Die Leibesfrucht

Du bist so schwer, du bist so blaß –
was hast du, Mutter?
Du willst etwas und weißt nicht was –
was hast du, Mutter?
Ich trag in meinem Leibe ein Kind;
ich weiß, wie seine Geschwister sind:
ohne Stiefel, ohne Wolle, ohne Milch, ohne Butter –
ich bin eine Mutter! Ich will keine Mutter mehr sein!
Laß mich schrein –!
Laß mich schrein –!“

Es darf und darf mir nicht zur Welt!
„Frau, was wollen Sie?“
Mein Mann ohne Stellung – wir haben kein Geld!
„Frau, was wollen Sie?“
Ich will nicht, daß man für eine Nacht
mich und die Kinder unglücklich macht!
Dieselben Rechte will ich wie die Reichen,
die ungestraft zum Abtreiber schleichen –
Warum will mich denn keiner befrein?
Laßt mich schrein –!
Laßt mich schrein –!

Mit Schreien ist da nichts getan –
Wacht auf, ihr Frauen!
Nieder mit kirchlichem Größenwahn!
Wacht auf, ihr Frauen!
Ihr krümmt euch vor Schmerzen, und in euer Ohr
tönt heulend der Untemehmerchor:
„Trag es aus! Trag es aus!
Trag es aus im Sturmgebraus!
Wenn der Staat bleibt bestehn,
könnt ihr alle zugrunde gehn!
Ihr habt nichts zu fressen?
Wir brauchen die Kinder für Dortmund und Essen,
für die Reichswehr und für die Büros –
und wenn ihr krepiert, dann sind wir euch los!“

Aus Jodoform und blutigem Leinen
kommt winselnd eines Kindes Weinen.
Es wartet an dem kleinen Bett
bereits ein mächtiges Quartett:
Fabrik. Finanzamt. Schwindsucht. Kirchenzucht.

Das ist das Schicksal einer deutschen Leibesfrucht.


Autorenangabe: Theobald Tiger

Ersterscheinung: AIZ Jg. 7 (13.6.1928), Nr. 24, S. 10.

Wieder in: Das Lächeln der Mona Lisa, Berlin 1929, S. 376–378.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1928.

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1.1.2004

Die Leibesfrucht

Du bist so schwer, du bist so blaß –
was hast du, Mutter?
Du willst etwas und weißt nicht was –
was hast du, Mutter?
Ich trag in meinem Leibe ein Kind;
ich weiß, wie seine Geschwister sind:
ohne Stiefel, ohne Wolle, ohne Milch, ohne Butter –
ich bin eine Mutter! Ich will keine Mutter mehr sein!
Laß mich schrein –!
Laß mich schrein –!“

Es darf und darf mir nicht zur Welt!
„Frau, was wollen Sie?“
Mein Mann ohne Stellung – wir haben kein Geld!
„Frau, was wollen Sie?“
Ich will nicht, daß man für eine Nacht
mich und die Kinder unglücklich macht!
Dieselben Rechte will ich wie die Reichen,
die ungestraft zum Abtreiber schleichen –
Warum will mich denn keiner befrein?
Laßt mich schrein –!
Laßt mich schrein –!

Mit Schreien ist da nichts getan –
Wacht auf, ihr Frauen!
Nieder mit kirchlichem Größenwahn!
Wacht auf, ihr Frauen!
Ihr krümmt euch vor Schmerzen, und in euer Ohr
tönt heulend der Untemehmerchor:
„Trag es aus! Trag es aus!
Trag es aus im Sturmgebraus!
Wenn der Staat bleibt bestehn,
könnt ihr alle zugrunde gehn!
Ihr habt nichts zu fressen?
Wir brauchen die Kinder für Dortmund und Essen,
für die Reichswehr und für die Büros –
und wenn ihr krepiert, dann sind wir euch los!“

Aus Jodoform und blutigem Leinen
kommt winselnd eines Kindes Weinen.
Es wartet an dem kleinen Bett
bereits ein mächtiges Quartett:
Fabrik. Finanzamt. Schwindsucht. Kirchenzucht.

Das ist das Schicksal einer deutschen Leibesfrucht.


Autorenangabe: Theobald Tiger

Ersterscheinung: AIZ Jg. 7 (13.6.1928), Nr. 24, S. 10.

Wieder in: Das Lächeln der Mona Lisa, Berlin 1929, S. 376–378.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1928.

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