Kriegstagebuch

Von Siegfried Jacobsohn

Freitag, am einunddreißigsten Juli. Die Post ist ausgeblieben. Nach den bedrohlichen Nachrichten der letzten Tage kein gutes Zeichen. Wir nehmen, um Zehn, ein Segelboot. Im Nordhafen steht noch das Kriegsschiff, das all die Jahre ein Friedensschiff war. Vielleicht sieht und hört man dort allerlei. Matrosen im höchsten Ausguck. Eine ungewohnte Geschäftigkeit. Wenn Vaterlandsgesänge sie begleiten … Hurras herüber und hinüber. Zur freundlichen Antwort auf die einzige Frage der Stunde: Scherze und Kußhände für unsre Damen. Aber der Eindruck, als ginge es wirklich los. Stählern blitzender Kahn mit mörderischen Geschützen – wirst du im nächsten Sommer nicht wieder harmlose Wachtdienste tun? Kleine Halle für Wasserflugzeuge, an der man seit Juni unschuldig gebaut hat – wird von heut auf morgen deine Bestimmung rauher, schmerzhafter werden? Weißes Leuchttürmchen mit roter Mütze – was alles wirst du bestrahlen oder gnädig im Dunkel lassen? Ich klettere hinauf. (Ulkiger Selbstbetrug:) Kein Feind in Sicht. […] Die Kinder rufen uns zum Feuerwerk auf ihre Wiese. Krieg? Dummes Zeug.

Sonnabend, am ersten August. Oder doch nicht? Der Bäcker hat nicht mehr gebacken, weil er gestern Abend geheimnisvoll irgendwohin geholt worden ist. Freunde haben bei Nacht gepackt und wollen auf und davon. Ich bringe sie eine Stunde weit, in die abscheuliche Badestadt, wo die Schieber vormittags zu pokern beginnen. Heute nicht. Sie wissen nichts, aber fürchten alles und raufen sich Glatzen und Perücken ob ihren gestürzten Kursen. Einer spricht Tausender Stimmung aus: „In einer großen Zeit leben wir – ausgerechnet wir.“ Der Kaiser arbeitet offenbar immer noch für den Frieden, was ihm rechts – bis zur Majestätsbeleidigung in der Täglichen Rundschau – gehörig verübelt wird. Wer in Rußland regiert, und nach welchen Prinzipien, ist, wie das Meiste in diesem seltsamen Vorland Asiens, nicht zehn Europäern verständlich. Der letzte Hoffnungsschimmer sollen die innern Schwierigkeiten Frankreichs sein. Aber es scheint ja wirklich, als obs diesmal nicht anders ginge.

Fünfundzwanzig Zeilen „zur Veröffentlichung nicht zugelassen“.

Ich komme aus einer andern Gegend. Ich bin nicht blind für den Streifen Löwenzahn, der dort das Roggenfeld von der Heide trennt.

Zwei Zeilen gestrichen.

Ich habe ein Ohr für den Schrei der wilden und zahmen Vögel, die um mich und über mir menschlich, unmenschlich einander verfolgen und fliehen, während ich durch den festen Sand der Ebbezeit heimwärts stapfe. Noch immer, noch immer nicht hoffnungslos.

Zwei Zeilen gestrichen.

Da sind die Gazetten der letzten Tage. Entschieden ist also vorläufig nichts. Aber schon

Zehn Zeilen gestrichen.

Auf einmal fühlt sich der faulste Kopp: Kaiser und Reich, Blut und Tod, Fels und Meer, Etsch und Belt, Gott und Vaterland, bum, bum! Darin ist uns kein Volk über. Anderswo kauft man sich Söldner für das grauenhafteste aller Geschäfte: für die Tötung von Menschen. Wir mobilisieren, wenn es so weit ist, nicht nur die Männer, sondern auch die höhern Gefühle und schlagen jedem den Hut ein, der sie nicht in vorschriftsmäßiger Fülle aufweist. Das ärgste Mittelgut – in geistiger Beziehung – kommt hoch; und was das betrifft, daß es hoch kommt, so wird man sich anschließen. Luft, Luft, Clavigo! Ich renne hinaus. Es dämmert. Mir fällt auf, daß an einer harmlosen Scheunenwand ein Zettel klebt. Der Badewärter lädt doch niemals sonst hier oben in sein Segelboot. Nun, für dies Jahr hat sichs ausgesegelt. „Mobilmachung ist befohlen. Erster Mobilmachungstag: der zweite August. Der Gemeindevorsteher.“ Man kann nicht knapper, nicht eindeutiger, nicht preußischer sein. Es dunkelt. Der Leuchtturm, der vorgestern irreführende Farben entsandt und gestern das Meer mit Scheinwerfern abgesucht hatte: heut ist er außer Betrieb gesetzt. Das Licht erlosch.

[…] Dienstag, am vierten August.

Ein Tag, von Gott, dem hohen Herrn der Welt, gemacht zu süßerm Ding, als sich zu schlagen! Berlin soll andrer Meinung sein. Man schreibt mir, daß dort eine Begeisterung für den Krieg herrsche, die nicht erlebt und nicht geteilt zu haben ein Verlust für meine Seele bleiben werde. Nun, meine Seele ist im Zweifel, ob sie grade jetzt einen Aufschwung nehmen würde. Sie hat für ihre leuchtenden Stunden bisher wesentlich zartern Anlaß und Inhalt gehabt als einen Krieg aller gegen alle. Sie neigt dazu, eine Veredlung der Menschen erstrebenswerter zu finden als ihre schreckensvolle Verminderung. Sie hat beklemmende, atemraubende, blickverschleiernde Vorstellungen von dampfenden Gebeinen auf blutgenäßten Schlachtfeldern, von losgefetzten Körperteilen zwischen umgestülpten Kanonen, von brüllendem Neid der Verwundeten auf die Toten, von jammernden Frauen und hungernden Kindern. Außerdem wärs mir zu bequem, für einen Krieg begeistert zu sein, in den ich, bei noch so langer Dauer, niemals zu ziehen brauche. Aber sind denn Die in der Hauptstadt wirklich begeistert? Ich denke an Fontane. Der war ein so gutes märkisches Herz wie irgendeins, konnte Pulver riechen, hatte Kriegsgefangenschaft kennen gelernt, Preußenballaden gedichtet und – und dadurch nicht die Gabe verloren, hinter den Schein jeder Sache zu blicken und zu horchen. Also zögerte er nicht, das Hurra, womit Batterien gestürmt werden, sich höchst unheroisch zu deuten: „Jubel aus Angst“. Sollte das nicht auch die Formel für den Rausch der Berliner sein? Ich glaube an eine Massenhypnose, der selbst ausgepichte Skeptiker nicht widerstehen können, an alle Erscheinungen einer Kriegspsychose, an Scham vor dem Nebenmann, an schäumende Wut und zähneknirschenden Trotz eines überfallenen Volkes, an Selbstbetäubung, an die Flucht vor den nächstliegenden Befürchtungen in ein Allgemeingefühl, an was sonst ihr wollt – an Begeisterung im unverfälschten Sinn des Wortes glaub’ ich nicht. […]

Massenhypnose. Massenstimmung. Massenmeinung. Ich habe in einem Brief geschwärmt, daß ich noch nie so dankbar empfunden hätte, ein eigenes Blatt zu haben, wie grade jetzt, wo dies und das nicht länger verschwiegen werden dürfe. Und erhalte zur Antwort die Frage, ob ich endlich ganz verrückt geworden sei. Nichts davon kann heute gedruckt werden. Möglich ist: Gemeinplätze im Plakatstil zu deklamieren; der plattesten Zufriedenheit voll zu sein; dem Mob des Geistes die Worte von den Lippen zu nehmen – unmöglich: eine besondere Auffassung der Sachlage zu äußern. Erlaubt ist: Breitmäuligkeit; verboten: Unterscheidungsfähigkeit. Gekrönt wird: eine hemmungslose Kriegsdemagogie; gepönt: das Fragezeichen. Man wünscht eine feldgraue Uniform auch der öffentlichen Meinungsmacher. Deutsche Tageszeitung und Berliner Tageblatt sind tatsächlich nicht mehr auseinanderzuhalten. Aber müssen selbst die Wochenschriften …? Es wäre hart. Holde, freundliche Gewohnheit, das Dasein von mehreren Seiten zu betrachten, eine zerlegende Hirnkraft zu betätigen, für die Nuance das malende Wort an die rechte Stelle zu setzen – von dir soll ich lassen? Freiwillig: gern; wenn’s mir aus politischen oder kunstpolitischen Gründen nützlich erscheint. Gezwungen: in tormentis. Weswegen solch ein Zwang? Es ist ja nicht zu erwarten, daß ich die kindische Absicht haben werde, zum Widerstand gegen die Staatsgewalt aufzureizen oder durch kalten Spott einer unbedingt grandiosen Sache Abbruch zu tun – denn wem tät’ ich damit mehr Abbruch als mir! Ein Staat jedenfalls, der diese Mobilmachung leistet, der sich furchtlos nach zwei Fronten wehrt, der es mit der Hölle selbst aufnähme: der hat wahrhaft nicht nötig, die unschuldige Preßfreiheit eines kleinen Literaten einzuschränken, welcher nichts besitzt als sie. Ich werde mir in den nächsten Tagen vom Herzen herunterreden, was es bedrückt, und bin überzeugt, daß nichts gestrichen wird. […]

Sonntag, am neunten August. Der Zug wird dreizehn Stunden fahren. Nachdem der Bahnhofsschutzmann einen letzten Versuch gemacht hat, mich, dieses Mal als „Südfranzosen“, zu verhaften, aber vor der Durchschlagskraft meines Passierscheins kapituliert hat, steh ich endlich auf dem Bahnsteig. […] Ich stehe von früh um Elf bis nachts um Zwölf auf einem Fleck des Ganges, kann mich selten rühren und finde märchenhaft, was ich hier sehe. Keiner drängt, Keiner schimpft, Keiner klagt, Keiner wird müde. Jeder ist höflich, jeder ist lustig, jeder teilt mit jedem, was er zu essen bei sich hat oder auf den Stationen geschenkt bekommt – vom Oberlandesgerichtsrat bis zum Laufburschen. In Ludwigslust wird ein mächtiger Korb voll frisch gepflückter Kirschen, etwa fünfundzwanzig Pfund, weniger hereingereicht, als hineingeworfen. Ich fange ihn. Meine schöne, weizenblonde, knusprig braun gebrannte Nachbarin dreht aus meinen Zeitungen Tüten, ich fülle sie, ein Dritter verteilt sie, und als nach dieser erquickenden Mahlzeit eine Lehrerin ein humoristisches Danklied anstimmt, singen alle mit. Der Krieg wird nicht vergessen. Jeden Bahnhof schützen würdige Privatpersonen mit einer Flinte über der Schulter des schwarzen Sonntagsrocks. Andre tragen Kopfbedeckungen und Wehrgehänge, die den Dreißigjährigen Krieg erlebt zu haben scheinen. Familien nehmen Abschied von den Ihren. „Adjüs, min Korl“, ruft Vetter Michel irgendwo vor Wittenberge, „auf Wiedersehn im Massengrab!“ Der Rufer ist so drollig, daß nicht einmal dieser hanebüchene Satz verletzt. Auch die berlinischen Humore blühen. Zwei siebzehnjährige Bengels schildern, wie sie, durch ein Papier als Kriegsfreiwillige beglaubigt, seit einer Woche kreuz und quer herumkarjolen, von Regiment zu Regiment, nichts tun, das Deutsche Reich besehen, unterwegs mit Liebesgaben überschüttet werden und manchmal gar noch bares Geld erbeuten – schildern das mit einer Drastik, die der Peinlichkeit des Unternehmens einen Teil von ihrer Schärfe nimmt. Dem Volk wird jeder Tag zum Fest und selbst ein Riesenkrieg zur Industrie. Daneben lehnt ein Fähnrich der Marine. Wie aus den Büchern von … Verdammtes Kritikermetier! Umschattet. Spricht in den dreizehn Stunden keine Silbe. Lächelt nur manchmal, wenn den Witzen wirklich nicht zu widerstehen ist, ernst, beinah bitter. Man hat genügend Zeit, sich eine Kindheit, einen Landsitz, eine Mutter, Schwestern, andre Frauen auszumalen. Adlig, als wäre dieses Wort auf ihn geprägt. Voll Zucht in jeder Handbewegung. Bescheiden und doch selbstbewußt. Antinoos aus Holstein. (Verdammtes …!) Seine Gegenwart ist wie ein Hauch von wundervoller Schwermut über aller Ausgelassenheit. Man wird in solchen dreizehn Stunden doch wohl mürbe. Denn ich denke mir, als wäre ich die Gartenlaube: Wenn dieser eine Mensch von zweiundzwanzig Jahren, dies Abbild der Gesundheit, Schönheit, Kraft, nicht aus dem Krieg zurückkehrt, ist der Gewinn des Kriegs zu hoch bezahlt. Zwölf Uhr. Der Lehrter Bahnhof. Extrablätter: Viertausend Belgier gefangen. Der ganze Höllenlärm und Hexensabbat meiner teuern Vaterstadt. Ich bin da, wo ich doch nun einmal für die schwärzere Hälfte jedes Jahres hingehöre, und gehe morgen früh an meine Arbeit. Gute Nacht!


In: Die Schaubühne, 27. August / 17. September / 8. Oktober 1914. Wieder in: Friedhelm Greis, Stefanie Oswalt (Hg.): Aus Teutschland Deutschland machen. Ein politisches Lesebuch zur „Weltbühne“. Lukas Verlag, Berlin 2008, S. 68-72