2.11.2008

Die Verbreitung einer Gedicht-Legende

Es war wohl kaum anders zu erwarten, als dass sich das vermeintliche Tucholsky-Gedicht »Höhere Finanzmathematik« mit der Geschwindigkeit eines Computerwurms im Internet verbreiten würde. Aber diesmal wurden nicht die Rechner, sondern die Gehirne der Leser befallen. Ein poetischer Hoax.

Hat sich wenigstens der hier zuvor geäußerte Wunsch erfüllt, dass die Presse ihre Leser über dieses kollektive Missverständnis aufklärt? Von wegen. Gleich mehrere Zeitungen sind der falschen Zuschreibung auf den Leim gegangen und haben das Gedicht unter der Urheberschaft Tucholskys abgedruckt. So in Deutschland die Westdeutsche Zeitung und die Nürnberger Nachrichten (die zwei Tage später den Fehler berichtigten), oder in der Schweiz die Basler Zeitung und das St. Galler Tagblatt. Was wiederum das Boulevardblatt Blick für einen kleinen Seitenhieb auf die Kollegen nutzte:

Doch geschrieben hat die etwas holprigen Reime ein Österreicher im September, berichtet die «Financial Times Deutschland». Trotzdem hat es die «Basler Zeitung» in ihrem Kulturteil abgedruckt und als Autor Tucholsky vermerkt.

Das Tagblatt sah sich ebenfalls zu einer Berichtigung genötigt und schrieb unter der etwas irreführenden Überschrift »Lug & Trug«:

Es ist ein Gedicht, stimmig und aktuell. Tucholsky wird als sein Urheber genannt — auch gestern, in diesem Blatt. «Wenn die Börsenkurse fallen»: So fing es an. Doch Tucholsky war’s nicht, das erklären die Fachleute, auch wenn das Gedicht unter seinem Namen quer durchs Netz floriert.

Wenig rühmlich auch, dass der ehemalige Zeit-Chefredakteur Roger de Weck das Gedicht im Medienmagazin des RBB zitierte. Und als »Finanzexperte« hätte Oswald Metzger vor der Veröffentlichung in seinem Blog etwas vorsichtiger sein können. Dennoch sei zur Ehrenrettung der Medien erwähnt, dass viele Zeitungen skeptisch waren und vor einem möglichen Abdruck des Gedichtes bei der Tucholsky-Gesellschaft nachfragten, ob Tucholsky der Urheber sei. Die Financial Times Deutschland sprach sogar mit dem tatsächlichen Autor, dem 69 Jahre alten Wiener Richard Kerschhofer. Der kann die Verwechslung gar nicht nachvollziehen und meinte mit Blick auf die starken stilistischen Unterschiede zu den Versen Theobald Tigers: »Kurt Tucholsky hat nicht annähernd so saubere Reime geschrieben wie ich.«

Kerschhofers Nähe zum rechten politischen Lager — er schreibt auch für die österreichische Zeitschrift Zeitbühne — müsste nun eigentlich linke Kapitalismuskritiker in Erklärungsnöte bringen. Etliche haben das Gedicht unter dem Autornamen Tucholsky oder anonym veröffentlicht (so auch die KPÖ). Worüber sich nicht nur die Wiener Presse, sondern auch Kerschhofer selbst amüsiert:

Offene Ohren fand das Gedicht vor allem bei linksgerichteten Kapitalismuskritikern. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass laut dem Gedicht das Finanzsystem aufgrund der »Spekulantenbrut« eine Umverteilung nach oben bewirkt, für die der »kleine Mann zu blechen hat«. Der Urheber ist politisch jedoch eher auf der anderen Seite zu finden. »Ich bin sicher kein Linker. Und ich fand es zuerst unglaublich, dass diese es sofort für sich reklamiert haben«, sagt Kerschhofer im Gespräch mit der »Presse«. Für ihn sei es nun aber eine »Genugtuung«, dass sein Gedicht – wenn auch unter falscher Urheberschaft – so große Berühmtheit erlangt hat.

Aber schon zu Zeiten Tucholskys waren lechts und rinks bisweilen zu velwechsern. Ein Leser der Westdeutschen Zeitung geht die Debatte daher sehr unideologisch an und meint: »Na egal wer es geschrieben hat, ob linker Weltverbesserer oder rechte Ätzbacke, das Gedicht ist trotzdem gut.«

Letzterem kann die Berliner Morgenpost hingegen nicht zustimmen. In einer ausführlichen Analyse der angerichteten Verwirrung schreibt Hendrik Werner:

Als erdrückendes Indiz, das von Anfang an gegen eine Urheberschaft Tucholskys hätte sprechen müssen, kommt noch hinzu, dass seine Lyrik zeitlebens sehr viel sperriger war als das ihm jetzt angehängte Gedicht. So hingegen klingt ein echter Tucholsky: »Ihr, in Kellern und in Mansarden, / merkt ihr nicht, was mit euch gespielt wird? / mit wessen Schweiß der Gewinn erzielt wird? / Komme, was da kommen mag. / Es kommt der Tag, / da ruft der Arbeitspionier: / Ihr nicht. / Aber Wir. Wir.« Dies ist die Schlussstrophe eines Gedichts namens »Die freie Wirtschaft«, das unter dem Pseudonym Theobald Tiger am 4. März 1930 in der »Weltbühne« veröffentlich wurde. Auch diese Verse sind kämpferisch und kritisch. Aber sie sind, anders als der Fake »Höhere Finanzwirtschaft«, nicht von dieser monotonen Betulichkeit, die bei einem formal konventionelleren Dichter wie Erich Kästner weit eher anzutreffen ist. Nichts gegen behäbige Paarreim-Strophen; Tucholsky indes war in ästhetischen Dingen um einiges avancierter.

Warum Werner aber dauernd von »Fake«, »Lug und Trug« und »Fälschung« spricht, ist nicht ganz ersichtlich. Eine Fälschung liegt laut Wikipedia dann vor, »wenn einer eigenen Leistung die Urheberschaft eines Anderen unterstellt wird«. Diesen Vorwurf kann man Kerschhofer nicht machen. Und der Person, die die »Höhere Finanzmathematik« wohl erstmals mit Tucholsky in Verbindung brachte, ist wohl eher Schusseligkeit vorzuwerfen. Bei der weiteren Verbreitung des Fehlers gelten dieselben Mechanismen, die auch die Weiterleitung von Hoaxes befördern: eine gewisse Gutgläubigkeit und Unbedarftheit gepaart mit fehlendem Hintergrundwissen. So entgegnet Thomas Wendt, der das Gedicht auf der Website des SPD-Ortsvereins Rerik Salzhaff Kröpelin veröffentlicht hat, auf den Vorwurf der ungeprüften und unreflektieren Übernahme dieser »Ente«:

Ungeprüft, das mag sein. Ein gewisser Grad an Plausibilität ist gegeben und das darf in diesem Falle reichen. Ob Tucholsky oder nicht, ist für die Aussage egal. Aber der Vorwurf, hier wäre etwas unreflektiert übernommen worden trifft auf keinen Fall zu. Da scheint mir eher der Vorwurf selber unreflektiert zu sein. ;-)

Um diese höhere Form der Dialektik zu beherrschen, muss man wohl Jahrzehnte auf Parteischulungen verbracht haben.

Vielleicht sollte man inzwischen dazu übergehen, wie es die Börsen-Zeitung gemacht hat, statt der Kerschhofer’schen Finanzmathematik den »Kurzen Abriß der Nationalökonomie« von Kaspar Hauser abzudrucken. Das ist immer noch unterhaltsamer, zutreffender und aktueller als alles, was sich beispielsweise Frank Schirrmacher im Feuilleton der FAZ zur Finanzkrise zusammenschreibt.

1.9.2008

Ein Bilderbuch für Verpflichtete

Die Bibliophilie mancher Verleger treibt bisweilen bizarre Blüten. So hat der Berliner accurat verlag in der vergangenen Woche zu einer besonderen Buchpräsentation am 1. September eingeladen. Der Anfang des Schreibens sah ungefähr so aus:

1912 geschah:

1. Kurt Tucholskys Evergreen,
 
RHEINSBERG,
EIN BILDERBUCH
FÜR VERLIEBTE,

 
illustriert von Kurt Szfranski,
erscheint.

2008 geschieht:

1. Die reprintete Erstausgabe
von
Kurt Tucholskys
RHEINSBERG
placiert auf einem
SILBERTABLETT,
(noblesse oblige)
erscheint.

Als nächste Paralle wird dann die Eröffnung einer „Bücherbar“ auf dem Kurfürstendamm angekündigt, in der ebenso wie bei Tucholskys damaliger Werbeaktion die Neuausgabe des Rheinsberg-Büchleins festlich begangen werden soll. Hintergründe zu dem Neudruck sowie der Bücherbar wusste der Oranienburger Generalanzeiger schon zu berichten:

Darüber hinaus kultiviert der Berliner die einst von Kurt Tucholsky und Kurt Szafranski ins Leben gerufene „Bücherbar“ für einen Monat neu. In Berlin, Am Kurfürstendamm 41, können Interessierte über Gott, das Leben und die Welt sprechen, ganz wie zu Tucholskys Zeiten. Bis Ende September soll die „Bücherbar“ zum Politisieren anregen. Als Chef des Clubs auf Zeit konnte Heinicke Hans-Peter Marcuse gewinnen, welcher dem Clan um den Philosophen Ludwig Marcuse entstammt. Bardame wird übrigens Gerhart Hauptmanns Enkelin Birgit Hauptmann sein. Das Rheinsberg-Paket in seinen zwei Varianten kann auch im Berliner Club erworben werden.

In einem Zusatzzettel der Presseinladung bot sich Peter Marcuse an, „Ihnen weiß behandschuht, das auf dem Silbertablett befindliche Besprechungsexemplar in der BÜCHERBAR zu überreichen“. Wessen Adel zu diesem Brimborium verpflichtet, geht aus der Ankündigung nicht ganz hervor. Der erwiesenermaßen nicht blaublütige Tucholsky verwandte diesen Ausdruck ohnehin nur in Verballhornungen: Noblessoblisch, Snoblesse oblige oder Pleitesse oblige.
Der Verlag kann sich daraus das Passende aussuchen.

11.8.2008

Rücksichtsloses Gebell

Der Anlass ist nicht ganz ersichtlich, aber die taz hat sich ein bisschen mit dem Medienkritiker Tucholsky beschäftigt. Daraus wird in Sabrina Ebitschs Artikel „Salat für Zeitungsleser“ jedoch gleich ein kläffender, Verzeihung yapping „media watch dog der ersten Stunde“. Ein Leser weist in einem Kommentar zu Recht darauf hin, dass dieser Anglizismus doch für den Hundehasser Tucholsky kein passender Titel sei, was wiederum Detlef Gürtler zum gegebenen Anlass nimmt, in seinem „Wortistik-Blog“ über sinnvolle Übersetzungen des Begriffs zu sinnieren. Warum der Ausdruck Medienkritiker dem selbst ernannten „word watch dog“ der Nation nicht gefällt, ist nicht ganz ersichtlich.

Nun aber zum eigentlichen Thema: Dass Tucholsky überhaupt den Kollegen ihre „Unsauberkeiten“ laut taz „genüsslich unter die Nase“ reiben konnte, lag auch an dem Medium, das ihm diese Kritik ermöglichte. In diesem Fall war das die Schau- und Weltbühne, die sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts darüber hinwegsetzte, dass die Presse nicht über sich selbst schrieb. Dazu heißt es in dem kürzlich erschienenen Lesebuch zur Weltbühne im Kapitel Medienkritik:

Während es heutzutage selbstverständlich scheint, dass die überregionalen Zeitungen jeden Tag eine ganze Seite den Entwicklungen innerhalb der Medien widmen, war dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts völlig anders. Das lag nicht nur daran, dass es die elektronischen Medien wie Fernsehen, Radio und Internet noch nicht gab. Bezeichnend für den damaligen Zustand ist eine Klage [Siegfried] Jacobsohns in einer „Antwort“ vom 30. September 1915: „Immer wieder wird mir vorgehalten, daß ich dem Stand nicht nütze, indem ich seine eigenen Angelegenheiten erörtere. Aber dem Stand kann nur diese öffentliche Erörterung nützen, die rücksichtsloseste am meisten.“ Indem sie gegen presseinterne Widerstände solche Themen aufgriff, trug die „Weltbühne“ dazu bei, eine journalistische Medienkritik zu etablieren. Sie befasste sich dabei mit grundsätzlichen Fragen von Theorie und Praxis der Medienproduktion und -rezeption. Ihre frühen Analysen besitzen zum Teil zeitlose Gültigkeit.

Oder, mit den Worten der taz: „Manches, was er [Tucholsky] schreibt, würde sich allerdings selbst heute auf den Medienseiten der Zeitungen nicht anachronistisch lesen.“

7.8.2008

Augen in der Großstadt 2.0

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
          da zeigt die Stadt
          dir asphaltglatt
     im Menschentrichter
     Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück . . .
War’s etwa der hier? Oder die da?

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
          Ein Auge winkt,
          die Seele klingt;
     du hasts gefunden,
     nur für Sekunden . . .
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück . . .
Schau besser nach hier, immer wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
          Es kann ein Feind sein,
          es kann ein Freund sein,
          es kann im Kampfe dein
          Genosse sein.
     Es sieht hinüber
     und zieht vorüber . . .
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
          Von der großen Menschheit ein Stück!
Man sagt nur C’est la vie da.


Wie erfolgreich solche Augenblicks-Anzeigen sind, steht in der Berliner Zeitung.

3.8.2008

Nicht ganz mit der Wahrheit übereinstimmend

Die Berliner Morgenpost widmet sich derzeit in einer Serie verschiedenen „Liebesgeschichten aus Berlin“. In Folge 11 erklärt Anna Mertens das „Bilderbuch für Verliebte“, wie Tucholskys kurze Geschichte Rheinsberg im Untertitel heißt. Gegen Mertens‘ Interpretationen ist im Großen und Ganzen nichts einzuwenden, wobei eine Behauptung jedoch rätselhaft wirkt:

1912 erschien seine erste Liebesgeschichte unter dem Titel „Rheinsberg – ein Bilderbuch für Verliebte“ mit einem erstaunlich fortschrittlichen Frauenbild, dass der beziehungsunfähige Tucholsky im wahren Leben kaum unterstützte.

Was will die Autorin damit wohl sagen? Zunächst kann man festhalten, dass die „Claire“ in Rheinsberg durchaus eine „fortschrittliche“ Frau war, „daß sie Medizinerin war, wie sie zu sein vorgab, war kaum glaubhaft, jedoch mit der Wahrheit übereinstimmend“, heißt es da. Auch die Beziehungsunfähigkeit, die Tucholsky unterstellt wird, trifft nach Ansicht seiner Biographen ebenfalls zu. Wenn Tucholsky also selbständige und emanzipierte Frauen nicht gut gefunden hätte, warum hat er 1920 ausgerechnet Else Weil, das reale Vorbild der „Claire“, geheiratet? Gerade weil um die Unzulänglichkeiten menschlicher Beziehungen wusste, lag ihm daran, dass auch Frauen in der Lage sein sollten, für sich selbst zu sorgen und nicht von einem verdienenden Ehemann abhängig zu sein. Sämtliche Frauen, mit denen Tucholsky länger liiert war, waren alles andere als „Heimchen am Herd“. Mary Gerold arbeitete vor und nach ihrer Ehe als Sekretärin in Verlagen, Lisa Matthias war Journalistin und Hedwig Müller praktizierte ebenso wie Else Weil als Ärztin. Was Tucholsky allerdings nicht verwinden konnte: am Ende seines Lebens finanziell nicht mehr unabhängig und selbst auf die Unterstützung einer Frau (Hedwig Müller) angewiesen zu sein. So progressiv war er im wahren Leben dann doch nicht.

15.7.2008

Auf der Suche nach den verlorenen Jahren

In den 1996 erschienenen Marginalien, die der Tucholsky-Gesamtausgabe vorausgeschickt wurden, ist auf Seite 17 ein Editionsplan abgedruckt, der sich im Nachhinein als ziemlich ehrgeizig erwiesen hat: Demnach sollte im Jahr 2003 der letzte der 22 Bände erscheinen, zwei bis drei Bände hätten jedes Jahr gedruckt werden müssen. Daher wäre vor fünf Jahren wohl ein guter Zeitpunkt gewesen, nach den Verzögerungen bei der Edition zu fragen. Schließlich fehlten damals noch 9 der 22 Bände. Aber warum hetzen, mag sich Welt-Autor Lutz G. Wetzel gedacht haben, als er sich dieser Tage auf die Spur der Gesamtausgabe gemacht und dies für seine Zeitung aufgeschrieben hat.

Im Text lässt er seine Leser ausführlich an seiner Recherche teilhaben, die ihn zunächst in entlegene Gefilde wie eine Buchhandlung und auch ins Internet führt.

Die Nachfrage bei den Herausgebern gestaltet sich schwierig. Sehr schwierig sogar. Denn offensichtlich hat ein hartes Schicksal ihre Reihen inzwischen gelichtet. Bedrückende Nachrichten: „Plötzlich und unerwartet“ starb einer von ihnen. „Nach langer, schwerer Krankheit“ der Zweite. Und auf der Homepage des Dritten lese ich „Krankheitsbedingt bis auf weiteres keine Sprechstunden“. […] Doch geduldige Recherche führt mich in die Ebene 3, Raum B 308 des Bibliotheksgebäudes der Uni Oldenburg: die Kurt-Tucholsky-Forschungsstelle.

Erstaunlich, dass die Forschungsstelle genau da sitzt, wo es auf ihrer Homepage angegeben ist. Und wo man auch sonst alle Angaben findet, um unverzüglich mit den Mitarbeitern in Kontakt zu treten und nachzufragen. Aber da Herr Wetzel nun schon mal an der Uni Oldenburg ist, nutzt er ausführlich die Gelegenheit, mit der übrig gebliebenen Herausgeberin Antje Bonitz zu reden. Dann endlich erfährt der Leser auch, dass die Gesamtausgabe eigentlich schon komplett erschienen ist und der letzte Inhaltsband in diesem Jahr fertiggestellt werden soll. Zum Abschluss fehlen nur noch die Register, deren Veröffentlichung bis 2010 geplant ist. Womit der Rowohlt-Verlag die aktuelle Publikationsgeschwindigkeit von einem Band pro Jahr beibehalten würde.

Auf den Verlag und dessen Tucholsky-Lektor ist der Autor aber dennoch nicht gut zu sprechen.

Schmallippig spricht er von den „verlagsseitig eingeschränkten Möglichkeiten der Finanzierung“, lobt die teuren Bände als ausgesprochen preiswert und erweist sich darüber hinaus als nicht sehr auskunftsfreudig.

Es ist offensichtlich, dass die 22 Bände mit einem Gesamtpreis von fast 1100 Euro kein Verkaufsschlager sind. Daher muss man dem Verlag zumindest zugute halten, das Projekt bis zum Ende fortzuführen. Noch lobenswerter wäre es natürlich, wenn die Gesamtausgabe anschließend auf DVD erschiene und man sie dann noch besser dafür nutzen könnte, wofür sie vor allem geeignet ist: zum wissenschaftlichen Recherchieren. „Vielleicht liest das keine Sau“, glaubt Bonitz sogar selbst und womöglich liegt sie damit gar nicht so falsch, wenn man die Lektüre der Gesamtausgabe mit dem Lesen eines Romans vergleicht.

Was Wetzel mit seinem merkwürdig intendierten Text bei seinen Lesern hervorgerufen hat, kann man in den Kommentaren der Welt-Online wie immer gleich nachlesen. So schreibt „Heidi Bazin“:

Liest man heute die Artikel die Tucholsky in den 30er Jahren geschrieben hat, so meint man, tagesaktuelle Kommentare zu lesen. Kommt die Gesamtausgabe vielleicht deshalb nicht auf den Tisch?

Richtig, Frau Bazin, und vermutlich stecken auch in diesem Fall die CIA und der Mossad dahinter.

4.7.2008

Kaffka trifft Tucholski

Am 3. Juli war es 125 Jahre her, dass Franz Kafka in Prag geboren wurde. Klaus Bellin hat zu diesem Anlass im Neuen Deutschland mit Recht darauf hingewiesen, dass Tucholsky zu den ersten Literaturkritikern gehörte, die Kafkas Schriften würdigten, darunter die 1919 erschienene Erzählung In der Strafkolonie:

Ganz anders Kurt Tucholsky. Als die Erzählung, leicht gekürzt, im Mai 1919 bei Kurt Wolff erschien, nannte er sie in der „Weltbühne“ eine „Meisterleistung“ und sprach von einer „grenzenlosen und sklavischen Verneigung“ des folternden Offiziers „vor der Maschine dessen, was er Gerechtigkeit nennt, in Wahrheit: vor der Macht. Und diese Macht hat hier keine Schranken.“ Tucholsky gehörte zu den wenigen, die den Rang Kafkas gleich erkannten. Schon 1913 hatte er sich voller Anerkennung über die „Betrachtung“ geäußert.

Kafka war für Tucholsky jedoch schon einige Jahre vorher ein Begriff. Im jüngst erschienenen Band 16 der Gesamtausgabe taucht der Prager Versicherungsbeamte in einem der ersten Briefe auf, die von Tucholsky überhaupt überliefert sind. So hieß es einem Schreiben vom 5. November 1911 an Kafkas Freund Max Brod:

Ich bitte Sie, mich Herrn Dr. Kaffka und Herrn Baum zu empfehlen.

Tucholsky hatte Kafka (die ungewöhnliche Schreibweise von Kafkas Namen tauchte auch 1920 in der Besprechung der „Strafkolonie“ wieder auf) und den blinden Schriftsteller Oskar Baum wenige Wochen zuvor in Prag kennengelernt, als er zusammen mit seinem Freund Kurt Szafranski Max Brod besucht hatte. Nach der Begegnung am 30. September 1911 hatte Kafka in seinem Tagebuch über Tucholsky notiert:

…ein ganz einheitlicher Mensch von 21 Jahren. Vom gemäßigten und starken Schwingen des Spazierstocks, das die Schulter jugendlich hebt, angefangen bis zum überlegten Vergnügen und Mißachten seiner eigenen schriftstellerischen Arbeiten. Will Verteidiger werden, sieht nur wenige Hindernisse – gleichzeitig mit der Möglichkeit ihrer Beseitigung: seine helle Stimme die nach dem männlichen Klang der ersten durchredeten halben Stunde angeblich mädchenhaft wird – Zweifel an der eigenen Fähigkeit zur Pose, die er sich aber von größerer Welterfahrung erhofft – endlich Angst vor einer Verwandlung ins Weltschmerzlerische, wie er es an ältern Berliner Juden seiner Richtung bemerkt hat, allerdings spürt er vorläufig gar nichts davon. Er wird bald heiraten.

Um sich im nächsten Absatz für die falsche Schreibweise zu revanchieren:

Gestern abend auf dem Nachhauseweg hätte ich mich als Zuschauer mit Tucholski verwechseln können. Das fremde Wesen muß dann in mir so deutlich und unsichtbar sein, wie das Versteckte in einem Vexierbild, in dem man auch niemals etwas finden würde, wenn man nicht wüßte, daß es drin steckt.

Eine der letzten Reverenzen Tucholskys an Kafka stammt aus dem Jahre 1930:

Kafka. Ganz großer Mann. Ich habe ihn noch gekannt – aus Berlin und Prag. Willy Haas hat schön über ihn geschrieben. Ein großer Dichter.

schrieb er orthografisch korrekt an die „Katholikin“ Marierose Fuchs. Dem zu diesem Jahrestag wohl nichts hinzuzufügen ist.

2.6.2008

Verlage in treuen Händen

Die Parallelen sind schon frappierend. „Zu diesem bösem Spiel fällt uns nichts mehr ein!“, schrieben die Mitarbeiter eines Verlages, denen der Verleger Bernd F. Lunkewitz gerade den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Wegen gerichtlicher Streitigkeiten hatte er entschieden, das angeschlagene Unternehmen nicht mehr weiterzuführen. Die letzten Sätze seiner Erklärung dazu lauteten:

Da auch die Treuhandanstalt (…) den Verlag nicht an sich zog, wird er „abgewickelt“ wie so vieles in diesem Lande, was durchaus noch hätte weiterleben können. So kann die konsequente Umsetzung der Gerechtigkeit zu Ungerechtigkeit führen.

Nein, es handelt sich dabei nicht um das Schicksal des Aufbau-Verlages, der in diesen Tagen seine eigenen Erfahrungen mit Lunkewitz machen musste. Es ging um das Ende der „Weltbühne“, das durch einen Rechtsstreit zwischen Peter Jacobsohn, dem Sohn Siegfried Jacobsohns, und dem Verlag der Weltbühne im Juli 1993 besiegelt wurde. Wie dieses Ende sich genau zugetragen hat, ist an dieser Stelle ausführlich nachzulesen. Aber schon damals schien den Mitarbeitern nicht ganz klar, was ihr Verleger eigentlich vorhatte. Nach Ansicht inzwischen gestorbener Prozessbeteiligter trug er seinen Spitznamen nicht zu Unrecht. Besonders perfide empfanden die betroffenen Mitarbeiter, dass Lunkewitz durch sein Verhalten vor Gericht dem Verlag auch unter einem anderen Besitzer jede Zukunft verbaut hatte. Denn dem Verlag war künftig untersagt, den Titel der „Weltbühne“ weiter zu nutzen. Und seitdem ist die Zeitschrift auch nie wiederbelebt worden.

Wie es mit dem Aufbau weitergeht, ist derzeit alles andere als klar. Gut möglich, dass Gerechtigkeit wieder zu Ungerechtigkeit führen wird. Dieses Mal will Lunkewitz die Gerechtigkeit offenbar auf seiner Seite wissen.

30.5.2008

Barock around the clock

Tucholsky hat in seinem Leben etliche Texte zusammengeklappert oder geschmiert, wie er es bisweilen ausdrückte. Neben journalistischen Arbeiten gehörten dazu Erzählungen, Gedichte, Chansons, aber auch eine nie aufgeführte Revue, ein selten gespieltes Theaterstück („Christoph Kolumbus“) sowie ein unverfilmtes Drehbuch („Seifenblasen“). Nicht überliefert ist dagegen, dass er sich einmal an einem Opernlibretto versuchte. Was auch daran gelegen haben mag, dass er nicht als besonderer Freund des klassischen Musiktheaters bekannt war: „Ich bin unmusikalisch. (…) Musik läßt mich aufhorchen; wenn ich sie höre, habe ich ein Bündel blödsinniger Assoziationen – und dann verliere ich mich im Gewirr der Töne, finde mich nicht mehr heraus … Und um rat- und hilflos zu sein, dazu brauche ich schließlich nicht erst in eine Oper zu gehen“, bemerkte er einmal einem spöttischen Text über „Die Musikalischen“.

Tucholsky-Fans horchen daher auf, wenn eine Opernsängerin ankündigt, Tucholsky-Texte als barocke Arien zu singen. Am 23. Mai präsentierte die Sopranistin Kirstin Hasselmann ein solches Programm in Berlin. Begleitet wurde sie von dem Jazzgitarristen Takashi Peterson auf einer E-Gitarre, was eine gewisse Brechung des Operngenres versprach.

Bei solchen Experimenten stellt sich natürlich immer die Frage, ob es „funktioniert“. Ob es möglich und sinnvoll ist, die Texte einmal anders als in der üblichen Holländer-, Nelson- oder Eisler-Vertonung oder in moderneren Fassungen zu hören. Wobei die Tatsache an sich, diese Konventionen einmal zu brechen und sich auf neues Terrain zu wagen, schon zu begrüßen ist.

Tucholsky selbst war generell durchaus kritisch, was den Bühnenvortrag von Texten betrifft, die ursprünglich nicht für Hörer, sondern für Leser gedacht waren:

Die meisten Verse, die ich geschrieben habe, sind für das Auge geschrieben – sie klingen nur so, als wirkten sie auch gesprochen. Das tun aber manche mitnichten, ich weiß es. Die für das Ohr geschrieben sind, veröffentliche ich selten, denn sie erschienen wieder dem Auge leer. Lesend verstehn wir sehr rasch – hörend viel, viel langsamer. In einer zu singenden Strophe ist nur für einen einzigen Gedanken Platz – in einer gedruckten darf, ja, sollte jede Zeile etwas Neues enthalten.
Peter Panter: „Otto Reutter“, in: Die Weltbühne, 16.2.1932, S. 254ff.

Was dieses Problem betrifft, so kann sich Tucholsky in vorliegenden Fall nicht postum beschweren. Im Gegenteil. Die Arien geben den Texten sehr viel Raum. Hasselmann beschränkt sich darauf, einzelne Sätze eines Textes oder Strophen eines Gedichtes vorzutragen. Was diesen von Natur aus eine gewisse Schwere und Bedeutung verleiht, die sie innerhalb des gesamten Textes sonst nicht hätten. Ergänzt werden die Arien durch Vorträge einzelner Texte wie „Zur soziologischen Psychologie der Löcher“ oder „Der Mann im Spiegel“. Der rote Faden, der sich durch das einstündige Programm zieht, ist Tucholskys Leben. Wobei man in diesem Fall besser von einem schwarzen Faden sprechen sollte, denn Hasselmann beginnt mit dessen vorweggenommenen Ende, dem satirischen „Requiem“ von 1923, das Tucholsky für sein Pseudonym Ignaz Wrobel geschrieben hatte. In der ersten Hälfte des Abends kommt der politische und satirische Tucholsky zu Wort beziehungsweise zu Gesang. Nach einer Zäsur, die von Peterson in einer großartigen Improvisation über ein Bach-Menuett markiert wird, schildern die Arien dann eher den melancholischen und selbstbezüglichen Schriftsteller, der sich über die Grenzen seines Schaffens klar zu werden versucht. Ebenso wie Tucholsky am Ende nur noch „Schnipsel“ veröffentlichte, fallen auch aus den Requisiten die Papierschnipsel, als löse sich das Werk des Autors in seine Bestandteile auf.

Hat der Abend also „funktioniert“? An der musikalischen Leistung von Hasselmann und Peterson, sofern dies ein unmusikalischer Menschen beurteilen darf, gibt es nichts auszusetzen. Das gilt auch für die Inszenierung, die im Robert Stolz Verein mit wenigen Mitteln auskommen musste. Aber die Kombination von Musik und Text, die laut Programm durch „wechselseitige Spiegelungen“ neue Wahrnehmungen öffnen soll? Im Journalismus ist von Text-Bild-Scheren die Rede, wenn die Bildunterschrift sich mit dem Foto beißt. Vielleicht gibt es in der Musik analog Text-Musik-Scheren. Es ist für das Ohr schon sehr ungewohnt, Musik von Bach, Telemann, Händel und Gluck mit modernen Gedanken und Begriffen in Verbindung zu bringen. Vor allem, wenn es sich dabei nicht um eine Parodie handelt. Es ist aber auch gut möglich, dass gerade dieser Gegensatz einiges vom Wesen Tucholskys einfängt. Denn Tucholsky war ein eher barocker, sinnenfroher Mensch, der sich in der schnelllebigen Moderne und in der politisch aufgeheizten Epoche der Weimarer Republik im Grunde unwohl fühlte. „Mich haben sie falsch geboren“, lautete ein häufiges Lamento seit 1924. Wenn er in der richtigen Zeit gelebt hätte, hätte er bestimmt auch mal ein Libretto geschrieben.

Weitere Vorstellungen am 6.6., 4.7., 25.7. um 20 Uhr im Robert Stolz Verein, Langenscheidtstr. 11 in Schöneberg (U 7 Kleistpark)

10.5.2008

Auf Ochsenkarren zum Scheiterhaufen

Der 75. Jahrestag der Bücherverbrennung ist von Politik, Gesellschaft und Medien seit Wochen gebührend gewürdigt worden. Vor dem Brandenburger Tor in Berlin fand am Freitag eine zentrale Veranstaltung statt, auf der Bundespräsident Horst Köhler laut „Süddeutscher Zeitung“ „eine beeindruckende Rede“ hielt. Köhler betonte darin, dass es vor allem Akademiker waren, die die Bücher verbrannten:

Die Geschichte der geistigen Vorbereitung der Bücherverbrennung führt uns die beschämende Tatsache vor Augen, dass die ersten Institutionen in Deutschland, in denen der Nationalsozialismus die Meinungsführerschaft und dann auch, etwa in Studentenausschüssen, die Mehrheit erobert hatte, die deutschen Universitäten waren. Hier, an den Stätten, die doch der geistigen Freiheit, der Kritik, der argumentativen Auseinandersetzungen hätten dienen sollen, wurde der Geist der Unfreiheit, der Intoleranz, der Ausgrenzung erzeugt.

In einem weiteren von insgesamt vier Artikeln zu dem Thema weist die SZ darauf hin, dass die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas seit dem 50. und 70. Jahrestag nicht viel Neues ergeben habe. Neu ist dagegen die „Bibliothek der verbrannten Bücher“, die das Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum herausgibt. Unter den ersten zehn Bänden der auf 120 Bücher konzipierten Reihe ist auch Kurt Tucholskys 1931 erschienener Sammelband Lerne Lachen ohne zu weinen. Neu im Internet ist außerdem die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“, die der Berliner Senat online gestellt hat. Tucholsky ist mit „sämtlichen Schriften“ ebenfalls in der Liste enthalten. Man findet den Eintrag aber nur, wenn man die Schreibweise seines Namens (Tucholski) eingibt, die die Nazis offiziell gebrauchten.

Zum 70. Jahrestag gab es ebenfalls noch nicht den ausführlichen Wikipedia-Artikel zu den Bücherverbrennungen von 1933 . Dort finden sich viele Hintergrundangaben, Originaldokumente und Links zu weiterführenden Seiten. Und auch Tucholskys Reaktion auf die Bücherverbrennung in einem Brief vom 17. Mai 1933 an Walter Hasenclever:

Unsere Bücher sind also verbrannt. Im Buchhändlerbörsenblatt ist eine große Proskriptionsliste für in vierzehn Tagen angekündigt. Dieser Tage stand an der Spitze des Blattes im Fettdruck: „Folgende Schriftsteller sind dem deutschen Interesse abträglich. Der Vorstand des Börsenvereins erwartet, daß kein deutscher Buchhändler ihre Werke verkauft. Nämlich: Feuchtwanger – Glaeser – Holitscher – Kerr – Kisch – Ludwig – Heinrich Mann – Ottwalt – Plivier – Remarque – Ihr getreuer Edgar [= Kurt Tucholsky] – und Arnold Zweig.“ In Frankfurt haben sie unsere Bücher auf einem Ochsenkarren zum Richtplatz geschleift. Wie ein Trachtenverein von Oberlehrern. […]
Da kommen sie nun aus allen Löchern gekrochen, die kleinen Provinznutten der Literatur, nun endlich, endlich ist die jüdische Konkurrenz weg – jetzt aber! Will Vesper in seiner Neuen Literatur: immer feste! (Ich werde nun langsam größenwahnsinnig – wenn ich zu lesen bekomme, wie ich Deutschland ruiniert habe. Seit zwanzig Jahren aber hat mich immer dasselbe geschmerzt: daß ich auch nicht einen Schutzmann von seinem Posten habe wegbekommen können.) Binding ist ein großer Mann. Dann: Lebensgeschichten der neuen Heroen. Und dann: Alpenrausch und Edelweiß. Mattengrün und Ackerfurche. Schollenkranz und Maienblut – also Sie machen sich keinen Begriff, Niveau null.

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