8.8.2005

Praktisch verfasst

Die „Süddeutsche“ befragt aus gegebenem Anlass den Verfassungsrechtler Dieter Grimm, ob er die angestrebten Neuwahlen als verfassungskonform betrachtet. Laut „SZ“ prägte Grimm als Verfassungsrichter in Karlsruhe

die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Meinungs- und Pressefreiheit, zur Versammlungsfreiheit und zum Persönlichkeitsrecht – und beeinflusste so umstrittene Entscheidungen wie das „Soldaten sind Mörder„-Urteil (über das nicht umstandslos als Beleidigung von Bundeswehr-Soldaten gewertete Tucholsky-Zitat).

Auch in diesem Fall plädiert Grimm für eine Entscheidung, die der Politik wenig gefallen dürfte:

Die Staatspraxis ist aber Gegenstand, nicht Inhalt der verfassungsrechtlichen Regelung. Das Grundgesetz lässt viel Raum für die Staatspraxis. Aber die Staatspraxis kann nicht über ihre eigenen rechtlichen Grenzen bestimmen. Schon gar nicht kann es für die Auslegung des Grundgesetzes maßgeblich sein, dass die Staatsorgane unter sich einer Meinung sind.

Aber im Gegensatz zur Weimarer Republik gibt es inzwischen wenigstens ein Verfassungsgericht, das Zustände, wie sie Tucholsky damals konstatierte, verhindern kann:

Eine Verfassung ist, so sie diesen Namen überhaupt verdient, der Extrakt aller Grundgesetze, staatlicher Einrichtungen, wichtigster Praxis des Landes. Diese da ist ein Hütchen, das sich ein gänzlich ungewandelter Koloß spaßeshalber aufs linke Ohr setzt – eine Papiertüte zum politischen Bockbierfest und für höhere Feiertage. Bei der Arbeit nimmt man sie ab.
Ignaz Wrobel: „Verfassungsschwindel“, in: Die Weltbühne, 26.10.1926, S. 646

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