worden – sie haben nicht dafür gekämpft. Das hat sich gerächt.

Sie sagen: Ja, es gibt Wendriners, ich nehme sie aus, sie sind mir fatal – aber … Ich sage: Es gibt auch anständige Juden, ein paar, wie die Emigrationsziffer zeigt, noch nicht 10% – ich nehme sie aus – ich habe die größte Achtung vor ihnen, vor ihrem stillen Leiden – aber … Aber -? Der Rest taugt nichts.

Es ist nicht wahr, daß die Deutschen verjudet sind. Die deutschen Juden sind verbocht.

Mir hat schon diese faule und flaue Erklärung nie gefallen, mit der man mir erzählt hat: Die Gettojuden im 16. Jahrhundert konnten nicht anders, sie waren bedrückt, man ließ sie ja nichts andres tun als schachern. Nein, lieben Freunde. Getto ist keine Folge – Getto ist Schicksal. Eine Herrenrasse wäre zerbrochen – diese da „müssen doch leben“. Nein, so muß man nicht leben, so nicht.

Aber lassen wir die mittelalterlichen Juden – nehmen wir die von heute, die von Deutschland. Da sehen Sie, daß dieselben Leute, die auf vielen Gebieten die erste Geige gespielt haben, das Getto akzeptieren – die Idee des Gettos und ihre Ausführung. Ich sehe diese Schweinekerle bis hierher – ohne mich um sie zu kümmern, ich lese keine deutschen Zeitungen und so gut wie gar keine Emigrationslitertur – ich sehe sie. Man sperrt sie ein; man pfercht sie in Judentheater mit vier gelben Flecken vorn und hinten, und sie haben (wie ich das höre!) nur einen Ehrgeiz: „Nun werden wir ihnen mal zeigen, daß wir das bessere Theater haben!“ – Pfui Deibel. Und sie spüren es nicht. Sie sehen es nicht. Sie merken es nicht.

Ich füge Ihnen einen Ausschnitt aus einem londoner Brief bei, der nur in halb spaßiger Form das Äußerliche und doch auch das Innerliche gibt. Es ist noch viel schlimmer – das ist nur eine Illustration. Es ist so:

Der Jude ist feige. Er ist selig, wenn ein Fußtritt nicht kommt – ihn so als primär annehmend, als das, was ihm zukommt. Er duckt sich. „Nur Geschäfte!“ – aber das ist es nicht allein. Es ist noch ganz etwas andres – es ist das absolute Unvermögen, zu begreifen, was Heroismus überhaupt ist. Ich kenne die Einwände alle, ich kann sie im Schlaf – nur im Schlaf – aufzählen: „Was haben Sie denn für heroische Taten vollbracht – haben Sie vielleicht … “ Das ist der Refrain, den ich heute zu hören bekäme, wäre ich schamlos genug, vor einem Parterre voll Dreck aufzutreten – so wie ich früher zu hören bekommen habe: „Was haben Sie davon? Haben Sie das nötig?“

Aber der große Moment fand ein kleines Geschlecht.

Wie! Nicht zu begreifen, daß im März 33 der Augenblick gekommen war, in umgekehrter Proportion auszuziehen – also nicht wie heute einer auf zehn, sondern einer hätte da bleiben müssen, und neun hätten gehen müssen, sollen, müssen. Hat sich auch nur ein Rabbiner gefunden, der der Führer seines Volkes gewesen ist? Auch nur ein Mann? Keiner. In Nürnberg wohnte eine so reiche und einflußreiche Judengemeinde – dort ist der Herr Streicher groß geworden. „Lassen Sie doch den Mann! Nur ka Risches!“ Und habe ich nicht mit eigenen Augen gelesen, daß die Gemeinde in Frankfurt, als die ersten Pogrome, ich glaube 1931, einsetzten, den Gläubigen empfahl, nach dem Gottesdienst gleich nach Hause zu gehn und Ansammlungen auf der Straße – auf ihrer Straße – lieber Zweig – zu vermeiden? So war es.

Wohin unsere Warnungen gefallen sind, wissen Sie. Und dann war es zu spät – es war vielleicht noch eine Sekunde Zeit – und was war dann?

Dann taten die Leute etwas, das mir immer das Wort Beer-Hofmanns, das er einmal zu mir gesagt hat, ins Gedächtnis zurückruft: „Der Jude ist gar nicht klug. Die andern sind, in manchen Gegenden, nur dümmer.“ So ist es.

Hätten Sie dem Durchschnitts-Juden im Jahre 1933 gesagt, er würde Deutschland unter Bedingungen verlassen, wie sie ihm das Jahr 1935 ff. bieten, er hätte Sie ausgelacht. „Ich kann doch nicht weggehn! (und nun, wie ein Spieler) Ich bin doch im Verlust! Was meinen Sie – mein Geschäft … “ Und jetzt schleichen sie heraus, trübe, verprügelt, beschissen bis über die Ohren, pleite, des Geldes beraubt – und ohne Würde. (Sich aber besser dünkend.)

Heroismus war hier nun auch noch das bessere Geschäft. Also warum haben sie diesen Weg nicht gewählt? Weil sie nicht heroisch sein können; weil sie gar nicht wissen, was das ist.

Es steht bei dem großen Péguy, den ich Ihnen gar nicht genug empfehlen kann, eine Stelle, in der es ungefähr heißt: Die Juden hören nicht gern auf ihre Propheten, denn sie wissen, was das kostet. Ihre jahrhundertelange Erfahrung … und so fort, recht philosemitisch. Das ist wacker und brav – aber es ist nicht wahr.

Wer die Freiheit nicht im Blut hat, wer nicht fühlt, was das ist: Freiheit – der wird sie nie erringen. Wer das Getto als etwas von vornherein gegebenes akzeptiert, der wird ewig darin verbleiben. Und hier und nur hier steckt das Versagen der gesamten deutschen Emigration, aus der ich keine Judenfrage machen möchte – hier ist ihre Schuld, ihre Erbärmlichkeit, ihre Jämmerlichkeit. Das ist nichts.

Das klingt nun so, wie wenn das gegen den gerichtet wäre, an den ich diesen Brief richte – aber mit Ihnen hat das nur sehr mittelbar zu tun. Ich kann Ihnen zwar nicht folgen, wenn Sie die Jüdin loben, weil sie Eigenschaften hat, die ich bei andern genauso sehe („Sie weiß auf Gartenfesten schön zu sein“ – aber das kann Minchen Müller auch) – aber ich weiß, daß Sie nie einen Daumenbreit nachgäben. Ich klage vor Ihnen – ich belle Sie nicht an. Ich klage die Gesinnung der Juden an, und viel weiter gehend, die Gesinnung der sog. „deutschen Linken“, und hier darf das Wort nebbich angewandt werden.

Man hat eine Niederlage erlitten. Man ist so verprügelt worden, wie seit langer Zeit keine Partei, die alle Trümpfe in der Hand hatte. Was ist nun zu tun -?

Nun ist mit eiserner Energie Selbsteinkehr am Platze. Nun muß, auf die lächerliche Gefahr hin, daß das ausgebeutet wird, eine Selbstkritik vorgenommen werden, gegen die Schwefellauge Seifenwasser ist. Nun muß – ich auch! ich auch! – gesagt werden: Das haben wir falsch gemacht, und das und das – und hier haben wir versagt. Und nicht nur: die andern haben … sondern: wir alle haben.

Was geschieht statt dessen? Statt dessen bekommen wir Lobhudeleien zu lesen, die ich nicht mag – Lob der Juden und Lob der Sozis und der Kommunisten – „sie sitzen da und hochachten einander“ heißt es einmal im Schwedischen. Und das ist keine Sache der Partei. Eine Geißlung so einer Schießbudenfigur wie Breitscheids vorzunehmen oder Hilferdings oder sonst eines – das ist ja Leichenschändung. Doch haben weder die noch irgendein andrer, wenigstens ist mir kein Beispiel bekannt, überhaupt begriffen, was ihnen geschehen ist. „Ohne Hören, ohne Sehen, stand der Gute sinnend da, und er fragt, wie das geschehen und warum ihm das geschah.“

Statt einer Selbstkritik und einer Selbsteinkehr sehe ich da etwas von „Wir sind das bessere Deutschland“ und „Das da ist gar nicht Deutschland“ und solchen Unsinn. Aber ein Land ist nicht nur das, was es tut – es ist auch das, was es verträgt, was es duldet. Es ist gespenstisch, zu sehen, was die pariser Leute treiben – wie sie mit etwas spielen, was es gar nicht mehr gibt. Wie sie noch schielen – wie sie sich als Deutsche fühlen – aber zum Donner, die Deutschen wollen euch nicht! Sie merken es nicht.

Das ist Deutschland. Die Uniform paßt ihnen – nur der Kragen ist ihnen zu hoch. Etwas unbequem – etwas störend – so viel Pathos und so wenig Butter – aber im übrigen? Wie sagt Alfred Polgar: „Der Umfall beginnt damit, daß man hört: Eines muß man den Leuten lassen … “ Und sie lassen ihnen das eine und das andere und dann alles.

Das ist bitter, zu erkennen. Ich weiß es seit 1929 – da habe ich eine Vortragsreise gemacht und „unsere Leute“ von Angesicht zu Angesicht gesehen, vor dem Podium, Gegner und Anhänger, und da habe ich es begriffen, und von da ab bin ich immer stiller geworden. Mein Leben ist mir zu kostbar, mich unter einen Apfelbaum zu stellen und ihn zu bitten, Birnen zu produzieren. Ich nicht mehr. Ich habe mit diesem Land, dessen Sprache ich so wenig wie möglich spreche, nichts mehr zu schaffen. Möge es verrecken – möge es Rußland erorbern – ich bin damit fertig.

Ich glaube Sie als Schriftsteller zu kennen – es ist möglich, daß Sie sich hiermit auseinandersetzen. (Es wäre mir in einem solchen Falle lieb, sehr lieb, wenn Sie meinen Namen fortließen; ich will nicht einmal als Diskussionsbasis über deutsche Dinge dastehn – vorbei, vorbei.) Aber ich kann nicht unrecht haben –: die Tatsachen sprechen für mich. Die Tatsache, daß es ein Volk gibt (Juden und die schwächliche deutsche Bourgeoisie, die sich als links ausgab oder es zum kleineren Teil auch gewesen ist), ein Volk, das Demütigungen einsteckt, ohne sie zu fühlen. Sie haben eine Frau – Sie haben Kinder, glaube ich. Nun …

– „Dabei sensible Naturen, die es vielleicht nicht so schroff empfanden, wenn ein Knote ganz bieder am Versöhnungstage einem Herrn mit Gebetbuch ‚Verfluchtes Judenaas!‘ nachrief; oder wenn ein Major von den ‚Elfern‘ vorn auf der Straßenbahn offen erklärte: ‚Wieviel schwangere Judenweiber man sieht – ’s ist zum Kotzen!‘ Nicht das war verletzend. Sondern wenn aufgeklärte Freunde, Wohlwollende, schonend sagten ‚Die jüdischen Herrschaften‘ – das traf.“

Das ist von Kerr. Wie soll das also erst bei einem mindern Menschen aussehen.

Nein, mein Lieber – das ist nichts und das wird nichts. Diese Frage sehe ich weit über das Jüdische hinaus – ich sehe eine Sozialdemokratie, die erst siegen wird, wenn es sie nicht mehr gibt – und zwar nicht nur, weil sie charakterlos und feil und feige gewesen ist (und wer war denn das anders als eben wieder Deutsche) – sondern die die Schlacht verloren hat, weil die Doktrin nichts taugt – sie ist falsch. Glauben Sie bitte nicht, ich sei inzwischen zu Blut und Boden oder sonst etwas übergelaufen – ich empfehle Ihnen von Dandieu et Aron ‚La révolution nécessaire‘, ich empfehle Ihnen die Hefte des ‚Ordre Nouveau‘, eine der belangreichsten Sachen, die mir je untergekommen ist, ich empfehle Ihnen à la rigueur auch den ‚Esprit‘ (Paris) – und Sie werden sofort begreifen, was ich meine.

Man muß vorn anfangen.

Man muß ganz von vorn anfangen – „Ford, c’est Descartes descendu dans la rue“ heißt eine der Formeln Dandieus – (Er ist leider, viel zu jung, mit 36 Jahren gestorben.) Man muß von vorn anfangen – nicht auf diesen lächerlichen Stalin hören, der seine Leute verrät, so schön, wie es sonst nur der Papst vermag – nichts davon wird die Freiheit bringen. Von vorn, ganz von vorn.

Wir werden das nicht erleben. Es gehört dazu, was die meisten Emigranten übersehen, eine Jugendkraft, die wir nicht mehr haben. Es werden neue, nach uns, kommen. – So aber gehts nicht. Das Spiel ist aus.

Nihilismus -? Lieber Zweig, ich habe in den letzten fünf Jahren viel gelernt – und wäre mein schlechter Gesundheitszustand nicht, so hätte ich dem öffentlich Ausdruck gegeben. Ich habe gelernt, daß es besser ist, zu sagen, hier sei nichts – als sich und andern etwas vorzuspielen. (Was Sie nie getan haben.) Aber das Theater der Verzweiflung, die noch in so einem Burschen wie Thomas Mann einen Mann sieht, der, Nobelpreisträger, sich nicht heraustraut und seine „harmlosen“ Bücher in Deutschland weiter verkaufen läßt – die Verzweiflung, die dieselben Fehler weiter begeht, an denen wir zugrunde gegangen sind –: es nämlich nicht so genau mit den Bundesgenossen zu nehmen – dieses Theater kann ich nicht mitmachen. Und hier ist das, was mich an der deutschen Emigration so abstößt –: es geht alles weiter, wie wenn gar nichts geschehen wäre. Immer weiter, immer weiter – sie schreiben dieselben Bücher, sie halten dieselben Reden, sie machen dieselben Gesten. Aber das ist ja schon nicht gegangen, als wir noch drin die Möglichkeit und ein bißchen Macht hatten – wie soll das von draußen gehn! Sehn Sie sich Lenin in der Emigration an: Stahl und die äußerste Gedankenreinheit. Und die da -? Schmuddelei. Doitsche Kultur. Das Weltgewissen … Gute Nacht.

Ich enthalte mich jedes öffentlichen Schrittes, weil ich nicht der Mann bin, der eine neue Doktrin bauen kann – ich bin kein großer Führer, ich weiß das. Ich bin ausgezeichnet, wenn ich einer noch dumpfen Masseneinsicht Ausdruck geben kann – aber hier ist keine. Entmutige ich -? Das ist schon viel, wenn man falsche und trügerische Hoffnungen abbaut. Ich glaube übrigens an die Stabilität des deutschen Regimes – es wird von der ganzen Welt unterstützt, denn es geht gegen die Arbeiter. Aber stürzte das selbst zusammen –: die deutsche Emigration ist daran unschuldig. Ich sehe den Referenten im Propagandaministerium: er muß sich grinsend langweilen, wenn er das Zeug liest. Es ist ungefährlich.

Das ist ein langer Brief geworden – halten zu Gnaden.

Ja, wenn Sie herkommen und ich bin grade in der Schweiz, wirds mich freuen, mit Ihnen zu plaudern. Ich bin ein aufgehörter Schriftsteller – aber mit Ihnen sprechen, das wird immer ein kleines Fest sein.

Alles Gute für Sie. Und vor allem für Ihre Augen!

Herzlichst Ihr getreuer Tucholsky

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1935, S. 300 ff.

Zwei Lärme

Ich möchte einmal da leben, wo es kein Hundegebell und kein Klavierspiel gibt.
Auf jedem Quadratmeter menschlicher Niederlassung schlägt ein Achtel menschliches Wesen auf ein Klavier, macht: ein Stück auf acht Quadratmeter. Sie kennen Laforgues Complainte des Pianos qu’on entend dans les quartiers aisés? Hören Sie.

Ces entfants, à quoi rêvent-elles
Dans les ennuis des ritournelles?
„Préaux des soirs,
Christs des dortoirs!
Tu t’en vas et tu nous laisses,
Tu nous laiss’s et tu t’en vas,
Défaire et refaire ses tresses,
Broder d’éternels canevas.“

Max Brod und Franz Blei haben das so übersetzt:

Die Mädchen, wovon träumen sie
Zu ihrer faden Melodie?
„Mein Heiland ach
Im Schlafgemach!
Du gehst weg und läßt uns da,
Läßt uns da und gehst vom Haus,
Und wir flechten unser Haar,
Sticken ewig Deckchen aus.“

So singt das Klavier, das Pianino, der Flügel. Es singt aber auch:
„Humtarumtatumta – das habe ich gestern im Varieté gehört, mit Max, und es macht mir Spaß, das noch einmal aufzuwärmen, den holden Rotkohl der Erinnerung! Humtarumta – da hat die Schulreiterin Maxn angelacht, und ich habe ihn geneckt und ihn gefragt: Willst du die? Da hat er mich gekniffen – mich mochte er, aber nicht sie! Humtarumtatumta – nachher waren wir in einer Bar, wir sind vor Schluß des Programms weggegangen, damit Mama nichts merkt, und dann war ich bei ihm. Und niemand weiß es. Humtarumtatumta …“ So singt der Flügel, so spielt das Mädchen.
Und der brennende Ehrgeiz rast auf den Tasten, dreihundertmal dasselbe, und es wird nicht besser und wird nicht besser, es soll aber besser werden. Ich bin versucht, der Dame ein Pfefferkuchenverschen durch das stets geöffnete Fenster zu schleudern:

Zwei Mädchen spielten am Klavier.
Da sagt die eine: „Denke dir,
was ich nicht alles spielen kann.“
Die andre nahm sich einen Mann.

Diese nahm sich keinen Mann. „Ich will im Salon eine Rolle spielen und diese Sonate; sie ist so modern, daß ich mir alles und nichts dabei denken kann, und das ist grade das schöne dabei. So gut wie die Grigorjewa spiele ich schon alle Tage, und wenn sie das eben mit dem Geld und mit den Beziehungen – von vorn die Passage! – macht, dann mache ich das mit der Begabung. Ich bin sehr begabt. Der Professor hat es mir noch gestern gesagt. Ich darf die Stunden bei ihm fortsetzen, und wenn ich mir das Geld dazu absparen sollte – ich bin sehr begabt. Jetzt noch ein paar Tonleitern! Das Armband stört mich, ich wills ablegen. Die Grigorjewa legt nie ihre Armbänder ab, die Protzin. Das Cis klingt nicht mehr, die Taste ist entzwei – wovon mag das kommen?“
Ich weiß es. Und bin nur froh, daß sie nicht auch noch heult. Singende Frauen sind um eine Oktave selbstbewußter, dümmer und anmaßender als Tenöre. Und singen dasselbe.
Kinder üben und trainieren sich auf Beethoven. Weiber, die der Himmel ernährt, oder die gar für die Kunst hungern – ein ganz besonderer Fall von Derwischismus -, hacken Musik. Und ich habe die Musik bei mir, über mir, unter mir, bei mir. Darf jemand zu mir hereinkommen und mir Schuberts Sang an Ägir und Schrekers Hakenkreuz am Stahlhelm vorsingen? Nein. Aber durch Rabitz, Stein und Luftraum klingt es und singt es. Das darf er.
Duette sind hübscher. Und darum bellen die Hunde.
„Ausschlaggebend ist aber das Bellen des Hundes: die absolut verneinende Ausdrucksbewegung. Sie beweist, daß der Hund ein Symbol des Verbrechers ist. Goethe hat dies, wenn es ihm vielleicht auch nicht ganz klar geworden ist, doch sehr deutlich empfunden. Der Teufel wählt bei ihm den Leib eines Hundes. Während Faust im Evangelium laut liest, bellt der Hund immer heftiger: der Haß gegen Christus, gegen das Gute und Wahre.“ Und: „Interessant ist es, wen der Hund anbellt: es sind im allgemeinen gute Menschen, die er anbellt, gemeine, hündische Naturen nicht.“ Aber das hat einer gesagt, der schon mit zweiundzwanzig Jahren nicht mehr wollte, so nicht mehr wollte.
Was am dauernden Hundegebell aufreizt, ist das völlig Sinnlose. Wenn die armen Luder, die der Mensch anbindet, bellen, so ist das Hilferuf und Aufschrei eines gequälten Tiers. Ein Kettenhund ist etwas beinah so Naturwidriges wie ein Ziehhund oder ein dressierter Varieté-Affe. Aber das stundenlange, nicht ablassende, immer auf einen Ton gestellte Gebell – das ist bitter. Es zerhackt die Zeit. Es ist wie eine unablässig schlagende Uhr: wieder eine Sekunde ist herum, du mußt sterben, erhebe dich ja nicht in irgendwelche Höhen, bleibe mit den Sohlen auf der Erde, sterben mußt du, du bist aus demselben Staub wie ich Hund, du gehörst zu uns, zu mir, zur Erde, bau-wau-hau!
Und dann sieh hinaus und betrachte dir den da. Wen er anbellt. Was ihm nicht paßt. Wie ers nicht will. Der Wagen soll nicht fahren. Das Pferd soll nicht laufen. Das Kind soll nicht rufen. Er hat Angst, und darum ist er frech. Er ist auch noch da, will er dir mitteilen. Du willst es gar nicht wissen? Dann teilt er dirs noch mal mit. Er schaltet sich in alle Vorgänge ein; er spektakelt, wenn er allein ist, weil er allein ist, und wenn Leute da sind, weil Leute da sind; er muß sich bellen hören, um an sich zu glauben. Er bewacht, was gestohlen ist, verteidigt den, der gemordet hat, er ist treu um der Treue willen und weil er Futter bekommt. Hat nicht ein Philosoph die Empfindungen eines Wachhundes bei Nacht zerlegt? Sie sind so simpel und machen so viel Lärm. Im Grunde um nichts. Und so habe ich auch die Hunde bei mir.
Das Ohr transponiert. Allmorgendlich versammeln sich zwei singende Klavierspielerinnen und sechs Hunde in meinem Zimmer, treffen dort zusammen, die Hunde heulen Symphonien, die Klaviere bellen, die Sängerinnen jaulen. Sie zerstören das Beste: die Ruhe.
Was wächst nicht alles in der Ruhe! Was kommt nicht alles zur Blüte in der Ruhe! Alexander von Villers sagts in den Briefen eines Unbekannten. „Ich liege im Bett und spüre die zitternde Succession der Sekunden …“ Stille. Ich sehne mich nach Stille. Schweigen heißt ja nicht: stumm sein. Wenn man Pflanzen spazieren fährt, wachsen sie wohl nicht recht. Sechs Stunden tiefe Ruhe machen satt und schwer, der Atem geht gleichmäßig, die Pulse bewegen sich ganz leise. Der Tribut an das körperliche Leben ist gering. In Stille kann man hineinhorchen, sie durchzieht dich, du verlierst dich an sie und kommst gekräftigt zurück.
Horch! Hektor brüllt, und Fräulein Wegemann macht Musik, nach Noten.
Es gibt vielerlei Lärme. Aber es gibt nur eine Stille.
Wo es kein Hundegebell und kein Klavierspiel gibt – da möchte ich leben.


Autorenangabe: Peter Panter
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 28.07.1925, Nr. 30, S. 139.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1925, S. 393 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 4, S. 167 ff.

Der berühmteste Mann der Welt

All der Unsinn, den Mister Chaplin
macht, kommt nicht aus dem vergebli-
chen Versuch, klug zu sein, sondern aus
den mißlingenden Versuchen, so zu sein
wie andere Leute auch.
St. John Ervine

Kein Parlamentarier ist der berühmteste Mann der Welt und kein Politiker, weder Wilson noch Poincaré – kein Erfinder ist es, kein Tenor, kein Flugzeugführer. Der berühmteste Mensch ist zweifellos Herr Charlie Chaplin, über den alle einmal gelacht haben: die Pariser und die Londoner, alle Amerikaner und die australischen Matrosen, die Besucher der chinesischen Kinos und neuerdings auch die Deutschen, der alte Kontinent und der neue – und daß der Mars noch nicht über ihn gelacht hat, liegt nur an der mangelhaften Verbindung zu diesem kinolosen Möbel.
Mister Chaplin ist so:
Die Gegend betritt ein kleinerer Mann mit einem kleinen schwarzen Hütchen, einem Stöckchen, einem Schnurrbärtchen. Er geht, wie noch nie ein Mensch auf dieser Welt gegangen ist: er watschelt rasch und eilfertig auf zwei Füßen, deren Spitzen ganz nach auswärts gedreht sind. Er hat schwarze, fast traurige Augen, und er sieht bekümmert in die Welt, weil es nun doch gleich einen Kummer geben wird. Richtig, da ist er.
Der Kummer ist ein dicker Mann, ein roher Bursche von ungeheurem Format, mit dem Herr Chaplin sofort aneinandergerät. Weshalb, ist nicht ganz klar. Diese Filme sind überhaupt nicht ganz klar. Aber es kommt ja nicht auf ihre Handlungslosigkeit an und auf das Gewirr von Prügeln, Feuerwehrschläuchen, jungen Mädchen, auslaufenden Milchflaschen und herunterfallenden Gipsbüsten. Es kommt auf ihn an, auf Mister Chaplin.
Aus den acht oder zehn Filmen, die bis jetzt nach Deutschland gekommen sind, bleibt eine Fülle von Einzelheiten haften, deren jede vollendet gespielt ist.
Mister Chaplin lädt dreizehn Stühle auf seinen Rücken, sieht aus wie ein Morgensternsches Stuhlschwein und starrt vor lauter Stuhlbeinstacheln: Mister Chaplin ist aus dem Gefängnis entflohen, wo die amerikanischen Sträflinge bekanntlich gestreifte Kleidung zu tragen haben, und erwacht morgens im Bett: verwundert und deprimiert gleiten seine schwarzen, klugen Augen über den gestreiften Pyjama und über die Gitterstäbe seines Bettes – also doch? Wieder Gefängnis? – Nein, der Diener bringt den Kaffee. Und wie Herr Chaplin dann sofort aus dem geduckten Flüchtling ein feiner Herr wird, mit einer Zuckung der Schulter, einem ganz unmerklichen Zusammenreißen in den Augen: das ist schlechthin meisterhaft.
Herr Chaplin muß hungrig zusehen, wie ein dicker Mann von vierundzwanzig Tellern sein Frühstück ißt; dann soll er die leeren Teller abräumen. Ein Blick, zwei Löffel, und Herr Chaplin beginnt mit sieghafter Geste auf den Tellern Xylophon zu spielen.
All diese Einfälle dauern nur einen Augenblick, das geht alles ganz rasch vorüber, wird mit den sparsamsten Mitteln exekutiert. Er hat sich hinter einem umgestürzten Küchentisch verbarrikadiert und bewirft seine Partner mit gebratenen Kartoffelklößen: blitzschnell taucht die Assoziation ›Schützengraben‹ in ihm auf: er ergreift zwei leere Weinflaschen, steckt den Kopf über den Tisch und beäugt unendlich strategisch den Feind durch dieses neue Scherenfernrohr – und blitzschnell taucht er wieder unter.
Er hat eine Komik des Nichttuns entwickelt, die ganz ungeheuerlich ist. Der Mann, der sich nicht traut, durch eine Tür zu gehen, dreimal ansetzt und viermal umkehrt, ist noch niemals so gespielt worden wie von ihm. Er sitzt in der Heilsarmee und muß über irgend etwas lachen, das neben ihm vorgeht – der strafende Blick des Predigers fällt auf ihn – Großaufnahme: man sieht ihn fröhlich grinsen, und dann ist das Lachen wie mit einer Zange abgekniffen. Unruhig ruckelt ein gerüffelter Schuljunge auf seinem Platz, und ganze Völkerschaften liegen unter dem Tisch.
Womit er das alles erreicht, ist völlig unbegreiflich. Manchmal nur mit einer kleinen Bewegung – er kann mit den Schultern weinen. Einmal wird er massiert – Chaplin sieht den riesigen Bademeister und sein beklatschtes und malträtiertes Opfer. Er wird der Nächste sein … Und in den unergründlichen Augen liegt eine solche Angst, eine solche tiefe und fast tierische Furcht und dazu ein Gran Ironie, daß es so etwas gibt … Und er bewegt sich nicht, und man hört ihn jeden Gedanken denken.
Er ist so gütig und so freundlich zu aller Welt! Neben ihm steht ein kleiner Spielhund aus Tuch, ein Spielzeug, wie es die Kinder haben. Eine Flasche läuft aus und bekleckert ihm die Hosen. Ingrimmig und schockiert sieht er den Hund an. Dann stellt es sich heraus, daß es doch die Flasche war. Und leise streichelnd, mit einer unendlich zarten Bewegung bittet er das Hündchen um Verzeihung …
Der Mensch muß eine unerhörte Beobachtungsgabe haben, ein stehlendes Auge. Er kann die Bewegungen aller Handwerke nachmachen. Einmal frisiert er den Kopf eines Bärenbettvorlegers: mit welch femininer Grazie und mit welch gelangweilter Selbstverständlichkeit er Kamm und Bürste handhabt und nach dem Schamponieren leicht und elegant und oberflächlich den nassen Kopf abtrocknet! Das zeigt die natürliche Komik dieses großen Künstlers. Wenn unsere Mimen auf der Bühne einen Handwerker nachmachen, dann sieht man, daß sie ihn niemals beobachtet haben: so klopft kein Schuster, so schreibt kein Schreiber, so bewegt sich kein Kutscher. Chaplin kennt sie alle.
Er bekommt es fertig, nur durch seine Erscheinung andere Leute lächerlich zu machen. Er braucht nur aufzutreten, mit dem kleinen Hütchen, mit dem kleinen Stöckchen, mit dem kleinen Schnurrbärtchen, watscheln auf seinen unmöglichen Beinen – und alles drum herum hat plötzlich unrecht, und er hat recht, und die ganze Welt ist lächerlich geworden. Es gibt ein Bild von ihm aus dem Kriege, auf dem der Zeichner den deutschen Kaiser abgebildet hat und seine Generale – mit starrenden Schnurrbärten und furchteinflößenden Helmen. Ihre Augen kullern ihnen fast aus dem Kopf, sie sehen alle auf eine Sache. Denn vor ihnen latscht Chaplin durch den Saal, sich leise einen pfeifend und unbeschreiblich frech sein Stöckchen schwingend. Und der ganze Militarismus ist hinten heruntergefallen.
»All der Unsinn, den Mister Chaplin macht, kommt aus den mißlingenden Versuchen, so zu sein, wie andere Leute auch.« Er hat einmal gesehen, wie der Mixer mixt und wie er in dem Affentanz von Eisstückchen, Cherrycoblern, Silberbechern und Herumhantieren an jedem Ei kurz riecht, bevor er es in den Topf schlägt … Aha, das macht man so. Und wenn er, Chaplin, mixt, riecht er auch an dem Ei. Aber bevor er es aufschlägt. Das kommt in der Fixigkeit nicht so genau darauf an …
Man sagt, daß er alle seine Filme probeweise Kindern vorspiele. Wenn das nicht wahr ist, ist es brillant erfunden. Denn diese Filme mit der nachdenklichen Komik, mit der lustigen Tragik wenden sich an das Kind im Menschen, an das, was wohl bei allen Völkern gleich geblieben ist: an die unverwüstliche Jugendkraft. Er stellt das primitivste dar, aber das genial. Und er zeigt, wie lächerlich es ist, ein erwachsener Mensch zu sein, der sich ernst nimmt.
Als er einmal von Europa zurück nach Los Angeles fuhr, begrüßten ihn auf einer kleinen amerikanischen Station zweihundert kleine Jungen, alle als Mister Chaplin verkleidet: mit dem kleinen Hütchen, mit dem kleinen Bärtchen und mit dem kleinen Stöckchen. So watschelten sie auf ihn zu … Und weil er sehr kinderlieb ist, hat er ihnen allen guten Tag gesagt.
Er ist, wie alle großen Komiker, ein Philosoph. Versäumen Sie nicht, ihn sich anzusehen. Sie lachen sich kaputt und werden ihm für dieses Lachen dankbar sein, solange Sie leben.
Da geht er hin und ruckt nach all dem Kummer an einem kleinen Hut und watschelt ab und sagt mit den Beinen: »Auf Wiedersehn –!«

Autorenangabe: Kurt Tucholsky

Ersterscheinung: Prager Tageblatt, 22. Juli 1922.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1922, S. 279 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 3, S. 230 ff.

Brief an das Nobelkomitee

Hindås Schweden
27-9-34

Nobel-Comité
Oslo

Sehr geehrte Herren,

wie ich in schwedischen Zeitungen lese, steht mein Freund Carl von Ossietzky in engerer Wahl bei der Verleihung des Friedenspreises.

Ich habe mit Carl von Ossietzky gemeinsam die ‹Weltbühne› in Berlin herausgegeben und kenne ihn seit 10 Jahren. Ich habe ihn dem Begründer der Wochenschrift als Mitarbeiter vorgeschlagen und ihn nach dem Tode des Gründers gebeten, an meiner Stelle die Herausgabe zu übernehmen – wir haben beide gemeinschaftlich redigiert. Ich kenne den Mann also genau, und es ist mir ein Bedürfnis und eine Pflicht, Ihnen zu sagen:

Die Arbeit Ossietzkys für den Weltfrieden ist immer uneigennützig und tapfer gewesen, und, wie ich meine, nicht ohne Erfolg.

Uneigennützig: Ossietzky hat keiner Partei angehört, er hat nicht für irgend eine begrenzte Doktrin gefochten, sondern für die Idee der Humanität. Er hat, wie man zu sagen pflegt, «nichts davon gehabt» – es ist keine dankbare Aufgabe gewesen, in Deutschland für den Pacifismus einzutreten.

Tapfer: Ossietzky ist nach seiner Verurteilung im Jahre 1931 nicht aus Deutschland geflohen, was er hätte tun können und was der Regierung sicherlich angenehm gewesen wäre. Er hat in einem großen Artikel ‹Rechenschaft›, einer klassischen Leistung, dargelegt, daß er für die Sache des Friedens das Opfer bringen will. Er hat es gebracht. Was er aber dann, nach seiner Freilassung im Jahre 1932, getan hat, verdient die allerhöchste Anerkennung:

Dieser Mann, dessen prophetische Arbeiten dartun, wie sehr er seine Zeit und sein Land erkannt hat, hat noch im Dezember 32 gewagt, das heraufziehende Hitlerregime wegen seiner Kriegsfreundlichkeit anzugreifen, und zwar in derart scharfen Formen, daß die Rache denn auch nach dem Reichstagsbrand prompt über ihn hereingebrochen ist. Er leidet noch heute, während Sie dies lesen.

Sie wissen, sehr geehrte Herren, besser als ich, daß es überall einen sozusagen officiellen Pacifismus gibt, eine sanft geölte Denkungsart, die für den Frieden eintritt, solange kein Krieg ist. Diese Gesinnung kostet nichts, sie ist bequem. Ossietzky hat sich seine Friedensgesinnung etwas kosten lassen – wir wissen alle nicht, ob er mit dem Leben davonkommt. Wenn ich, als sein langjähriger Kampfgenosse, Sie bitte, den Idealismus, die Sauberkeit und die so seltene Zivilcourage dieses Friedenssoldaten anzuerkennen, so tue ich das in voller Kenntnis der Person und der Sache. Dieser Mann ist für den Frieden ans Kreuz geschlagen worden.

Ich habe bisher geschwiegen, um nicht durch meinen Namen, der auf die deutsche Regierung wie das rote Tuch wirkt, zu bewirken, daß Ossietzky geschlagen wird. Man hat mir die Staatsangehörigkeit aberkannt – alles, was ich öffentlich für ihn täte, hätte er zu büßen. Ihnen aber darf ich sagen: Sie geben Ihren Preis dem Würdigsten. Ich gehöre nicht zu denen, die in der Verleihung des Preises an Ossietzky in erster Linie eine Demonstration gegen die deutsche Regierung erblicken, denn das ist nicht der Sinn des Preises. Ich erblicke in der Verleihung an ihn eine Erfüllung der Nobelschen Ideen.

Mir sind Ihre Statuten bekannt – ich übe hier keinerlei Vorschlagsrecht aus. Ich genüge einer Freundespflicht.

Ich bin Ihr sehr ergebener

Kurt Tucholsky.

Berlins Bester

Da drüben an der Wand hängt er, das Bild hat er mir selbst geschenkt, und auf die Rückseite hat er etwas draufgeschrieben. Der Kopf mit der grauen Maurerfreese sieht an Herrn Courteline vorbei. („Wir kenn uns zwah nich vaständijen“, sagt das Bild, „aber wir leben in Freundschaft. Valleicht jrade deswejen.“) Die Franzosen fragen: „Wer ist das?“ – „Heinrich Zille“, sage ich. „C’est un peintre allemand.“ Aber das ist nicht wahr. Er ist viel mehr.

   Jetzt liegt von ihm das stärkste Buch vor, das über Berlin erschienen ist: ‚Berliner Geschichten und Bilder‘ (bei Carl Reißner in Dresden 1924).

   Paris hat unter den lebenden Inkarnationen seines Stadthumors einen Mann, der unserm Zille als Zeichner manchmal nahekommt: das ist Poulbot, der Kinder-Poulbot, der die frechspitzige, ausverschämte, über alle Pflaster trudelnde, frühreife und auch bemitleidenswerte ‚gosse‘ gezeichnet hat. (Am letzten Weihnachtsabend hat er seine ‚gosses‘ sogar selbst beschert.) Wien hat die Verniedlicher seines Stadthumors, die einem den ganzen Humor verrunjenieren können. Berlin hat beides.

   Es ist so schwer, von berliner Humor zu sprechen, weil eine Unzahl kleinbürgerlicher Schmieranten sich auf diesem Gebiet niedlich machen. Eine mit Glace oder Zwirn behandschuhte Rechte faßt vorsichtig die ‚kleinen Leute‘ am Schlafittchen und führt sie dem geschmeichelten Bürgerpublikum vor, immer mit dieser fatalen Attitüde vermeintlicher Echtheit, mit dem falschen Ton von Mitleid, dem falschen Grausen, dem falschen Humor, vor dem Gott erbarm. Es ist derselbe Humor, mit dem sich Kammergerichtsreferendar Lehmann auf dem juryfreien Ball als ‚Lude‘ verkleidet. – Jeder weiß doch, daß er keiner ist, Gottseidank, aber es macht sich so schön romantisch. Es ist der Humor der ‚Lustigen Blätter‘, der den Konfektionären die Opfer ihrer Zwischenmeister ulkig-dreckig, ulkigschwanger, ulkig-besoffen vorführt – das eigne Badezimmer in der Bayreuther Straße blitzt noch einmal so nett. „Pfui Deibel – wie komisch!“ Kommt noch ein Tropfen Schmalz in diese Suppe – von wegen: Grunewald mit seinen abendlichen Föhren – dann ist das Unglück fertig, und der Magen dreht sich einem im Leibe herum, wenn man sieht, wie Berlin diskreditiert wird.

   Heinrich Zille ist vor dem Kriege und im Kriege manchmal das Opfer dieser Auftraggeber geworden. Er hat Sachen zeichnen müssen, die man ihm aufgegeben hat, und die ein andrer ein bißchen schlechter gezeichnet hätte; er hat im Kriege eine gradezu schauerliche Serie vom Stapel lassen müssen, die von Berlin und vom Kriege gleich weit weg lag und mit beiden nur die Gemeinsamkeit hatte, daß sie beiden zum Verkauf angeboten wurde; er hat manchmal ulken müssen, wo er ganz etwas andres tun wollte. Von den Zeichnungen in diesem wundervollen Buche erschiene auch nicht ein Dreißigstel in einer Zeitschrift; alle Zeitungen lobendes, keine würde je wagen, auch nur den Schimmer eines Abglanzes davon bei sich aufzunehmen. Warum nicht? Das ist ganz einfach. Ein Buch hat keine Inserate.

Heinrich Zilles Geheimnis liegt in dem ersten Satz seiner Lebensbeschreibung, die das Werk einleitet: „1872 lernte ich Lithograph.“ Zille ist ein Handwerker. Er hat etwas gelernt, er hat es gut gelernt, und er hat diese handwerkliche Basis niemals verlassen. Es ist sehr interessant zu beobachten, wie in dem Buch alle Stadien vorhanden sind: von dem naturalistischen Bemühen, „det Ding abzuzeichnen“, bis zu der letzten Formulierung, die es nicht mehr nötig hat und souverän fortlassen kann (aber anders als die jungen Herren, die wuscheln, weil sie gar nichts können). Zilles Seele ist ganz Berlin: weich, große Schnauze, nach Möglichkeit warme Füße, und: allens halb so schlimm.

   Stammbaum: kleinbürgerlich. ‚Mein Vater‘ ist ein recht charakteristische Blatt: der alte Mann steht, ernst und vertieft in seine Arbeit, am Schraubstock, und draußen grinsen zwei ‚Ssijeuner‘ rein, rumstrolchende Kerls, die ein bißchen frech, ein bißchen neidisch, ein bißchen verzweifelt diese kleinbürgerliche Burg von außen anlachen, die der sich da aufgerichtet hat. Schließlich ist ja das die Sehnsucht der obern Schicht, die Zille verarztet: Kleinbürger und solche, die es werden wollen. (Darüber hinaus langt er kaum: wenn er ‚feine Leute‘ zeichnet, sind es entweder bewußte Übertreibungen, wie sie sich im Auge derer da unten spiegeln, oder rührende Schießbudenfiguren.) Hier, in dieser Kleinbürgerschicht wohnt die Idylle, die Zille bald bekannt und beliebt werden ließ: ‚Restaurant zum Nußbaum‘, die kleine gelbe Lampe auf dem Wackeltisch, die dicke Marie hinter der Theke, die geschäftige Schwangere, die mit dem Korb einholt, das Jör, das unerschöpfliche Jör, dem vorn und hinten das Hemd herausguckt, dem die Nase läuft, von andern Dingen ganz zu schweigen, das brüllt, hopst, tanzt und popelt. Bis dahin gut und gern genehmigt: Zille war eine Witzblatt-Type, eine unfehlbar sichere Nummer, ein von allen ordentlichen Menschen gern gesehener Bestätiger ihrer Ordnung, die er durch die ausgezeichnete Schilderung des Gegensatzes hob. Darunter fängt der eigentliche Zille an.

   Da, wo das Proletariat Lumpenproletariat wird; da, wo es nicht mehr lohnt, zu arbeiten – arbeiten und verzweifeln! -; da, wo es überhaupt keinen Sinn mehr hat, etwas zu tun, wo man sich fallen läßt, ohne daß einen etwas andres mütterlich aufnimmt als das Wasser – da hat er sich zu einer Größe emporgereckt, die erschreckt. Tragik? Auf berlinisch? Auf berlinisch: also janz stike, nachdenklich, der Mensch wird zum alten Eisen, aber er rufts nicht mehr aus.

   Hier berührt sich Zille mit der Kollwitz. Wo sie eine Sonate spielt, zimpert er auf einem alten Leierkasten, und man heult wie ein Schloßhund. Das Wort der Wörter steht in diesem Buch, unübertrefflich, ein für alle Mal, kaum stilisiert, wahrscheinlich abgehört, einfach so herausgewachsen aus dem Boden von Dreck, Suff, Tuberkulose, Wohnungselend: „Weißte – man darf jahnich drüber nachdenken!“ Aber manche denken doch noch darüber nach, das sind die Gefährlichen …

   Zille hat das Amoralische im Blut. Er urteilt nicht, er zeichnet. Er richtet nicht, er empfindet. Bibel? Strafgesetzbuch? Seine Leute sind längst darüber hinaus – Pastor und Landgerichtsrat sind für sie mehr oder weniger unangenehme Vertreter eines Systems, dessen Wirkung sich vor allem darin widerspiegelt, daß es ungeheuer viel Zeit kostet. Verhaftet werden, warten, eingesperrt sein, noch mal warten, ermahnt, angeschnauzt, verurteilt werden – es dauert alles so lange … Aber weiter ist auch nichts.

   Da ist Zille, unser Zille. Die Kindsleiche im Mülleimer; die Schwangere, die nicht weiß, ob das im Arm noch lebt, wenn das im Leib da ist; Orje, der nicht einmal mehr von den Schutzpolizisten gehört wird, wenn er schimpft, weil es nicht lohnt; die Frau, die mit zwei Kindern ins Wasser geht, rasch, eilig, sie mag nicht mehr, nicht aufhalten!; die Kindergruppe, die „Liehieb Heiheimatland – adee – Plötzensee!“ singt, ein Blatt von seltener Tragik: wie man im Lachen auf einmal sieht, daß nicht ein unlädiertes Kind dabei ist, alles ist verbogen, kurzsichtig, hat die englische Krankheit, ist zurückgeblieben; ein lebendes Skelett, das in einem Bettsarg verfault, darunter: „Unser Leben währet 70 Jahr, und wenn es hoch kommt … „, wahrscheinlich hat der Mann als Kind in der Schule die segensreichen Sozialeinrichtungen des Deutschen Reichs nicht ordentlich gelernt; kindische Greise und vergreiste Kinder – der Zeichner hebt kaum die Stimme: er erzählt.

   Im finstersten Finstern glüht dann immer der Funke des echten Humors auf, und wie berlinisch ist der! „Mutter“, fragt das Kind, als sie ihr Mittagessen im Topp zu Vatern tragen, „wächst sone Wurst immer wieder?“ (Denn so sieht die Abteilung: Naturgeschichte im Kinde aus.) „Ick habe“, sagt Mudicke, „meine Selige übalebt, ick habe Kaiser Wilhelm übalebt, ick werde auch die Republik übaleben!“ Das walte Gott. Und wenn die möblierte Wirtin reinkommt und sieht ihre Tochter nackedei in der Flohkiste liegen, davor ihren Mieter, den Fotografen, so entlädt sich Pädagogik, mütterliche Würde und die Ordnung des Hauses in folgenden ganz ruhigen Worten: „Wat is denn det nu wieder forne neie Afferei mit Lotten, Herr Doktor!“ Und der Herr Doktor erklärt es ihr, und dann ist alles gut.

   Erstaunlich, wie modern dieser alte Mann ist. Die Versuche, ein Witzblatt zu schaffen – Deutschland besitzt keins – hat auf der sozialdemokratischen Seite zu einem Blatt geführt, das alle Papierkörbe des alten ‚Simplicissimus‘ neu auflegt und ganz vergessen hat, daß es das alles nicht mehr gibt: diese Bürger nicht mehr, Herrn Baluschek nicht, die Großstadttragik der alten Naturalisten nicht, diese Serenissimi nicht … aus, vorbei. Auf der kommunistischen Seite probiert man noch, manchmal trifft mans, meistens nicht. Zille gehört zu den Neuen, weil er unbarmherzig sein kann und Herz hat, weil er vor Mitleid mitleidslos schildert, weil er die Ruhe weg hat.

   Du hast mal gesagt, du sähest aus wie ein Droschkenkutscher, Heinrich Zille. Laß man. Wenn du in Himmel kommst, denn klebt dir der liebe Gott Flügel hinten an Rücken, steckt dir ’n Posauneken in die Hand und drückt dir ’n Kranz ins Haar. Und denn nischt wie mit Hallelujah immer rauf und runter. Und wenn dann die Leute fragen: „Wer singt denn ja oben so schön falsch?“ – dann will ich ihnen antworten: „Pst. Da oben fliegt Er. Berlins Bester.“


Autorenangabe: Peter Panter

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 20.1.1925, Nr. 3, S. 95.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff.,

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 4, S. 18 ff.

Q-Tagebuch (Beilage zum Brief vom 21.9.1934 an Hedwig Müller)

QUATSCHE-TAGEBUCH

gefiehrt für Nuuna von Peter

/ / / Sehr hipsch war im Blättchen ›Kurhotels‹, wo anlege, weil Du es vielleicht übergesehn hast. Es ist leider genau so geschrieben wie die Hotellen, aber sonst ganz richtig. Ein bißchen spät kommt dem Herrn diese Erkenntnis. Ausgezeichnet war die Rede mit „Vohlksgenossen!“ aber da fehlt das j, das da drin ist, man kann das aber nicht schreiben. Sie war wirklich schön. Sonsten …

Die russischen Berichte sind erstens einmal alle ganz oberflächlich. Begeisterung ist schön – Fleisch auf dem Teller wäre besser. Die Auszüge der Reden, die da gehalten worden sind, enthalten entweder direkt Falsches oder schreiende Banalitäten. Am besten noch Gorki, am inhaltleersten Radek, der nur frech und großmäulig ist. Rührend solche Sachen, wie: „Ein Pilot der Luftmarine versprach eine ganz neue Literatur!“ Der Gute. Und da irrt er sich. Es erinnert das alles ein bißchen an die kleinen Leute, die sagen: „Wenn ich Ihnen mein Leben erzählen würde, das ist Sie nämlich wie ein Roman!“ oder: „Die Erlebnisse eines Bergmannes“. Nun ist natürlich möglich, daß sich drei Kilometer von Dir in einem Krankenhaus ein Streit zwischen zwei Oberschwestern abspielt, der geradezu nach einer Schilderung brüllt. Aber man muß es eben schildern können und vor allem: man muß einen Schemel haben, von dem aus man schildert. Es gibt Beispiele (Kirchenkunst), wo der vorgesetzte „höhere Zweck“ große Kunstwerke, wenn auch nicht hervorgerufen, so doch sehr begünstigt hat – immer aber überschreitet die Weite des Kunstwerkes den Zweck. Der Zweck gibt die Bahn an – mehr nicht. Das erkennen sicherlich manche Russen, man hört das durch. Ich weiß aber nicht, ob das nur die Alten erkennen, wie Bucharin, die immerhin noch von andern Dingen wissen, oder ob das auch die Jungen wissen. Das Gebrüll der Boches-Kommunisten ist nicht kommunistisch, sondern boche.

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Nuunchen, wenn Du vielleicht glaubst, daß man herausbekommen kann, warum daß es mir schlecht geht. Gestern waren die Wolken hoch, die Sonne hat beinah gestochen, ich habe gebadet, die Luft war mehr als frisch. Das war gut und schön, aber wie es mir gegangen ist, will ich lieber nicht aufschreiben. Dabei nichts geraucht, Spaziergang nach L – und es war grauslich. Heute ist ein Sturm, wie er selbst während Deiner Anwesenheit nicht war – zum Bäumeausreißen. Und es geht mir nicht gut, das geht es nie – aber nicht so schlimm. Geschmack und Geruch völlig dahin, der ganze Schlund wie aus trocknem Papier. Und Kopfdruck. Es ist fast eine Lust, zu leben.

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Schon Dein engerer Berufskollege Hippokrates, der bekannte Versicherungsarzt, sagt, daß Geräuschempfindlichkeit bei Kopfleidenden oft vorkommt. Aber was dagegen zu tun, wußte schon er nicht. GOtt segne Eure Zunft.

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Übrigens vermisse ich bei allen Blicken in die werte Zukunft immer eine Sache. Was nun, wenn zum Beispiel, mit Verlaub zu sagen, die Russen den Hintern vollgehauen bekommen? Sie werden sich sicherlich sehr brav schlagen. Aber sie machen einen Ungeheuern Fehler: nämlich den, die sankrosankte Idee ihres neuen Staates auch auf diese dünn besiedelten Gebiete im fernen Osten auszudehnen. Da haben sie einen Generol hingesetzt, der unter dem militärischen Pseudonym „Blücher“ läuft, heißt aber anders, und ich, Magenzeller, sage Dir: die Japaner hauen ihnen das Fell aus. Dazu brauchen sie gar nicht Herrn Deterding und die Hilfe irgendwelcher weißer Russen. Das besorgen sie ganz allein. Das kann eine Rückwirkung in Europa haben. Wie weit das hohl ist, können wir alle nicht wissen. Napoléon, 1917 – schließlich haben wir ja Beispiele gehabt. Und mit Flugzeugen geht das noch schneller. „Das kann nicht … “ Na jewiß doch. Das hat man im Jahr 1912 vom Zarentum auch gesagt. Es kann. Es wäre übrigens schade. Denn schließlich: was für schöpferische Ideen sind schon im Bundesrat oder gar hier oben? Weiter als die „Ordnung“ des Monopolkapitals wissen sie auch nichts.

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In diesem Film, dessen vertrackter englischer Name nicht in mein Gehirn geht, duck soap oder so oder dück saop oder was weiß ich, ist das eine Reiß-Sprache! – da kommt, wie beschrieben, der Diktator zu spät. Die Garde hat schon angeblasen, eine riesige Freitreppe, und weil er nicht kommt, bläst sie alles nochmal, im Spalier.

Durch die Wiederholung wird alles zum Theater. Dann kommt er also seine Feuerwehrleiter heruntergerutscht, denn das tun wir Diktatoren immer. Und da sieht er, daß da irgendetwas los ist. Er stellt sich also, klein und jüdisch, neben den riesigen Flügelmann, und weil der seinen Pallasch ausgestreckt hält, hält er seine Zigarre ausgestreckt.
Eine ganze Weile. Dann zupft er den Großen am Lederkoller und fragt:
– „Erwarten Sie jemand -?“

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„Il eut de la véhémence dans ses discours, une éloquence vive et impétueuse, qui entraînait les peuples et les ravissait: une hardiesse extraordinaire quand il se vit soutenu et applaudi, avec un air d’autorité qui faisait trembler devant lui ses disciples: de sorte qu’ils n’osaient le contredire ni dans les grandes choses ni dans les petites.“127 Wie bitte -? O, nicht doch. Das steht bei Bossuet.
Über Luther.

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Es geht hier ein bißchen durcheinander, und ich schreibe heute grau und morgen blau. Du mußt das nicht falsch verstehen, denn es ist ja nicht für den Druck. Ich möchte auch nicht, daß diese Blätter irgend jemand sieht – es ist alles so unkontrolliert, nur eben für Dich hingemalt, als de l’ersatz für eine Gach – Unterhaltung. Item:

In einem andern Blatt standen nun also bloß die andern Kandidaten und nicht sein Name. Die andern sind der Bürgermeister von Stockholm, das wird wohl nichts werden, ich kenne den Mann, brav und anständig, auch pazifistisch, aber ganz offiziell. Der zweite ist Norman Angell, ein Engländer, der vor dem Kriege ein ausgezeichnetes Buch geschrieben hat. ›Die große Illusion‹, das ich schon als Student begeistert gelesen habe. Er wies darin fast prophetisch nach, daß Kriege weder für den Sieger noch für den Besiegten heute ein Geschäft seien. Nun, also … Dann stand wieder im Blättchen, das Comité habe gesagt, der Kandidat müsse vor dem 1. Februar des Verteilungsjahres nominiert sein, und das trifft hier wohl nicht zu. Wenn es wirklich wahr ist, daß er es weiß und wenn sie es ihm dann nicht geben, so liegt hier eine Qual vor, die nur mit Sacco und Vanzetri ihre Parallele hat. Es ist wirklich ein bißchen viel für einen einzelnen Herrn, was der Mann durchmachen muß.

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Ein Blick ins Blättchen und Lu bestärkt mich wieder und macht mir Mut. Nie wieder das, nie wieder. Das ist ja alles ganz trostlos. Das kann nicht durchdringen.

Mot aus Couillonien128 –: „Es ist alles viel schlimmer, als man denkt, aber man sieht es nicht. Die Frauen sind elegant … “ Kunststück, wenn man seine Schulden nicht bezahlt! Ja, so ist das. Nur ehmt: knallt es zusammen, dann erfolgt eine so miese Rückkehr zu den übelsten und blödesten Methoden des veralteten Kapitalismus, daß man da nicht mitmachen kann. Man will sie nicht, man will sie nicht, man will sie nicht. Amen.

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Q-Tagebuch (Beilage zum Brief 19. und 20.12.1935 an Hedwig Müller)

Edel – Voll – Saft – Milch – Stromlinien –
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Trocken – Beeren – Auslese – Tagebuch
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ge4t 4 die un2felhafte Nuna
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Ich kann mich irren: mir ist so, wie wenn aus meinem Brief nach Oslo etwas kommen wird. (Aus Basel wird gar nichts kommen.) Sollte das Arbeiterblatt nicht anspringen, wende ich mich an die Studenten, die einen großen von hundert und mehr Namen unterzeichneten Aufruf für Oss erlassen haben. Es scheint doch da ganz anders auszusehen als hier. Die Frauen haben protestiert; einer schreibt über Hamsun «Feigling oder Narr», und es geht munter her; er hat mächtig auf den Kopf bekommen. Sein Aufsatz selbst ist nicht einmal hämisch – er ist so dumm, daß man gar nichts sagen kann. Nur einen Fußtritt. Melodie: O. habe ja fliehen können, er habe es selbst geschrieben. Aber das hat er 1932 geschrieben, als Antwort auf ein sagen wir ordnungsgemäß ergangenes Reichsgerichtsurteil – nicht jetzt, wo sie ihn widerrechtlich eingesperrt haben. Eine Frau berichtet in einem ausführlichen Artikel, wie es ihm geht. Mir fehlen natürlich manche Vokabeln, im großen ganzen sieht es so aus:

Der letzte Besuch, den er gehabt hat, soll im Juli 35 stattgefunden haben; die Besucherin (seine Frau) soll entsetzt gewesen über die Veränderung, die mit ihm vorgegangen ist. Ein alter Mann, der zittert. Viele Herzattacken, daraufhin Dispens von der Arbeit, dann Wiederaufnahme. Einer der Knechte: «Wenn ich Dich Schwein niederschießen könnte, würde ich meinen Urlaub draufgeben!» Die Tatsache, daß er für den Nobelpreis vorgeschlagen worden ist, soll einen «Übergriff niederer Instanzen» bisher verhindert haben – andererseits ist die Gefahr gewachsen, weil er ihn nicht bekommen hat. Kameraden sollen ihm in der aufopferndsten Weise geholfen haben, aber das ist für sie selbst gefährlich. Bei den mindesten Vergehen gibt es Prügelstrafe – 25 Hiebe, die der Gefangene zählen muß, die Schläge, die er nicht zählt, gelten nicht und werden nachgeholt. Es sind bis zu 60 Schlägen vorgekommen. Nach der Schilderung habe ich den deutlichen Eindruck, daß sie ihn eines natürlichen Todes sterben lassen wollen. Er scheint im letzten Jahr nicht geprügelt worden zu sein.

Bitte lach mich nicht aus, daß ich immerzu hin und her schwanke – die Sache ist sehr einfach: ich habe ein böses Gewissen. Die Frage «Deutschland» ist für mich gelöst – ich hasse das Land nicht, ich verachte es. Aber im Falle Oss bin ich ein Mal nicht gekommen, ich habe damals versagt, es war ein Gemisch aus Faulheit, Feigheit, Ekel, Verachtung – und ich hätte doch kommen sollen. Daß es gar nichts geholfen hätte, daß wir beide sicherlich verurteilt worden wären, daß ich vielleicht diesen Tieren in die Klauen gefallen wäre, das weiß ich alles – aber es bleibt eine Spur Schuldbewußtsein. Dazu kommt, daß der Mann natürlich für mich wie für alle seine Mitarbeiter mitleidet. Daher mein Schwanken.

Lassen mich die in Oslo heran, so gehe ich so scharf heran, wie noch nie – und ich lasse mich auch davon nicht abbringen. Etwa im Stile der Frau, die mir im Sommer geschrieben hat … also das nicht. Über den Nobelpreis werde ich nichts sagen und kaum etwas schreiben – darauf hat keiner einen Anspruch, und es erscheint mir als ein Denkfehler, die Kommission zu beschimpfen, die ihm den nicht gibt – natürlich aus Feigheit nicht gibt, was die Norweger auch ganz deutlich sagen. Aber diese Kritik gefällt mir nicht, wenn sie von mir kommt.

Daß ich ihm schade, glaube ich nicht. Alles Schweigen hat ja auch nichts geholfen. Natürlich schweige ich, wenn ich auf einen Widerstand in Norwegen stoße, mit Gewalt ist da nichts zu machen. Artikel in den Blättchen … davon verspreche ich mir gar nichts. Das mache ich unter keinen Umständen.

Im Grunde würde natürlich auch mein Appell wirkungslos sein – ich weiß das. Das, was die Kaffern «europäisches Weltgewissen» nennen, gibt es gar nicht. Aber, wie es in einem alten Stück heißt: «Man muß protestieren.» Wenn möglich, werde ich das tun.

Und ich habe den Eindruck, daß da ein ganz anderer Widerhall sein wird als hier, im Lande des Kartoffelmehls.

Woselbst – ohne die ungeheuerliche Ironie zu ahnen – ein nach der bürgerlichen Seite umgefallener Mann neulich bei dem hiesigen Ullstein geschrieben hat: «Der König, der am sichersten in Europa auf seinem Thron sitze, sei der hiesige. Vorausgesetzt, daß alles so bleibt, und daß die Monarchisten nicht zur Macht kommen. Aber solange er von Sozialdemokraten umgeben sei …» Dies aber durchaus nett gemeint. Genau so sind sie. Eine verächtliche Gesellschaft.

Und während der im Konzentrationslager leidet, muß man photographiert sehn, wie der große Sportredakteur Stockholms wohnt … wie ein Fürst. Er wird zu den Olympischen Spielen fahren, und es wird ein großer Erfolg sein.

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Brüning hat um die Erlaubnis gebeten, nach Deutschland zurückzukehren. Ein Jude, auch er. Wenn Du damals erlebt hättest, wie dieser Kerl, der den Fascismus vorbereitet hat, das Maul aufgerissen hat, wie er Hitlern bekämpft hat … und nun kommt er gekrochen. Natürlich haben die Deutschen verlauten lassen, sie hätten ihm nie den Aufenthalt in Deutschland verboten. Wie sagt Halperin? «Und was ist jetzt –?» Aber sage das den Herren Brüning, Wolff pp. – sie werden es gar nicht verstehen.

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Aus den Erinnerungen des alten berliner Zeichners Zille:

In der Malplaquet-Straße war ein Pferd gefallen. Schutzmann, Auflauf. Nun konnte aber der Schutzmann das Wort «Malplaquet» nicht schreiben. Daraufhin schleiften sie das Tier in die See-Straße, und da wurde denn das Protokoll aufgenommen.

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Die Argumentation von Frauen ist überall die gleiche. Bei Fontane, der das wohl bei seiner Frau gelernt hat, stehen solche Sachen. Die Zimmervermieterin, die mit ihrer Tochter ins Theater zu ‹Kabale und Liebe› geht, sagt, als der alte Kammerdiener auftritt: «Sieh doch mal auf dem Zettel nach, wie der heißt – er zittert ja so furchtbar», eine logische Verbindung, die nur eine Frau fertig bringt. Und ganz herrlich bei Siménon, wie der Held seiner kleinen Negerin (die mich übrigens merkwürdig an die Gräfin erinnert, in ihrer Vogelhaftigkeit – o wie o) – also er macht ihr Vorwürfe, sie habe mit einem Neger etwas gemacht. «Mais ça ne fait rien», sagt sie, «je ne le connaissais même pas.»

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Aus dem einzigen pornographischen französischen Buch, das ich besitze: «Elle ne savait si le savoir-vivre de cet acte réclamait qu’elle avalât tout. Une femme de bonne éducation ne crache pas.»

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Daß ich mein Leben zerhauen habe, weiß ich. Daß ich nicht allein daran schuld bin, weiß ich aber auch. Mein Gott, wäre ich in Frankreich geboren …! Ich brauche mich nur ans Klavier zu setzen und an den Heggitschwyler zu denken, dessen Namen ich nie richtig schreiben werde, und mir fallen die Chansonskizzen haufenweise ein. Ich will nicht sagen, daß das alles so herrlich witzig und schön auf Anhieb ist – ich arbeite natürlich nichts aus, denn wozu? Dazu müßte ich die Stadtchronik kennen, mit dem Kollegium, das diese Sachen da baut, zusammen saufen, lachen und leben – dann flutschte es nur so. Wie also zum Beispiel der Emil unter einem triefenden Regenschirm steht, alles an ihm trieft, und hinter der Bühne arbeitet eine Regenmaschine, (Erbsen auf Blech, das kostet gar nichts), und er singt ein Lied, dessen einzelne Strophen alle anfangen:

Wenn es in Zürich regnet – –

ein langsamer Walzer in Moll. Und dann zählt er lauter Sachen auf, die man bei euch vermißt, und dann heißt es immer: z.B. (Daß die – wo die Fronten verwalten – auch ihre Versprechungen halten –)

Das ist mir noch nie begegnet –
Wenn es in Zürich regnet – –

Texte im Dreivierteltakt kann man übrigens nicht aufschreiben, dazu gibt sich die deutsche Sprache nur sehr schwer her. Ich kenne Noël-Noël (den Du nicht versäumen solltest, wenn er mal im Film auftritt, wo er eine Figur namens Ademai erfunden hat) – ich weiß, wie man das macht. Französisch könnte ich das natürlich nie – dazu muß man mit einer Sprache aufgewachsen sein. Aber ich weiß, daß dieses Talent in mir beinah tot schlummert – wenn man Bellmann, den Schweden, und die französischen Chansonniers nicht ermuntert hätte, dadurch, daß man ihnen zuhört, wären sie auch nichts geworden. Mich haben sie falsch geboren.

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‹Menschen in Weiß› sollte man ganz anders auffassen. Heute, wo sich jeder einen weißen Schutzrock anzieht, wenn er seine Sache macht, bekommt dieser Rock eine gradezu symbolische Bedeutung. Nämlich die: der Verantwortungslosigkeit nach außen. Es ist viel leichter, in der Schweiz das Kaisertum einzuführen, als vom Publikum her den Fahrplan der städtischen Straßenbahn zu ändern. Wer Humor hat, prüft sich selbst –: wir sind alle so. («Da könnte ja jeder kommen – irgend jemand von außen!») Diese Selbst-Aufgabe des Individuums, wenn es in der Gruppe aufgeht, ist eine Sache, die jedesmal, im Einzelfall, fast mystisch vernebelt wird – aber wäre dieses soziologische Gesetz, denn es ist eines, ins Bewußtsein der Massen gehoben, wäre manches getan. Die Vergottung der Institution und ihrer Spielregeln ist etwas unsagbar widerwärtiges. «Aber sonst könnte keine Ordnung sein!» – Ohne Regeln: nein. Ohne Vergottung: ja. Wieviel Fehler werden damit verborgen.

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Daß Du mich nicht für einen Troppel hältst: ich schreibe dieses alles so kunterbunter für Dich auf, dies ist ja keine Literatur. Ich gebe mich also bezüglich Oslos keinen Illusionen hin – wenn ich dahinkäme, wird es so aussehen wie überall auch. Kaffern – die dicken Koofmichs – idealistische Studenten, die leider, leider, ihren Idealismus nach dem russischen Winde hängen – ich weiß das alles. Irgend eine Hoffnung für die Zukunft ist das nicht. Aber immerhin – – –

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Daß Bern einmal ein Exempel an einem Boche statuiert hat, freut mein Herz. Dieser Bundesstenograph, der erst dem Nationalsozialismus abgeschworen hat, um seine Pension nicht zu verlieren, ist so recht ein schönes Beispiel für die couillons. Entweder und oder. Behandelte man sie aber alle so, hätte man diese Sache von Anfang an so behandelt –: wir ständen heute anders da.

Über die klägliche Haltung Brünings gibt es übrigens eine Prophezeiung Ossens aus dem Jahre 1932, die etwas Staunenswertes hat. Diese Satire, die damals wild ausgreifend erschien, wirkt heute fast zahm – sie ist zu optimistisch. Aber er hat gesagt, Brüning bitte dann um Eintritt in die Reichswehr, unter Schleicher als Feldwebel. Im Geistigen ist das ganz richtig. Und schließt, im Hinblick auf die liberalen Republikaner, Ullsteine und andern:

«Wir haben keine Wähler mehr und keine Leser, man hat uns windelweich geprügelt, man hat uns das Rückgrat gebrochen, aber nicht unsere unbeugsame Entschlossenheit, uns so lächerlich wie möglich zu machen.»

Heiliger Hilferding! Bitte für uns.

P.S. Daß der Mann im Februar nicht gegangen ist, halte ich jetzt für eine klare Haftpsychose.

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Pladderadatsch. Die Osloer haben gesagt, wenn es etwas früher gekommen wäre, dann hätten sie sich sehr gefreut. Das glaube ich deshalb, weil sie der Sache sehr viel Raum gewidmet haben – man kann da nichts sagen. Schade. Ich berichte dann weiter; ich muß mal sehn, ob ich man nicht doch etwas drehn kann.

Augen in der Großstadt

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof
stehst mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen,
ein kurzer Blick, die Braue,
Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück …
vorbei, verweht, nie wieder.
Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hasts gefunden,
nur für Sekunden …
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück …
Vorbei, verweht, nie wieder.
Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber …
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.

Autorenangabe: Theobald Tiger

Ersterscheinung:Arbeiter Illustrierte Zeitung, 1930, Nr. 11, S. 217

Wieder in: Lerne Lachen ohne zu weinen. Rowohlt Verlag, Berlin 1931.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1930, S. 146 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 8, S. 70 ff.

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