13.10.2005

Immer dasselbe Lied

Warum mag die „Welt“ in ihrem heutigen Echolot Tucholskys „Lied vom Kompromiß“ zitiert haben? Ist etwa die Revolution ausgebrochen? Schließlich heißt es in dem Gedicht:

Seit November tanzt man Menuettchen,
wo man schlagen, brennen, stürzen sollt.
Heiter liegt der Bürger in dem Bettchen,
die Regierung säuselt gar zu hold.

Aber nein, ganz so schlimm ist es nun doch wieder nicht. Denn die zitierte erste Strophe lautet ganz harmlos:

Freundlich schaun die Schwarzen und die Roten,
die sich früher feindlich oft bedrohten.
Jeder wartet, wer zuerst es wagt,
bis der eine zu dem andern sagt:
»Schließen wir nen kleinen Kompromiß!
Davon hat man keine Kümmernis.(…)

Und dieses Lied hätte man in den vergangenen Jahren fast jeden Tag singen können.

7.10.2005

Und es geht doch

Es war in jenen goldenen Jahren, als sich die Bundesregierung vom Rhein an die Spree begab, um fürderhin Deutschland noch besser zu regieren. Zeitgleich mit den Berlin-Seiten renommierter Zeitungen startete in der neuen Hauptstadt ein Restaurant, das mit Namen und Stil sogar an die legendären zwanziger Jahre anknüpfen wollte. Im August 1999 also öffnete die „Weltbühne“ erstmals ihre Türen, – um sie zwei Jahre später für immer zu schließen. Allerdings nicht ohne zuvor von David Wagner auf den „Berliner Seiten“ der FAZ, die ein Jahr später ebenfalls eingestellt wurden, als das leerste Lokal Berlins beschrieben worden zu sein. Wer nun glaubt, der Name Weltbühne sei für gastronomische Experimente für alle Zeit verbrannt, der hat diesen Artikel aus dem „Hamburger Abendblatt“ vermutlich noch nicht gelesen.

20.9.2005

An der schönen Moselanerin

Sowohl bei der „Netzeitung“ als auch bei „Spiegel Online“ fand sich am Wochenende eine wortgleiche Reisereportage über die weinselige Mosel. Eingeleitet wurde der Text mit einem Zitat Tucholskys:

„Wir soffen uns langsam den Fluss hinunter“, notierte Kurt Tucholsky 1930 auf seiner Moselreise von Trier nach Koblenz. Angesichts der Fülle von Weingütern ist das wahrlich nicht schwer.

Davon abgesehen, dass sich Tucholsky und seine Freunde Jakopp und Karlchen den Fluss hinab, und nicht hinunter gesoffen haben, fand die feucht-fröhliche Moselreise bereits im Oktober 1929 statt. Im Gegensatz zu seiner berühmten Spessart-Wanderung hat Tucholsky über diese Reise nicht in einem größeren Feuilletonstück berichtet. Statt dessen verband er einen Bericht über die Fahrt mit einer wüsten Beschimpfung des Denkmals am Deutschen Eck, die in der Frage gipfelte, wann eine Regierung „einen solchen gefrorenen Mist“ endlich abkarren würde.

Weit weniger politisch war dagegen Tucholsky zweiter Reisetext. Darin bewunderte er die Schönheit einer Moselmaid:

Die Kellnerin nannten wir die ‚Tochter der Legion‘, und sie hieß Marietta. Sie war so schön, daß mir, als ich sie an diesem Nachmittag zum ersten Male sah, die Pfeife ausging; das geschieht alle Jahr nur dreimal: diesmal also in den „Drei Königen“ zu Bernkastel – so schön war sie.
Peter Panter: „Fräulein Marietta“, in: Vossische Zeitung, 19.6.1930

Nachtrag 25.9.2005: Der Reisetext über die Mosel kam vielen Medien offenbar sehr gelegen. Er erschien am 24.9. im „Darmstädter Echo“, der „Thüringischen Landeszeitung“, der „Thüringer Allgemeine“ und der „Ostthüringer Zeitung“. Und der Herbst ist noch nicht vorbei.

19.9.2005

Stretching auf dem Rummelplatz

Wenn irgendwo im Lande Wahlen vor der Tür stehen, wird in den Medien selten darauf verzichtet, aus Tucholskys bekanntester Wahlkampfglosse zu zitieren. Der „ältere, aber leicht besoffene Herr“ torkelt dann wieder durch die Kommentare und gibt sein klassisches Statement zum besten, wonach Wahlen der „Rummelplatz des kleinen Mannes“ seien.

Insofern ist es endlich einmal konsequent, dass ein Journalist sich selbst auf eine solche Tour begibt. Dies wird zumindest in einem Text bei „Spiegel Online“ angekündigt:

Jede Zeit hat ihre Zeugen. Bei Tucholsky war es ein „älterer, leicht besoffener Herr“, der laut über Politik nachdachte. Für uns war Dimitri, ein Einwanderer aus Russland, in der letzten Phase des Wahlkampfs unterwegs. Henryk M. Broder hat ihn exklusiv begleitet.

Im Gegensatz zum literarischen Vorbild ist Broders Zeitzeuge ist somit ein Mensch aus Fleisch und Blut. Außerdem hat er keinen „selbständjen Jemieseladn“, sondern ist stolzer Besitzer einer sieben Meter langen Stretchlimousine. Letztere verschafft Dimitri und seinem Chronisten problemlos Zugang zum Backstage-Bereich der Macht, worin sich leider die Pointe des gesamten Artikels erschöpft. Damit die Leser dennoch was zu schmunzeln haben, hat „Spiegel Online“ geschickterweise das Original Tucholskys beigefügt.

11.9.2005

Recycleberg

Die „Süddeutsche Zeitung“ hat den 100. Geburtstag der „Weltbühne“ nicht ganz vergessen und liefert in ihrer Wochenendbeilage eine ganzseitige Reportage über Rheinsberg nach. Der Autor des Textes ist Wiglaf Droste, und er fügt darin seine gesammelten Weisheiten über Tucholsky, Rheinsberg und die „Weltbühne“ zusammen. Was bereits hier, oder da, oder auch dort zu lesen war. Drostes diesbezügliche Erkenntnisse lassen sich in drei Sätzen zusammenfassen:

  1. Else Weil war eine viel emanzipiertere Frau als Claudia Roth.
  2. „Tucholsky war ein scharfer Gänger.“
  3. „Politik in Deutschland heißt Durchsetzung wirtschaftlicher Zwecke mit Hilfe der Gesetzgebung.“

Für seine nächste Selbstgeißelung möge sich Droste schon vormerken:

  1. Alfred Kerr hat in der „Weltbühne“ keinen einzigen Artikel veröffentlicht.
  2. Die DDR-„Weltbühne“ existierte nicht bis 1990, sondern bis 1993.

6.9.2005

Geschminkte Hintern

Ludwig Stiegler ist allgemein dafür bekannt, dass er vor deftigen, bisweilen deplazierten Vergleichen nicht zurückschreckt. Gebildet scheint er ebenfalls zu sein, der Vizevorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion. Hat er doch dem Sozialexperten Bert Rürup einmal eine Ejaculatio praecox vorgehalten und US-Präsident George W. Bush vorgeworfen, er benehme sich „als sei er der Princeps Caesar Augustus und Deutschland die Provincia Germania“. Dass Stiegler Tucholsky-Zitate kennt, war daher nicht anders zu erwarten. So steht im aktuellen „Spiegel“ denn auch zu lesen (laut Vorabmeldung):

Merkels Konzepte erinnerten ihn an ein Zitat von Kurt Tucholsky. Stiegler: „Man kann den Hintern schminken, wie man will, es wird kein ordentliches Gesicht daraus.“

Dieses Zitat findet sich in der Tat in einem Tucholsky-Text. Im dritten Kapitel von „Schloß Gripsholm“:

„Hast du das gesehn, Karlchen“, sagte ich; „der Alten haben sich richtig die Haare gesträubt! Ich habe so etwas noch nie gesehn …“ – „Man kann den Hintern schminken, wie man will“, sagte Karlchen, „es wird kein ordentliches Gesicht daraus. Die Frau …“ – „Still!“ sagte die Prinzessin.

Aber ob das Zitat deswegen auch von Tucholsky stammt? Stiegler scheint es so gut zu gefallen, dass er in den vergangenen Jahren regelrecht hausieren damit gegangen ist. Und meistens gab er einen anderen Urheber an:

Es ist eine einzige Maskerade für den Sozialabbau, den die CSU betreiben will. Aber mit Georg Christoph Lichtenberg kann man dazu nur sagen: „Man kann den Hintern schminken, wie man will, es wird nie ein ordentliches Gesicht daraus.“

31.8.2005

Friedliche Wahl-Kampagnen

Nichts sollte einem für gewöhnlich ferner liegen, als für die „Bild“-Kolumnen des früheren FAZ-Herausgebers Hugo Müller-Vogg Partei zu ergreifen. Bei dem aktuellen Beitrag zu „Berlin-Intern“ liegt die Sache dagegen anders. In diesem Falle liefern sich Müller-Vogg und die SPD-Granden Erhard Eppler, Egon Bahr und Hans-Jochen Vogel einen bizarren Streit darüber, wie und warum manchen Leuten der Friedensnobelpreis verliehen wurde.

Der Hintergrund: Die vergangene Woche verbreitete Meldung, wonach Bundeskanzler Gerhard Schröder für den Friedensnobelpreis nominiert worden sei, hat Müller-Vogg zu einem kleinen historischen Ausflug animiert. Nach dem Motto: „Ja, ja, wir wissen schon, wie eine solche Nominierung zustande kommt“, insinuiert er zunächst, dass der Schriftsteller und bekennende Schröder-Fan Günter Grass da wohl seine Hände im Spiel hatte. Um diese „Unterstützer-These“ zu belegen, erinnert er darin, dass es auch für Willy Brandts Nominierung prominente Fürsprecher gab. Und es bleibt nicht unerwähnt, dass Brandt aktiv daran beteiligt war, Mitte der 1930er Jahre das Nobelpreiskomitee dazu zu bewegen, den Preis dem KZ-Häftling Carl von Ossietzky zu verleihen.

Gegen diese Darstellung wehrt sich nun die SPD. In einem „offenen Brief“ Brief an „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann bezeichnen Bahr, Eppler und Vogel die Kolumne als „schändliches Schmierenstück“, in dem Brandt und von Ossietzky nachträglich „diffamiert“ würden. Und warum?

Willy Brandt ist von der Entscheidung des Komitees im November 1971 genauso überrascht worden wie seine engsten Mitarbeiter. ‚BILD‘ kennt die festgelegten Prozeduren der Nominierung, von denen natürlich nicht zugunsten von Deutschen abgewichen wird.

Kaum anzunehmen, dass Bahr, Eppler und Vogel selbst glauben, was sie da geschrieben haben. Wird ein Mensch etwa dadurch diffamiert, dass sich andere für ihn einsetzen? Im Gegenteil. Die verdeckte Nobelpreiskampagne für Ossietzky war wohl eine der bewundernswürdigsten Leistungen der deutschen Exil-Literaten. Und selbst Brandt räumte in einem Vorwort zu einer Ossietzky-Biographie ein:

Bei dieser „Kampagne“ ging es uns 1935/36, am Beispiel Ossietzkys, um das Schicksal der politischen Gefangenen. Es ging uns auch um die Entlarvung einer wahnwitzigen Politik, die zum Krieg führen musste. Es war nicht leicht, dafür Gehör zu finden.
Hermann Vinke: Carl von Ossietzky. Mit einem Vorwort von Willy Brandt. Hamburg 1978, S. 4

Auch im Falle Brandts dürfte es einigen Menschen darum gegangen sein, an dessen Beispiel eine friedensfördernde Politik zu unterstützen. Und vielleicht mag das sogar bei Schröders Nominierung zutreffen.

Die Kampagne für Ossietzky ging im wesentlichen auf den „Freundeskreis Carl von Ossietzky“ zurück, dem rund 20 deutsche Emigranten und nicht-deutsche Helfer angehörten. Die meiste Arbeit im Hintergrund leisteten aber die drei Frauen Hedwig Hünicke, Hilde Walter, Milly Zirker sowie Konrad Reisner. Auch Tucholsky beobachtete die Kampagne aufmerksam, wie folgende Briefausschnitte zeigen:

Die Nobelpreis-Aussichten für jenen scheinen vorhanden. Ich habe kräftig nachgestoßen.
7.10.1934

Die Tatsache, daß er für den Nobelpreis vorgeschlagen worden ist, soll einen „Übergriff niederer Instanzen“ bisher verhindert haben – andererseits ist die Gefahr gewachsen, weil er ihn nicht bekommen hat. Kameraden sollen ihm in der aufopferndsten Weise geholfen haben, aber das ist für sie selbst gefährlich.

Über den Nobelpreis werde ich nichts sagen und kaum etwas schreiben – darauf hat keiner einen Anspruch, und es erscheint mir als ein Denkfehler, die Kommission zu beschimpfen, die ihm den nicht gibt – natürlich aus Feigheit nicht gibt, was die Norweger auch ganz deutlich sagen. Aber diese Kritik gefällt mir nicht, wenn sie von mir kommt.
19.12.1935

Tucholsky sollte die Verleihung des Preises nicht mehr erleben. Seine letzte publizistische Anstrengung bestand darin, Knut Hamsun in norwegischen Medien schärfestens dafür anzugreifen zu dürfen, dass dieser sich abfällig über Ossietzky geäußert hatte. Aber selbst das blieb ihm verwehrt.

27.8.2005

Lafontaine und das Geld

Im Grunde gibt es leider wenig Veranlassung, den ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine vor seinen Kritikern in Schutz zu nehmen. Aber angesichts der Diskussion um dessen Lebensstil sei daran erinnert, was Tucholsky schon 1931 über die Vereinbarkeit sozialistischer Positionen und persönlichem Besitz feststellte:

Wenn ein Kommunist arm ist, dann sagen die Leute, er sei neidisch. Gehört er dem mittleren Bürgertum an, dann sagen die Leute, er sei ein Idiot, denn er handele gegen seine eignen Interessen. Ist er aber reich, dann sagen sie, seine Lebensführung stehe nicht mit seinen Prinzipien im Einklang.
Worauf denn zu fragen wäre: Wann darf man eigentlich Kommunist sein -?
Peter Panter: „Schnipsel“, in: Die Weltbühne, 3.11.1931, S. 673

20.8.2005

Leicht verdutzt

Es ist wirklich verwunderlich, wie manche Leute mit Zitaten umgehen. Da befasst sich ein Christian Schütte in der „FTD“-Kolumne „Casual Friday“ mit den politischen Umgangsformen sowie der Frage, wann in der Politik geduzt oder gesiezt wird. Und zieht dabei in historisches Beispiel heran:

Es ist ein bisschen so wie mit der legendären KPD. Deren professionelle Umgangsformen fasste der bürgerliche Linke Kurt Tucholsky einmal in den folgenden Satz: „Schade, dass er nicht in der Partei ist – sonst könnte man ihn jetzt ausschließen.“

Warum nicht einfach das Original nehmen? Dort heißt es viel passender:

KPD. „Schade, daß Sie nicht in der Partei sind – dann könnte man Sie jetzt ausschließen!“
Peter Panter: „Schnipsel“, in: Die Weltbühne, 26.1.1932, S. 140

15.8.2005

Wählende mieden Bayern

Die Verve, mit der sich ein gewisser Herr Edmund Stoiber derzeit in Regionen außerhalb seines Heimatlandes unbeliebt zu machen versucht, reizte manche Kommentatoren schon zu tiefenpsychologischen Analysen. Für den Berliner „Tagesspiegel“ forderteStephan-Andreas Casdorff außerdem:

Man sollte mal mitstenografieren, was die Leute so reden, schrieb Kurt Tucholsky. Manche tun es inzwischen. Wir lesen: Beleidigungen, Belehrungen, Beschimpfungen. Was die Politiker sich, einander und uns, dem Publikum, zumuten, ist schier unerträglich, ist eine Zumutung.

Bei Tucholskys Aufforderung handelte es sich jedoch nicht darum, die Reden von Politikern mitzuschreiben, sondern die Pseudo-Dialoge des Alltags. Denn was Herr Stoiber bei gewissen Gelegenheiten gesagt hat, ist von den Nachrichtenagenturen sogar fein säuberlich notiert worden. Wer dem gedruckten Wort nicht glaubt, kann sich sogar die Originalrede anhören und selbst „mitstenographieren“.

Was Stoiber mit seinen Beschimpfungen erreichen will, gibt den meisten Beobachtern allerdings immer noch Rätsel auf. In den zwanziger Jahren führte die ausländerfeindliche (Ausländer = Preußen und Juden) Politik der bayrischen Regierung dazu, dass Tucholsky die Kampagne „Reisende, meidet Bayern!“ ins Leben rief. So etwas will Stoiber nun bestimmt nicht wieder provozieren. Viel weniger Fantasie benötigt man, um Stoibers Ausfälle als Rache dafür zu sehen, dass 2002 viele Wähler einen bayrischen Kandidaten gemieden haben.

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