24.12.2018

Der Fall Relotius und der Journalismus

Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel und viele andere deutschsprachige Medien sind einem Betrüger aufgesessen. Nach dem, was in den vergangenen Tagen bekannt wurde, hat ein gewisser Claas Relotius viele seine Texte ebenso gefälscht wie Konrad Kujau 40 Jahre zuvor die Hitler-Tagebücher. Der Stern brüstete sich damals damit, dass die Geschichte umgeschrieben werden müsse. Relotius hat mit seinen Texten ebenfalls versucht, die Geschichte ein bisschen umzuschreiben. Sind nun der Spiegel im speziellen, der deutschsprachige Journalismus im allgemeinen und die Form der Reportage in der Krise?

Diesen Fall zu einer Krise des gesamten Journalismus hoch zu schreiben, ist völlig überzogen. Das wäre genauso, als würde man wegen des jahrelangen Erfolgs des Hochstaplers Gert Postel das Gesundheitssystem als solches in Frage stellen. Die bislang bekanntgewordenen Vorwürfe gegen Relotius sprechen dafür, dass bei ihm viel kriminelle Energie im Spiel war, um seine Betrügereien zu vertuschen. Dass er offenbar arglose Leser dazu brachte, ihm Spendengeld für syrische Waisenkinder zu überweisen, zeigt eine Skrupellosigkeit, die über den Journalismus hinausreicht.

Zudem war Relotius anders als Postel kein Hochstapler, wie nun oft zu lesen ist (und von Postel ebenfalls bestritten wird). Relotius hat keine Qualifikationen oder Titel vorgetäuscht, um seinen Redakteursposten beim Spiegel zu ergattern. Journalist kann sich jeder nennen, der für journalistische Medien arbeitet. Er soll tatsächlich Journalismus an der Hamburg Media School studiert haben. Seine vielen Reporterpreise hat er sich ebenfalls nicht ausgedacht. Ebenso wie der Plagiator Karl-Theodor zu Guttenberg ordentlich promoviert wurde, erhielt Relotius die Preise für tatsächlich veröffentlichte Artikel. Doch etliche seiner journalistischen Preziosen waren nur vergoldetes Blech statt echtes Edelmetall.

Zugegeben: Journalisten sind wie die Angehörigen aller anderen Berufsgruppen nicht fehlerfrei. Darüber hinaus sind viele ihrer Texte tendenziös und nehmen es mit der Wahrheit bisweilen nicht so genau. Das Bildblog oder Uebermedien.de verschaffen einem täglich einen ernüchternden Überblick darüber. Doch wer in der aktuellen Boomphase ein Haus gebaut hat, kann ein Lied davon singen, wie viel in anderen Branchen schief läuft. Zudem hat der jahrelange Sparzwang dazu geführt, dass die Arbeitsbedingungen für Journalisten deutlich schlechter geworden sind.

Geradezu paradiesische Zustände scheinen hingegen noch beim Spiegel zu herrschen. Welches Medium ist sonst noch in der Lage, einen Reporter 38 Tage lang in eine US-amerikanische Kleinstadt zu schicken, um etwas über die Menschen herauszufinden, die 2016 Donald Trump gewählt haben? Das Erschreckende an dem Fall: Relotius scheint sich für die dortigen Bewohner gar nicht interessiert zu haben. Die Geschichte, die er schreiben wollte, ließ sich nicht mit der Realität in Übereinstimmung bringen. „Der Plan geht schief, und solche Dinge passieren im Journalismus dauernd. Relotius findet keine Protagonisten, mit denen er etwas anfangen kann“, erläuterte Ullrich Fichtner die Probleme im ersten Enthüllungsbericht über den Fall.

Das ist in mehrfacher Hinsicht entlarvend. Unter einem Protagonisten wird laut Wikipedia „in Literatur und Film die Hauptfigur, der Held eines Romans, einer Erzählung oder eines anderen literarischen oder filmischen Werkes verstanden oder ganz allgemein die Hauptrolle in einer Handlung oder Handlungsreihe“. Obwohl die Newsstories oder Reportagen des Spiegel keine Fiktion sind (oder sein sollen), brauchen sie ebenfalls solche „Protagonisten“, die im Text immer wieder auftauchen und ihn damit auch strukturieren. An diesem Dogma kommt kein Spiegel-Autor vorbei. Ebenso wenig wie am „szenischen Einstieg“ und der Vorgabe, beim Ausstieg den Artikelanfang mit einer Pointe wieder aufzugreifen. Doch Relotius fand keinen Protagonisten, „mit denen er etwas anfangen kann“. Die also seine These von den hinterwäldlerischen Trump-Wählern exemplarisch bestätigen konnten.

Das Schlimme daran: Gerade die Tatsache, dass es solche Klischee-Wähler nicht gibt, hätte die Möglichkeit gegeben, dem Phänomen genauer auf den Grund zu gehen. Diese Geschichte wäre wirklich interessant und lesenwert gewesen. Im Gegensatz zum erfundenen Verriss von Fergus Falls. Dass dies weder von Relotius noch vom Spiegel offenbar so erkannt wurde, ist in der Tat sehr bedenklich. Wenn die Form dem Inhalt vorgeht, das Geschichten-Erzählen wichtiger als die Geschichte, begünstigt dies solche Fehlentwicklungen. Aber bei Relotius ist sogar vorstellbar, dass selbst das Lamento erfunden war. Dann erscheint es am Ende umso lobenswerter, dass er durchgehalten und doch noch einen „schönen“ Text zustande gebracht hat.

Dass die Reportage ein anspruchsvolles Genre ist, wusste schon Kurt Tucholsky. „Reportage ist eine sehr ernste, sehr schwierige, ungemein anstrengende Arbeit, die einen ganzen Kerl erfordert“, schrieb er 1925 in einer kurzen Rezension von Egon Erwin Kischs Sammelband „Der rasende Reporter“. Die Formulierung „ein ganzer Kerl“ wird inzwischen eher mit Hundefutter-Werbung verbunden. Aber was damit gemeint ist, trifft immer noch zu: Ein Reporter muss sich etwas trauen, nahe an Menschen und Situationen ran gehen, die bisweilen auch gefährlich sein können.

Vor allem muss er seiner eigenen Wahrnehmung und seinem eigenen Gespür trauen. Im Zweifel muss er derjenige sein, der erkennt, dass der Kaiser in Wahrheit nackt ist. Wer von seiner Redaktion in die USA geschickt wird, um hinterwäldlerische Trump-Wähler zu finden, kann sich als Versager fühlen, wenn er sie nicht findet. Oder er muss den Mut haben, zu der Erkenntnis zu stehen, dass Menschen Trump gewählt haben, obwohl sie eigentlich ganz nett sind. Schade, dass ein Spiegel-Autor wie Alexander Osang nicht nach Minnesota gefahren ist.

Noch besser wäre es aber, wenn die Redaktionen genug Geld hätten, um Reporter dauerhaft in den Weltregionen einsetzen zu können. Nach Ansicht von Weltbühne-Begründer Jacobsohn hätte der Erste Weltkrieg vielleicht verhindert werden können, wenn die Deutschen vor dem Krieg besser über die Entwicklungen im Ausland unterrichtet worden wären. Auch Tucholsky forderte Mitte der 1920er Jahre eine angemessene Ausstattung der deutschen Auslandskorrespondenten. „Denn man versteht Politik eben nicht, wenn man sich damit begnügt, den Meinungskompost von zwanzig Zeitungen auszuschreiben. Dieser Kram interessiert die Fachleute, ist eng begrenzt und in keiner Hinsicht für das ganze Land so maßgebend, wie es der Fettdruck vorgibt“, heißt es im Artikel „Auslandskorrespondenten“.

Einfacher und günstiger ist es hingegen. seine „Starreporter“ mal für ein paar Tage oder Wochen in die „Krisenregionen“ zu schicken. Dort fehlen ihnen oft das Hintergrundwissen oder die Sprachkenntnisse, um fundierte und authentische Texte zu schreiben. „Sie kommen sich so wirklichkeitsnah vor, die Affen – und dabei haben sie nichts reportiert, wenn sie nach Hause kommen. Nur ein paar Notizen, die sie auswalzen. Reportahsche … Reportahsche …“, kritisierte Tucholsky 1931 in dem Text „Die Reportahsche“. Peinlich für den Spiegel, dass nun USA-Korrespondent Christoph Scheuermann nach Fergus Falls reisen musste, um Abbitte zu leisten und den Scherbenhaufen zusammenzukehren, den Relotius mit seinem Text angerichtet hatte.

Dabei scheint sich der ganze Aufwand ohnehin publizistisch gar nicht zu lohnen. Auch dem Autor dieser Zeilen erging es wie etlichen anderen Journalistenkollegen, denen der Name des betrügerischen Autors vorher nie aufgefallen war. Nicht obwohl, sondern eher weil er so viele Journalistenpreise abgesahnt hatte. Solche Texte sind inhaltlich und formal so erwartbar und langweilig wie eine Zehn-Zeilen-Agenturmeldung. Man liest die Überschrift und den Teaser und blättert im Café oder in der Kantine weiter. Die Geschichten sind „totaler Zeitgeist“, sagte dessen Spiegel-Kollege Juan Moreno, der den Fall am Ende aufgedeckt hat. Wozu das lesen?

Ein Problem des Spiegel und anderer „Qualitätsmedien“ besteht darin: Weil sie ihren Journalisten so viele Freiheiten und Recherchemöglichkeiten bieten, steigt der Erwartungsdruck an die Autoren, Journalistenpreise einzuheimsen. Wenn diese Indiskretion an dieser Stelle erlaubt sein darf: Es war vor einigen Jahren traurig mit anzusehen, wie Spiegel-Redakteure bisweilen ihre Texte für den Kurt Tucholsky-Preis für literarische Publizistik andienten. Wie der verzweifelte Versuch, wenigstens irgendeine journalistische Auszeichnung für seine Arbeit zu bekommen. Als wäre der eigene Journalismus nichts wert, wenn er nicht einen der 500 Preise in Deutschland erhielte.

Dabei ist die Verleihung des Tucholsky-Preises schon seit Jahren zu einer Farce verkommen, für die sich zu recht kein Mensch mehr außerhalb der Tucholsky-Gesellschaft interessiert. Das gilt wohl für fast alle anderen Journalistenpreise. Beim Tucholsky-Preis kommt noch hinzu, dass selbst der Namensgeber diesen wohl nicht gut finden würde. Wie antwortete Tucholsky 1931 auf die Frage der Zeitschrift Pologne Littéraire, ob er einen Literaturpreis des damaligen Völkerbundes befürworten würde: „Je me permets de vous faire savoir que je suis par principe un adversaire de tout prix littéraire.“ („Ich erlaube mir Ihnen mitzuteilen, dass ich aus Prinzip ein Gegner aller Literaturpreise bin.“) Diese Einschätzung dürfte sicherlich auch für einen Preis für literarische Publizistik gelten.

Die Preisgeber würden daher besser daran tun, beispielsweise Recherchestipendien zu finanzieren. Diese könnten auch von Medien in Anspruch genommen werden, die normalerweise nicht die finanziellen Ressourcen haben, um ihre Mitarbeiter wochen- und monatelang an einem Thema arbeiten zu lassen.

Der Fall Relotius ist daher ein krasser Einzelfall, der durch bestimmte Strukturen beim Spiegel durchaus begünstigt wurde. So verhinderte die Größe des Verlages beispielsweise, dass verschiedene Verdachtsmomente überhaupt die zuständigen Personen erreichten. Zudem schien Relotius alle Erwartungen, die die Redaktion an einen Reporter haben konnte, geradezu im Übermaß zu erfüllen. Das machte ihn fast unangreifbar, wie Moreno am eigenen Leib erfahren musste. Und natürlich zieht ein solch großes Medium einen Betrüger eher an als eine kleine Lokalzeitung, bei der nicht viel zu herauszuholen ist. Dort wäre ein erfundenes Interview mit dem Bürgermeister eher aufgeflogen als ein Interview mit der letzten Überlebenden der Weißen Rose in den USA.

Relotius als Beleg für eine angebliche „Lügenpresse“ zu nehmen, ist daher infam. Dieser Vorwurf kommt selbstverständlich von solchen Menschen, die mit demselben Brustton der Überzeugung behaupten, alle Medien seien gleichgeschaltet und bekämen ihre Anweisungen direkt von Angela Merkel oder George Soros. Wer den Medien ohnehin nichts glauben möchte, sieht sich durch den Fall in seinem kruden Weltbild bestätigt.

Die wirklichen Probleme vieler Medien sind hingegen durch starke Einnahmenverluste wegen rückläufiger Werbeeinnahmen und Auflagenverluste begründet. Die Folgen sind ein zunehmender Stellenabbau und der Verlust der publizistischen Vielfalt durch eine starke Zusammenlegung der überregionalen Mantelseiten. Bei den Auslandskorrespondenten hat sich die Situation seit Jahren verschlechtert. Im vergangenen Sommer/Herbst traf es viele Korrespondenten der Verlagsgruppe Madsack. Es ist leider zu befürchten, dass die Lehren aus dem Fall Relotius nicht dazu führen werden, diese Probleme zu beheben.

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