Warum

müssen eigentlich fast alle Leute, die in einer Anstalt untergebracht sind, früh aufstehen? Warum werden sie so früh geweckt: in Gefängnissen, Krankenhäusern, Kasernen … ist ihr Tag so kurz? Ist das gesund?
Der geschäftige Müßiggang des Militärs sei hier nicht erörtert. Was die ernsthaft Arbeitenden angeht:
Gesund ist es deshalb nicht, weil kein Mensch mehr mit den Hühnern zu Bett geht. Die Strafgefangenen müssen es, wobei zu beachten, daß die Hühner wieder verhältnismäßig mehr Luft für sich haben … also die Gefangenen müssen es, aber dafür schlafen sie nicht. Warum werden sie so früh geweckt -?
Nein, ihr Tag ist nicht zu kurz. Es ist wohl der Geltungsdrang der leitenden Herren, der sich da austobt. Stigma modernen Sklaventums: um fünf Uhr aufstehen müssen. Das ist gut und richtig, wenn man abends um neun schlafen geht; es ist für den richtig, der im Training lebt – aber es ist Widersinn, Leute, die in einer Stadt leben, so früh in den Tag zu jagen. (Hornbrillengemurmel: „So lange in den Betten liegen … nur auf dumme Gedanken … schon vom hüschénischen Standpunkt … “ und Sie, Herr -?) Stigma aller Unterdrückten: früh aufstehn zu müssen. Der bessere Herr erscheint um halb neun zur Arbeit, der feine um neun, der ganz feine um halb zehn. Man kann an ihren Uhren ablesen, was die Glocke geschlagen hat.
Gebt den Leuten mehr Schlaf – und sie werden wacher sein, wenn sie wach sind.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 21. Januar 1930, Nr. 4, S. 150

Wieder in: Lerne Lachen ohne zu weinen. Rowohlt Verlag, Berlin 1931.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1930, S. 48 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 8, S. 26 ff.

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1.1.2004

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müssen eigentlich fast alle Leute, die in einer Anstalt untergebracht sind, früh aufstehen? Warum werden sie so früh geweckt: in Gefängnissen, Krankenhäusern, Kasernen … ist ihr Tag so kurz? Ist das gesund?
Der geschäftige Müßiggang des Militärs sei hier nicht erörtert. Was die ernsthaft Arbeitenden angeht:
Gesund ist es deshalb nicht, weil kein Mensch mehr mit den Hühnern zu Bett geht. Die Strafgefangenen müssen es, wobei zu beachten, daß die Hühner wieder verhältnismäßig mehr Luft für sich haben … also die Gefangenen müssen es, aber dafür schlafen sie nicht. Warum werden sie so früh geweckt -?
Nein, ihr Tag ist nicht zu kurz. Es ist wohl der Geltungsdrang der leitenden Herren, der sich da austobt. Stigma modernen Sklaventums: um fünf Uhr aufstehen müssen. Das ist gut und richtig, wenn man abends um neun schlafen geht; es ist für den richtig, der im Training lebt – aber es ist Widersinn, Leute, die in einer Stadt leben, so früh in den Tag zu jagen. (Hornbrillengemurmel: „So lange in den Betten liegen … nur auf dumme Gedanken … schon vom hüschénischen Standpunkt … “ und Sie, Herr -?) Stigma aller Unterdrückten: früh aufstehn zu müssen. Der bessere Herr erscheint um halb neun zur Arbeit, der feine um neun, der ganz feine um halb zehn. Man kann an ihren Uhren ablesen, was die Glocke geschlagen hat.
Gebt den Leuten mehr Schlaf – und sie werden wacher sein, wenn sie wach sind.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 21. Januar 1930, Nr. 4, S. 150

Wieder in: Lerne Lachen ohne zu weinen. Rowohlt Verlag, Berlin 1931.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1930, S. 48 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 8, S. 26 ff.

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