14.2.2006

Selten so vermutet

Was dem einen sein Witz, ist dem anderen seine Beleidigung, lässt sich nicht nur anhand dieses aktuellen Beispiels belegen. Daher ist auch die Frage müßig, ob die eine Nation mehr oder weniger Humor als die andere hat. Bei Literaturen sind diese Vergleiche nicht viel sinnvoller, wie uns niemand Geringeres als Marcel Reich-Ranicki zu beweisen versucht. Wenn Sie diesen fragten, – was ein Mr. John Grey aus Brighton getan hat -, warum Schiller nicht so witzig wie Shakespeare dichtete, antwortete er, unter vielem anderen:

Dennoch wage ich zu vermuten, daß, von der englischen abgesehen, kaum eine Literatur der Welt so viel Humor habe wie die deutsche. Und daß also die gegenteilige Behauptung bloß ein Klischee sei, das von Generation zu Generation ungeprüft weitergereicht werde.

Erstaunlicherweise hat Tucholsky, für Reich-Ranicki ein Autor mit „Pfiff und Humor“, zu diesem Klischee sein Scherflein beigetragen. Allerdings versuchte er zwischen dem deutschen Humor an sich und seinem literarischen Niederschlag zu unterscheiden. So heißt es in „Etwas vom Humor“, einem der wenigen Tucholsky-Texte, die in der Frankfurter Zeitung erschienen:

Wir Deutschen haben Humor – ja, man kann fast versucht sein, zu sagen, deutscher Humor, das sei fast ein Pleonasmus, so wie deutsche Musik. Und beinahe ist es in der Tat auch so.
Doch haben wir nicht viele Humoristen.

Letzterem würde Reich-Ranicki widersprechen, aber Tucholsky bezog sich vermutlich auf die Gegenwart des Jahres 1918, das in dieser Hinsicht nicht viel zu bieten hatte. Denn wer erinnert sich noch an Stefan von Kotze, den Tucholsky in seinem Text als Naturbursche des Humors anpreist.

Wenn jemand wie Reich-Ranicki aber nur zu „vermuten“ und nicht zu „behaupten“ wagt, scheint er seiner Sache wirklich nicht sehr sicher zu sein. Wie lässt es sich sonst erklären, dass ausgerechnet Deutschlands prominentester Literaturkritiker in diesem Satz in einen falschen Konjunktiv verfällt. Vielleicht ist die deutsche Sprache einfach zu schwer, um gute Witze zu machen. Auch nur so ’ne Vermutung.

11.2.2006

Der Jahrhundertkerl

Am 17. Februar 2006 ist es 150 Jahre her, dass der deutsche Dichter und Journalist Heinrich Heine seine Pariser Matratzengruft für immer verlassen musste. Nach dem 250. Geburtstag Wolfgang Amadeus Mozarts schon der zweite Jubiliäumsevent in diesem noch jungen Jahr.

Kein Wunder, dass sich die Zeitungen schon mal in Würdigungen warm laufen. In der aktuellen Literaturbeilage der Welt finden sich gleich zwei Texte, in denen die naheliegende Verbindung zwischen Heine und Tucholsky geschlagen wird. So antwortet Robert Gernhardt in einem Interview auf die Frage, ob die deutsche Literatur tatsächlich so humorfern wie ihr Ruf sei:

Nein, es trifft nicht zu. Heine steht ja keineswegs allein. Er bezog sich auf Lessing, der keinem Streit aus dem Weg ging und dabei auch seinen Witz einsetzte. Aber er hätte auch Lichtenberg nennen können, dessen Witz noch heute zündet. Auch Gellert und selbst Goethe haben komische Gedichte geschrieben, die heute noch zum Lachen sind. Und nach Heine hört die Reihe der deutschen Dichter nicht mehr auf, die komische Wirkung anstreben und auch erzielen: Auf Heine folgt Wilhelm Busch, dann Morgenstern, dann Ringelnatz, dann Tucholsky, dann Brecht, dann Kästner, dann Jandl. Nein, die komische Lyrik zieht sich wie ein roter Faden durch die deutsche Literaturgeschichte der letzten 250 Jahre.

In einem weiteren Text stellt Heine-Biograph und Tucholsky-Herausgeber Fritz J. Raddatz seine Alliterationsfähigkeiten unter Beweis: „Derlei Pirouetten eines unzuverlässigen Elegant verabscheute der biedere Barde Börne“, heißt es in „Die Moderne beginnt – hier“. Dem Artikel zufolge hat sich Heine bei seinen letzten Worten leicht versprochen: „Dieu me pradonnera, c’est son métier“, soll er gesagt haben, aber das rare Tucholsky-Zitat ist korrekt wiedergegeben:

Die Moderne hat das Individuum eingesetzt als einzig zuverlässige Größe, vom Aufkünden jeglicher Gefolgschaft, die ein Tucholsky in die Zeilen goß „was ist der Unterschied zwischen Mussolini, Stalin und Hitler? Ja, wer das wüßte“ (..)

schrieb, Verzeihung, goss er im Frühjahr 1932 in ein Buch, das er dem Schriftsteller Walter Mehring widmete.

Und in welches Verhältnis zu Heine setzte sich Tucholsky selbst? Darüber gibt beispielsweise der Text „Bänkelbuch“ Auskunft, in dem es heißt:

Herr Kästner und Herr Tiger sind Talente: Heinrich Heine aber ist ein Jahrhundertkerl gewesen. Einer, dessen Liebes-Lyrik – mit Ausnahme der letzten Lieder – dahin ist; aber einer, der das Schwert und die Flamme gewesen ist, eine Flamme, die bis zu Nietzsche hinaufloderte.

… und der mit der berühmten Feststellung endet:

Die Zahl der deutschen Kriegerdenkmäler zur Zahl der deutschen Heine-Denkmäler verhält sich hierzulande wie die Macht zum Geist.

Woran sich die Preisfrage anschließen lässt: Wo steht das Heine-Denkmal, das sich durch das folgende, leicht verspielte Detail auszeichnet:

Foto: © www.sudelblog.de

Nachtrag 17.2.: Die Antwort findet sich hier.

10.2.2006

Eine kurze Geschichte der Blasphemie

Je länger der Karikaturenstreit andauert, desto merkwürdigere Details kommen ans Tageslicht. Ein positiver Effekt der Debatte dürfte aber darin bestehen, dass sich die Öffentlichkeit noch einmal darüber klar wird, was es eigentlich zu verteidigen gilt und was in der europäischen Geistesgeschichte schon alles überwunden wurde. Einen umfassenden Versuch in diese Richtung unternahm Martin Halter, dessen entsprechender Text in der Badischen Zeitung und der Hannoverschen Allgemeinen erschien. Darin kommen auch zeitgenössische Karikaturisten zu Wort, die selbstredend wenig Verständnis dafür aufbringen, sich ausgerechnet in religiösen Dingen eine Zensur aufzuerlegen:

„Bei Karikaturen werden immer Menschen verletzt“, sagt Heribert Lenz; „ein positiver Witz ist kein Witz“. Selbst eher unpolitische Cartoonisten wie Hans Traxler oder Ralf König springen ihren Kollegen von „Jyllands-Posten“ jetzt mit Solidaritätskarikaturen bei: „Wenn der Westen nicht dagegen hält“, warnt König, „ist’s bald vorbei mit Presse- und Meinungsfreiheit.“

In seinem historischen Abriss kommt Halter an Tucholsky natürlich nicht vorbei:

Tucholskys berühmtes „Was darf Satire? Alles“ war 1919 mehr Manifest als Zustandsbeschreibung (und allenfalls die halbe Wahrheit); aber Kabarettisten, Karikaturisten und Schriftsteller glaubten sich damals noch in der historischen Offensive: Eine Religion, die das Schlachten des Weltkriegs segnete, schrieb Tucholsky 1929 zum Grosz-Prozess, habe das Recht verloren, sich über Schändung und Kränkung zu beklagen. Wenn jemand „Gefühle verletzt“ habe, dann eine Kirche, deren Autorität „rechtens in die Binsen gegangen“ sei.

Mit einem wahrhaft dialektischen Ausspruch von Meister Eckhart wartet Halter gegen Ende seines Textes auf: „Wer Gott selbst lästert, lobt Gott“, habe der Mystiker damals geraunt. Nur zur Erinnerung: In dem Karikaturenstreit geht es um alles mögliche, nur nicht um den lieben Gott.

3.2.2006

Der lustigste Philosoph der Welt

Aus Anlass einer Chaplin-Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen wird hier und da darauf hingewiesen, dass Tucholsky ein glühender Verehrer des englischen Komikers war. In dem Text „Der berühmteste Mann der Welt“ empfahl er seinen Lesern von 1922:

Er ist, wie alle großen Komiker, ein Philosoph. Versäumen Sie nicht, ihn sich anzusehen. Sie lachen sich kaputt und werden ihm für dieses Lachen dankbar sein, solange Sie leben.

28.1.2006

Schlürfende Zitate

Die „Neue Zürcher“ widmet sich in ihrem Artikel „Übersetzerhonorare als Existenzbedrohung“ dem Streit zwischen deutschen Verlagen und Buch-Übersetzern. Autor Joachim Güntner hat wohl einmal davon gehört, dass Tucholsky früher gegen die Verleger polemisierte. Das sollte aber dennoch kein Grund sein, ihm folgendes Zitat zuzuschreiben.

Da sie nicht erst seit Kurt Tucholsky als Ausbeuter karikiert werden, die «aus den Hirnschalen» der kreativen Urheber «Champagner trinken», ist ihnen klar, dass sie in der Öffentlichkeit mit strikt wirtschaftlichen Argumenten nicht durchdringen werden.

Dieser Satz stammt von einem anderen Journalisten, der jüngst häufiger mit Tucholsky in Verbindung gebracht wurde. Und zwar von dem im vergangenen September verstorbenen Erich Kuby, der im November 2005 postum den Tucholsky-Preis erhielt. Korrekt lautet das Kuby-Zitat übrigens: Verleger schlürfen ihren Champagner aus den Gehirnschalen der Journalisten. Tucholskys Formulierung lautete dagegen: „So jagen Sie den sauern Schweiß Ihrer Autoren durch die Gurgel – kein Wunder, daß Sie auf Samt saufen, während unsereiner auf harten Bänken dünnes Bier schluckt. Aber so ist alles.“

Hunde in der Großstadt

Die Berlin-Korrespondentin des „Wiesbadener Kuriers“, Antje Schmelcher, hat sich auf recht humorvolle Weise mit dem Verhältnis der Hauptstädter zu ihren vierbeinigen Freunden auseinandergesetzt. „Wie heilige Kühe dürfen Berliner Hunde überall und jederzeit ihre Exkremente hinterlassen“, heißt es in „Warum die Hauptstadt auf den Hund gekommen ist“ zutreffend. Schmelcher schrieb nicht nur feinsinnige Beobachtungen aus jahrelanger Erfahrung auf („meine Tochter konnte zuerst bellen und dann erst sprechen“). Nein, sie beschäftigte sich auch mit Berlins hündischer Vergangenheit und deren literarischer Aufbereitung.

Aber was sagten eigentlich Berlins berühmte Flaneure über die Hunde? Von Kästner bis Tucholsky taucht in keiner Polemik ein Hund auf.

Was Tucholsky betrifft, ist diese Behauptung schlicht unzutreffend. Als bekennender Hundehasser ließ er kaum eine Gelegenheit aus, über „unsere gefiederten Lieblinge“ herzuziehen. Schrieb er 1922 zwar noch „Nein, ich hasse den Hund gar nicht“ und machte sich in „Der Hund als Untergebener“ eher über die „bestimmte Gattung Mensch, die ihn behandelt wie ein Brigadekommandeur die unterstellte Formation“ lustig, beschwerte er sich in späteren Texten heftig über das unablässige, sinnlose Gebelle. „Wenn einen nicht das Sinnloseste stört, das es auf Gottes Erdboden gibt: Hundegebell“, heißt es in „Französische Provinz“ (1927). Kurz nach seinem Umzug in den Pariser Vorort Le Vesinet klagte er:

Die im Prospekt garantierte ff. Morgenstille ist nicht geliefert worden. (…) Es hört sich an, als ob sich die Rotte Korah meilenweit mit einemmal übergäbe – wenn morgens die Lieferanten an den Häusern klingeln, steht der ganze Horizont in Flammen. Sie reißen an den Stricken, sie springen gegen die Gitter, sie flöhen sich, belfern, quietschen, jaulen, in den Triefaugen Treue zum Futternapf und zum angestammten Herrscherhause, durchaus konservativ und gegen die landfremden Elemente.

Zu Klassikern für Hundehasser gerieten die Feuilletons „Zwei Lärme“ und der berühmte „Traktat über den Hund, sowie über Lerm und Geräusch“ mit seinen Abschnitten 1. Scherz, 2. Satire und 3. Ironie und tiefere Bedeutung. Deren Quintessenz lautet in einem Satz zusammengefasst:

Hundebesitzer sind die rücksichtslosesten Menschen auf der Welt.

17.1.2006

Antworten

Nach den nicht enden wollenden Lobreden auf Siegfried Jacobsohns „Gesammelte Schriften“ versuchte die FAZ am Wochenende, die Verhältnisse noch einmal zurechtzurücken. In seinem Text „Kollege Jacobsohn oder Ist man Theaterkritiker für die Ewigkeit?“ beantwortet Gerhard Stadelmaier die Frage, die sich sein Kollege von der „Süddeutschen“ vergeblich gestellt hatte: Warum das Werk von Siegfried Jacobsohn nicht annähernd dieselbe Aufmerksamkeit der Nachwelt erhalten hat wie die Schriften seiner Starautoren Kurt Tucholsky und Alfred Polgar.

Aber man durchliest die Tausende von Jacobsohn-Seiten, diese überlangen, oft ohne jeden Absatz, ohne Pausen und Luftholen auskommenden Abhandlungen, ohne auch nur einmal von irgendeinem Hauch, geschweige denn von einem Luftzug angeweht zu werden. Kann sein, daß Jacobsohn für seine Zeit eine republikanische Berühmtheit, ein kritisches Wunderkind war. Aber nichts von ihm ragt zu uns herüber. Kein Stil, keine Haltung, kein Argument, keine Formulierung, kein Witz. Er bleibt ein Zeitverhafteter. Er schrieb wackere, schöne, ausführliche Rezensionen.

Stadelmeier irrt sich jedoch, wenn er schreibt:

Wie er die „Antworten an die Leser“ erfand. Wie er diese „Antworten“ nutzte, um Politisches, Grundsätzliches, den Kritikerberuf Reflektierendes auch dergestalt unterzubringen, daß er schamlos log: „Als Kritiker freut mich das Leben nur, wenn ich loben kann.“

Die „Antworten“ gehen vermutlich auf eine Anregung Tucholskys zurück, was schon dadurch naheliegt, dass die Rubrik wenige Monate nach dessen Eintritt in die Redaktion der „Schaubühne“ eingeführt wurde. In einem späteren Brief ermahnte Jacobsohn seinen Mitarbeiter dazu, nach außen nicht damit zu prahlen, die „Antworten“ erfunden zu haben. Dies solle ein Redaktionsgeheimnis bleiben. Ebenfalls war Tucholsky zeitweise vertraglich dazu verpflichtet, eine bestimmte Anzahl an „Antworten“ beizutragen, wobei Jacobsohn und später Ossietzky sicherlich einen Großteil dieser „Briefe an die Leser“ beisteuerten. Aber eine endgültige Antwort auf die Frage, wer welchen Beitrag verfasste, wird sich wohl nicht mehr finden lassen.

Nachtrag 24.2.2006: Für die Zeitschrift Ossietzky versuchte Otto Köhler mit ziemlich viel Schaum vor dem Mund eine Replik gegen Stadelmaier zu verfassen. Aus Köhlers Text „‚Kollege Jacobsohn‘ – nein danke!“ geht aber nicht so recht hervor, worauf er eigentlich hinaus will. Aber da der Artikel mit dem Satz: „Es sollte ein Geburtstagsartikel werden: Siegfried Jacobsohn, unser Gründervater, wäre am 28. Januar 125 Jahre alt geworden.“ beginnt, sollte man ihn am besten nicht weiterlesen. Gerhard Stadelmaier hat derzeit ohnehin andere Sorgen.

15.1.2006

Ein ganz evangelischer Jude

„Ein ganz gewöhnlicher Jude“ lautet der neue Film von Oliver Hirschbiegel, der am 19. Januar 2006 in den Kinos anläuft. Ben Becker stellt darin den Jude Emanuel Goldfarb dar, der schriftlich dazu eingeladen wird, vor einer Schulklasse über sein Leben als „jüdischer Mitbürger“ im heutigen Deutschland zu sprechen. Der Film zeigt nicht den Auftritt vor der Klasse, – den Goldfarb zunächst entrüstet ablehnt -, sondern seine monologisierende Auseinandersetzung mit dem Etikett des „normalen“ Juden in einem Land, das Jude-Sein alles andere als zu einer Normalität hat werden lassen.

Es kann natürlich kein Zufall sein, dass die Einladung an Goldfarb ausgerechnet von einem Kurt Tucholsky-Gymnasium ausgeht. Auch Tucholsky wollte als „ganz normaler“, assimilierter Jude in Deutschland leben, was so weit ging, dass er im Alter von 24 Jahren aus dem Judentum „austrat“ und sich während des Ersten Weltkrieges sogar evangelisch taufen ließ. Dennoch blieb er in den Augen seiner Gegner immer der „zersetzende Jude“, obwohl er selbst bekannte, dass ihn „die Frage des Judentums niemals sehr bewegt“ habe. Kein Zufall war es wohl dennoch, dass einer seiner letzten Briefe sich sehr eingehend mit dem Judentum befasste. Sein Brief an Arnold Zweig vom 15. Dezember 1935 war eine Bilanz seiner Erfahrungen als deutscher Jude und zugleich eine Abrechnung mit der jüdischen Gemeinde im Nazi-Deutschland.

Emanuel Goldfarb wird sich übrigens dazu durchringen, die Schüler des Tucholsky-Gymasiums zu besuchen.

5.1.2006

Tucholsky goes English

Mit der englischen Sprache stand Tucholsky bekanntlich auf Kriegsfuß:

Ich spreche zum Beispiel miserabel Englisch und verstehe es kaum, und es hat jahrelang gedauert, bis ich mit dem Verstande dieses dumpfe Wutgefühl aus mir herausbekommen habe. Lese oder höre ich heute Englisch, so schmerzt es mich, es nicht gut zu verstehen – aber ich bin auf den Schreibenden oder Sprechenden nicht mehr böse.

schrieb er dazu in einem Essay über „Die hochtrabenden Fremdwörter“ (1930). Mit dieser Abneigung korrespondiert die Tatsache, dass Tucholsky im englischsprachigen Raum ebenfalls kaum bekannt ist. Abhilfe will dem nun ein Weblog schaffen, das von einem in Europa lebenden US-Amerikaner herausgegeben wird.

Indie vom Indeterminacy-Blog hat ein Kurt Tucholsky-Weblog gegründet, auf dem er in Zukunft englische Übersetzungen von Tucholsky-Gedichten veröffentlichen möchte. Den Anfang macht das Gedicht „Das Lächeln der Mona Lisa“. David Raphael Israel vom Kirwani-Blog hat die Übersetzung noch etwas poetischer gestaltet. Über den Grund für seine Tucholsky-Begeisterung schreibt Indie:

Tucholsky was a brilliant and prescient satirist of the Weimar Republic era in Germany who saw exactly where the country was going politically and warned against it. He was so on target, to me it’s as if he could actually see the future. I’m not the first person to call his work visionary. I intend to translate some of his shorter pieces sometime soon, just to show how accurate they still are.

„I hope you have a little bit lucky“, würde wohl ein anderer Deutscher wünschen, der des Englischen ebenfalls nicht sehr mächtig war.

2.1.2006

Urheberrecht und Realität

Der „taz“ ist es an diesem Montag auf elegante Weise gelungen, die versäumte Würdigung von Tucholskys 70. Todestag nachzuholen. Mehr als eine Seite räumt sie in ihrem Feuilleton frei, um den Text „Presse und Realität“ abzudrucken, „dessen Gehalt uns auch heute noch – über 70 Jahre nach dem Tod des Autors – durchaus aktuell erscheinen will“.


Dem Artikel sind erläuternde Bemerkungen an die Seite gestellt, die einige zutreffende Behauptungen enthalten, aber auch etliche Fehler und Merkwürdigkeiten. Zum Beispiel:

„Macht die Bücher billiger“, lautete einer seiner bekanntesten Forderungen. „Druckt Tucholsky umsonst!“ ist so etwas wie ein verspätetes Echo darauf. Es ist unschwer abzusehen, dass sich einige Verlage darauf einrichten werden: Von diesem Jahr an wird es viele Ausgaben seiner Schriften geben.

Hallo!? Sind diese 681 Ausgaben von/über Tucholsky etwa wenige? Zu korrigieren bliebe ebenfalls, dass Tucholsky nicht am 23., sondern am 21. Dezember 1935 gestorben ist. Außerdem floh er nicht vor den Nazis nach Schweden, sondern bereits 1924 vor den Deutschen nach Paris. Dass Peter Panter ohne H geschrieben wird, kann aber jeder mal übersehen.

Etwas verwirrend ist auch die Behauptung, wonach nun jeder Tucholsky nachdrucken dürfe, – mit der Einschränkung: „zumindest in den ursprünglichen, nicht noch einmal nachträglich etwa von einem Herausgeber bearbeiteten Fassungen“. Damit meint die „taz“ vermutlich den Editionsschutz von 25 Jahren, der auf nicht vom Urheber erstellte Sammelwerke gilt. So dürfen die von Tucholsky editierten Sammelbände wie „Mit 5 PS“ nun nachgedruckt werden, während die Ergänzungsbände der „Gesammelten Werke“ noch rechtlich geschützt sind. Dass ein Herausgeber aber Tucholskys Originaltexte bearbeitet hat, dürfte sehr selten geschehen sein. Und wenn, dann möchte man dies eher ungern lesen.

Nachtrag 3.1.2006: Die „taz“ sieht sich bemüßigt, einen Fehler ihres Textes zu berichtigen. Doch keinen der genannten inhaltlichen. Nein, man bedauert lediglich, das Wort Pseudonym „mit dem männlichen Genus“ verknüpft zu haben. Dann hätte man auch so konsequent sein können und darauf hinweisen, dass „die Forderung“ weiblichen Geschlechts ist und es nicht „einer seiner bekanntesten Forderungen“ heißt.

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