25.2.2006

Ein wahnwitzig gewordenes Bashing

Im Wochenendmagazin der Süddeutschen Zeitung beschäftigt sich Jan Brandt sehr ausführlich mit dem unerschöpflichen Thema Berlin-Bashing. „Berlin oder Nicht-Berlin ist eine Frage von Leben oder Tod“, schreibt Brandt in einer Mischung aus Pathos und Ironie, wobei weder das eine noch das andere vom Artikel gedeckt wird. Auf welch dünn recherchierten Beinen seine These steht, zeigt der folgende Abschnitt des Textes:

Es waren die Berliner selbst, die ihre Stadt pausenlos schmähten. Allen voran der Publizist Kurt Tucholsky, dessen Texte allesamt von seiner Heimatstadt handeln, Polemiken, Betrachtungen, Chansons, Gedichte, Erzählungen, Kritiken und Essays, in denen er die Berliner auseinander nimmt: „Seine grauenhafte Unausgeglichenheit und seine ewig schwabbrige Nervosität lassen keinen Klang ausklingen – mit zitternden Nervenenden wartet er auf den ersten Eindruck, und hat er den, bleibt er dabei“, schrieb Tucholsky unter dem Pseudonym Peter Panter am 19. Januar 1926 in der Zeitschrift Die Weltbühne und teilte im Folgenden den gemeinen Berliner in zwei Typen ein: in den „Ham-Se-kein-Jrößern?“-Berliner“ und in den „Na-faabelhaft“-Berliner“. Beide seien gleichermaßen unerträglich. Der nörgelnde Berliner sei grundsätzlich nicht begeistert und „viel zu nervös, um in Ruhe etwas Fremdes auf sich wirken zu lassen“. Und der lobende Berliner zeichne sich dadurch aus, dass seine Anerkennung immer wie ein „ins Freundliche umgebogener, für dieses Mal nicht anwendbarer Tadel“ wirke, wie „eine Ordensverleihung an sich selbst“.

Man mag es kaum für möglich halten, dass Brandt selbst an die Behauptung glaubt, wonach Tucholskys Texte „allesamt von seiner Heimatstadt handeln“. Von 1907 bis 1933 veröffentlichte Tucholsky mehr als 3000 Zeitungsartikel und drei größere Erzählungen. Es gäbe wohl keinen besseren Beweis für die Qualitäten dieser Stadt, als wenn Tucholsky sich mit seiner literarischen Produktion auf diese hätte beschränken können.

Dem war zum Glück nicht so. Die Texte, die Tucholsky dagegen tatsächlich seiner Heimatstadt widmete, hat Brandt aber offenbar nicht gelesen. Da sind vor allem die beiden Artikel, die 1919 und 1927 unter dem bezeichnenden Titel „Berlin! Berlin!“ erschienen. Diese enthalten eine ganze Fülle von Berlin-Bonmots:

Der Berliner ist meist aus Posen oder Breslau und hat keine Zeit.

Berlin vereint die Nachteile einer amerikanischen Großstadt mit denen einer deutschen Provinzstadt. Seine Vorzüge stehen im Baedeker.

Die Berlinerin ist sachlich und klar. Auch in der Liebe. Geheimnisse hat sie nicht.

Berlin hat keine sehr gute Presse im Reich; voller Haß wird diese Stadt kopiert.

Ich liebe Berlin nicht. Seine Wendriners hat Gott in den Mund genommen und sofort wieder ausgespien; seine Festlichkeiten sind sauber ausgerichtet; seine Dächer sagen nicht zu mir: „Mensch! Da bist da ja!“ Ich liebe diese Stadt nicht, der ich mein Bestes verdanke; wir grüßen uns kaum.

Am besten gefiel es Tucholsky in Berlin, wenn die Berliner alle fort waren: im Sommer. Wie wohltuend er die dadurch entstehende Ruhe empfand, schilderte er 1913 in dem Artikel „Sommerliches Berlin“. Mag auch der postulierte Hass auf die Stadt gleich geblieben sein, so hektisch wie damals geht es auf jeden Fall nicht mehr dort zu:

Wir sind fast alle gezwungen, in dieser großen Stadt zu arbeiten, weil wir leben müssen. Aber wir sollten das zackige Tempo, das die Besseren zerrüttet und die Besten abstößt, auf ein menschenwürdiges Maß reduzieren. Es ist ja nicht einmal amerikanisch, dazu haben sie bei uns nicht die Kraft und nicht die Rücksichtslosigkeit – das Ganze gebärdet sich nur wie ein wahnwitzig gewordenes Dorf. Es ist eine kleine Stadt geblieben, die erst in das Kleid nachwachsen muß, das ihr Bauschieber angemessen haben. Und das hat noch gute Weile.

Der von Brandt so ausgiebig zitierte Tucholsky-Artikel „Berliner auf Reisen“ endet übrig mit folgender Anekdote, deren Schlusssatz auf keinen Fall als Warnung an Journalisten verstanden werden sollte:

Und ewig werde ich an das Wort eines Landsmanns denken, der nach vierwöchigem Aufenthalt das Wort der Worte über Paris gesprochen hat. Dieses:
„Paris – wat is denn det für ne Stadt! Hier jibts ja nich mah Schockeladenkeks –!“
Der dies sprach, war aber gar nicht aus Berlin, und da kann man sehen, wie vorsichtig man sein muß.

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