28.11.2021

Zur Versachlichung der Tucholsky-Debatte

Um es gleich am Anfang zu klären: Darf ein Satiriker einem anderen Satiriker aus satirischen Gründen seinen Text unterschieben? Da die Satire laut Tucholsky bekanntlich alles darf, ist es von Titanic-Autor Cornelius Oettle besonders elegant gewesen, diesen Text gleich unter Tucholskys Namen zu veröffentlichen: „Zur Versachlichung der Impfdebatte“ heißt das Gedicht, das seit dem 26. November 2021 auf Twitter und in anderen sozialen Netzwerken die Runde macht.

Das Gedicht hat offensichtlich so wenig mit Tucholsky zu tun wie die Titanic mit der Weltbühne, in der es im Jahr 1928 erschienen sein soll. Von daher ist es keine Tucholsky-Parodie, sondern lediglich der Versuch, mit der Zuschreibung zu einem bekannten Autor und der Datierung in eine völlig andere Epoche mehr Aufmerksamkeit zu generieren. Nur die wenigsten dürften zudem wissen, dass 1928 sicherlich nicht über eine Zwangsimpfung gegen Diphtherie diskutiert wurde, wie es Oettle einleitend behauptet.

Es erscheint daher als reine Willkür, den Text Tucholsky zuzuschreiben. Ebenfalls erinnert die von Oettle gestiftete Verwirrung an das angebliche Tucholsky-Gedicht zur Finanzkrise. Dieser poetische Hoax aus dem Jahr 2008 ging allerdings nicht auf den tatsächlichen Autor des Gedichts zurück, sondern entstand aus einer Verkettung falscher Zuschreibungen im Internet.

Warum hat Oettle das Gedicht nicht unter seinem eigenen Namen veröffentlicht? Vielleicht wollte er damit die Literatur- und Medienkompetenz der Twitter-Nutzer testen. Wer glaubt, dass ein bekannter Autor wie Tucholsky schon Impfverweigerer in den Knast stecken wollte, hat wohl weniger Hemmungen, seine Zustimmung zu solchen Überlegungen zu äußern. Darauf sind in der Tat viele Leute reingefallen. Wobei die Zahl derjenigen, denen die Attribution merkwürdig vorkam, größer gewesen sein dürfte. Laut Kuckuckszitate-Sammler Gerald Krieghofer haben in zwei Tagen „bald 10.000 Leute nachgeschaut, ob das stimmt“.

Was schrieb Tucholsky zum Thema Impfen?

Abgesehen davon, wie sinnvoll eine solche Falschzuschreibung ist, stellt sich durchaus die Frage, ob und wie sich Tucholsky in seinem Werk zum Thema Impfen geäußert hat. Schließlich gab es seit der Einführung der zwangsweisen Pockenimpfung im deutschen Kaiserreich eine lautstarke Gruppe von Impfgegnern und eine kontroverse Debatte.

In der Weimarer Republik erfuhr die Impfdebatte durch das sogenannte Lübecker Impfunglück neuen Auftrieb. Durch kontaminierten Tuberkulose-Impfstoff waren im Jahr 1930 77 Kinder gestorben. In der Weltbühne vom 19. August 1930 durfte der Schriftsteller Walther von Hollander ziemlich unwissenschaftlich gegen den „Impfwahn“ wettern.

Als Jurist hat sich Tucholsky hingegen nicht zu medizinischen Fragen des Impfens geäußert. Sogar im Alter von 43 Jahren hat er sich noch impfen lassen.

Ich schreibe Ihnen noch, wohin ich mache – ich werde hier geimpft, vielleicht nützt es was. Dann trudele ich langsam ab – und ich wäre mächtig froh, wenn wir uns vorher sähen.

schrieb er am 4. April 1933 von Zürich aus an seinen Freund Walter Hasenclever. Wogegen er geimpft wurde, ist nicht bekannt.

Das ist allerdings die einzige Impfäußerung Tucholskys mit persönlichem Bezug. Die weiteren Fundstellen sind eher ein Ausdruck davon, wie selbstverständlich das Impfen in der damaligen Zeit war.

So schrieb er am 10. Mai 1923 in der Weltbühne:

Im Kriege hatte der Soldat in der einen Hand seine Waffe und in der anderen eine Liste; auf der stand geschrieben:

Ich glaube, wenn man unserm Volk seine Listen wegnähme, es wüßte überhaupt nicht mehr, was es noch hienieden sollte. Denn ob wir befähigt sind, Kriege zu führen und das Staatsruder zu führen – das steht noch dahin – aber Listen führen – das können wir.

Anderswo gehen die Leute durch den grünen Wald – bei uns geht alles durch die Bücher. Denken Sie mal, was alles bei uns eingetragen wird:

Geburt, Impfung, Amme; Schulgang und Rausschmiß, erste Liebe (Grober öffentlicher Unfug, Alimentation usw.) (…)

Oder am 11. September 1928, ebenfalls in der Weltbühne:

Der Kriminal-Roman ist die Ausspannung von der alltäglichen Tätigkeit: wer in der Geisbergstraße wohnt, eingetragen auf dem Einwohner-Meldeamt, mit Steuerbogen, Führerschein, Geburtszeugnis und Impfattest, der liebt die Pyramiden, in deren Innern sich die arabischen Wüstenräuber aufhalten …

Ähnlich hieß es in der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ) im Jahr 1930 (Nr. 14):

Kein Konsulatsbeamter sagt: „Kommen Sie wegen des Visums morgens nochmal. Wir brauchen dazu ein Impfzeugnis Ihrer Großmutter und eine schriftliche Bescheinigung, daß Sie in unserem Lande keine Papageienzüchterei aufmachen wollen. Und … haben Sie selbst ansteckende Krankheiten? … oder sind Sie Bolschewist …?“

Ein Hinweis auf ganz spezielle Impfung findet sich in der Weltbühne vom 3. Juni 1930:

Wir verdanken Gustav Meyrink die schöne Geschichte vom „Schöpsoglobin“, darin die Affen des Urwaldes mit einer Lösung geimpft werden, die heftigen Patriotismus erzeugt. Die Impfung richtet denn auch schreckliche Verwüstungen unter den Tieren des Waldes an: sie gehen mit markerschütterndem Stumpfsinn hinter einem Riesenaffen her, der sich das Gesäß mit Goldpapier beklebt hat … man lese das nach (…)

Zur Spanischen Grippe finden sich ebenfalls einige Fundstellen in Tucholskys Briefen. So behauptete er im Juli 1918 in einem Schreiben an Hans Erich Blaich:

Ich habe mir zwar noch nicht die gefährlichen lateinerischen Krankheiten acquirieret, vor denen Sie mich gewarnt haben, aber die spanische Grippe – worauf sich zu Unrecht „Hippe“ reimt – wars doch schon.

Im Februar 1919 räumte er in einem weiteren Brief an Blaich hingegen ein, nicht ganz an die Existenz dieser Pandemie geglaubt zu haben:

Viel wichtiger aber ist, daß es Ihnen und Ihrer Frau nicht gut ging – ich dachte, die Grippe sei eine Berliner Erfindung.

Beim Ausbruch der Spanischen Grippe befand sich Deutschland allerdings im Ersten Weltkrieg. Daher konnte man öffentlichen Verlautbarungen nicht unbedingt vollen Glauben schenken.

Zum Abschluss noch einen echten Impfwitz von Tucholsky, veröffentlicht am 10. Februar 1917 in der Feldzeitung Der Flieger:

Die Lady
Vor einiger Zeit tanzte Lady Constance Stewart-Richardson, die Nichte der Herzogin von Sutherland, im Palace-Theater zugunsten eines wohltätigen Zwecks. Nun sind in der Stadt einige Pockenfälle vorgekommen, und die Dame wünscht geimpft zu werden, „aber an einer Stelle“, sagte sie zu ihrem Arzt, „wo es, wenn ich tanze, nicht gesehen werden kann.“ Der Doktor erwiderte, es würde unter diesen Umständen zweckmäßig sein, wenn er selbst sehe und einer Vorstellung beiwohne. Dann – nach dem letzten Tanzabend – sagte er: „Gnädige Frau – da gibts nur eins. Sie müssen den Impfstoff verschlucken!“

Startseite

Powered by WordPress