11.1.2005

Laien vor Gericht

Das ist auch einmal ein nette Möglichkeit, die Existenz eines Zitates nicht zu belegen. In der FAZ schreibt der Schöffe Ernst Köhler über die Chancen von Laien, bei Gericht zu agieren:

In einer schwachen Minute mag ein irritierter Laienrichter von heute sich sogar nach dem unverbesserlichen Pharisäer in der Robe zurücksehnen, von dem er – wenn die Erinnerung ihn nicht trügt – bei Kurt Tucholsky gelesen hat.
Ernst Köhler: „Mehr Selbstbewusstsein“, in: FAZ, 11.1.2005, S. 34

Nun hat Tucholsky sehr viel über die deutschen Richter geschrieben, aber „Pharisäer in Robe“, – oder auch „Philister im Talar“ -, hat er sie nie genannt. Dennoch scheint Köhler tatsächlich einiges von Tucholsky gelesen zu haben. Zumindest vertritt er eine Auffassung vom Amt des Schöffen oder Geschworenen, die sehr genau derjenigen entspricht, die Tucholsky in seinem „Merkblatt für Geschworene“ einforderte. Das Überraschende an Köhlers Ausführungen besteht jedoch darin, dass sich demnach die Rollen zwischen Berufs- und Laienrichtern seit den zwanziger Jahren offensichtlich in ihr Gegenteil verkehrt haben. Für Köhler besitzen die heutigen Richter zu viel Verständnis für die sozialen Ursachen kriminellen Handels.

Dieser Position vermag unser Schöffe nicht oder nicht mehr zu folgen – bei allem Respekt vor ihrer Menschlichkeit. Sonst wäre er nicht Schöffe. In den Straftätern vor Gericht kann er keine bloßen Opfer sehen. Und ungeachtet ihrer unzweifelhaft destruktiven Konsequenzen für den Gefangenen steht er auch hinter der Freiheitsstrafe.

In „Merkblatt für Geschworene“ las sich das folgendermaßen:

Jedes Verbrechen hat zwei Grundlagen: die biologische Veranlagung eines Menschen und das soziale Milieu, in dem er lebt. Wo die moralische Schuld anfängt, kannst du fast niemals beurteilen – niemand von uns kann das, es sei denn ein geübter Psychoanalytiker oder ein sehr weiser Beicht-Priester. Du bist nur Geschworener: strafe nicht – sondern schütze die Gesellschaft vor Rechtsbrechern.
Ignaz Wrobel: „Merkblatt für Geschworene „, in: Die Weltbühne, 6.8.1929, S. 202

Ob Köhler tatsächlich seine Freude daran hätte, mit den von Tucholsky beschriebenen Typus des deutschen Richters zusammenzuarbeiten, sei dahingestellt. Vielleicht wäre ein selbstbewusster Bürger, wie Köhler sich versteht, ohnehin nicht in ein Schöffenkollegium berufen worden. Denn wie konstatierte Tucholsky in seiner Generalabrechnung mit der deutschen Justiz:

Das nachtwandlerisch sichere Gefühl der Gerichtsbeamten für Schöffen und Geschworene bevorzugt kleinköpfigen, bramsigen Mittelstand, Untertanen, die einmal, wie Polgar das genannt hat, den Obertanen spielen wollen. Jeder umgibt sich nur mit sich selbst, und steht unsereiner vor denen, so findet er eine fremde Welt.
Ignaz Wrobel: „Deutsche Richter“, in: Die Weltbühne, 12., 19. u. 26.4.1927, S. 581, 618, 663

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