28.1.2015

Presseschau zum 125. Geburtstag Tucholskys

Mit freundlichem Dank an tucholsky125.wordpress.com!

Der 125. Geburtstag Kurt Tucholskys am 9. Januar 2015 wurde in Presse, Funk und Netz überraschend ausgiebig gewürdigt. Das lag nicht nur daran, dass Tucholskys Aussagen zur Satire mit dem Terroranschlag auf die französische Satirezeitung Charlie Hebdo leider eine erschreckende Aktualität erhalten hatten. Schon deutlich vor den Anschlägen hatte das Sudelblog einige Anfragen von Journalisten erhalten, die sich anlässlich des Gedenktages mit der aktuellen Bedeutung Tucholskys beschäftigen wollten. Die Debatte um die Grenzen der Satire ist jedoch alles andere als beendet, so dass die Erwähnungen Tucholskys seit dem 9. Januar 2015 kaum weniger geworden sind. (Hinweise zu weiteren Geburtstagwürdigungen gerne per Mail an sudelblog.de)

Presse
Erstaunlich viele Beiträge sind hinter einer Paywall versteckt. Das ist schade, aber nunja, so ist es, damit fallen sie hier leider raus.

Das Blättchen hat eine 32-seitige Sonderausgabe zu Tucholskys Geburtstag gestaltet. Dabei sind Beiträge u.a. von Fritz J. Raddatz, Georg Schramm, der Kurt Tucholsky-Preisträger Konstantin Wecker, Heribert Prantl und Daniela Dahn sowie zahlreiche weitere unbedingt lesenswerte Beiträge. Die Beiträge von Schramm, Wecker, Prantl und Dahn liegen sogar als Hörversion vor. Chapeau und vielen Dank!
>> zur Sonderausgabe.

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7.1.2015

„Gute Leute! Nicht schießen!“

Schon bei den ersten Veröffentlichungen der Mohammed-Karikaturen im Jahr 2006 hatte das Sudelblog Tucholskys zahlreiche Äußerungen zu den Grenzen der Satire näher untersucht. Es ist ein extrem trauriger Anlass, dass diese genau zwei Tage vor Tucholskys 125. Geburtstag mit dem Mordanschlag auf die Redaktion des französischen Satire-Magazins Charlie Hebdo eine besondere Aktualität erhalten. Dutzende Male wurde heute Tucholskys Diktum „Was darf die Satire? Alles“ getwittert. Selbst Vizekanzler Sigmar Gabriel soll es zitiert haben.

Aus zahlreichen Text- und Briefstellen Tucholskys geht allerdings hervor, dass sein Verständnis von Satire nicht auf die Position “sie darf alles” reduziert werden sollte. Vor allen in religiösen Fragen unterschied er klar zwischen den geistigen Inhalten und den daraus entspringenden gesellschaftlichen Ansprüchen der Religionen.

Beinahe verzweifelt wirkte der Appell, mit dem er 1924 den Artikel »Wie mache ich mich unbeliebt?« beschloss:

Dem Satiriker gab ein Gott zu sagen, was sie treiben. Man kann ja nun nicht gerade verlangen, daß der Großpapa, dem der Enkel einen kleinen Flitzbogenpfeil in die hintere, untere Schlafrockseite bohrt, dem guten Kind auch noch einen Bonbon gibt. Aber nicht gleich aufspringen und mit harten Gegenständen werfen. Die Würde muß es sich gefallen lassen, daß sie manchmal am Bart gezupft wird. (Auch Bartlose haben einen Bart, mitunter.)

Denn die moderne Sorte Humorist muß heute noch mit einem Schutzpanzer umhergehen:

Gute Leute! Nicht schießen!

Gewalt kann und darf nie ein Mittel sein, Satire zu bekämpfen.

5.1.2015

Die Rettung des Schwejk

Kurt Tucholsky gehörte zu den frühen deutschsprachigen Fans des Schwejk, den er in Auszügen schon in einer Humoranthologie Roda Rodas (Band 6) entdeckt hatte:

Hervorzuheben die kleine Erzählung eines Tschechen: Hascheks, ich habe den Namen nie gehört. Sie ist das Muster einer politischen Satire, von einer Bitterkeit, die doppelt wirkt, weil sie eingemummelt ist in sanfte Blödheit, die scheinbar von nichts nicht weiß. Was ist das für ein Mann -?

schrieb er im Dezember 1925 in der Weltbühne. Hätte Tucholsky das Konkurrenzblatt Tagebuch gelesen, wäre ihm 1923 vielleicht schon der Nachruf Egon Erwin Kischs auf den früh gestorbenen Schwejk-Erfinder Jaroslav Haschek aufgefallen. So aber stellte ein Weltbühne-Leser den Autor und dessen Hauptwerk im April 1926 mit den Worten vor:

Seit Jahrzehnten ist kein tschechisches Buch so gelesen und so gekauft worden. Es ist kaum zu übersetzen, und das ist schade. Denn aus diesem Buch kann man den Krieg kennen lernen, wie er wirklich gewesen ist. Karel [sic] Haschek war ein Vollblut-Tscheche und eine Vollblut-Europäer.

in: »Antworten«: Peter Panter, Die Weltbühne, 6.4.1926, S. 557 f.

Richtig populär wurde der »brave Soldat« auch in Deutschland, als der erste von vier Bänden übersetzt wurden. Die Übersetzerin Grete Reiner hatte ihr Werk zuvor schon den Lesern der Weltbühne angekündigt und sehr selbstbewusst der Einschätzung des zitierten Lesers widersprochen:

Der Schreiber dieser begeisterten Zeilen hat nur zum Teil recht, nämlich in Bezug auf die einzigartige Bedeutung dieses Werkes. Dagegen irrt er ein wenig, wenn er dieses köstliche Buch für unübersetzbar hält und bedauert, dass es dem deutschen Publikum dauernd entzogen bleiben soll. Ich habe es übersetzt und soeben im Verlag A. Synek zu Prag erscheinen lassen.

in: »Antworten«: Grete Reiner in Prag, Die Weltbühne, 27.4.1926, S. 676

Keine Frage, dass sich Tucholsky alias Peter Panter sogleich auf die Übersetzung stürzte und sie wenige Wochen später ausführlich rezensierte.

Obwohl er kein Tschechisch konnte, war er von der Leistung Reiners nicht überzeugt:

Das Buch ist aus dem Tschechischen ins Deutsche übertragen worden – soweit ich das beurteilen kann, nicht sehr glücklich. Vielleicht ist es gut übersetzt, aber der Eindruck dieses Jargons, den Schwejk spricht, ist nicht lustig. Seine Grammatik ist farblos und steht in gar keinem Verhältnis zu den herrlichen Sachen, die er zusammenphilosophiert – man ahnt, was einem da Alles verloren gegangen sein mag. Ich gebe zu: dergleichen überträgt sich nicht. »Du bist woll mit de Muffe jebufft?« heißt nicht: »Hat Sie Jemand unsanft mit einem Pelzmuff angerührt?« – sondern etwas anders. Und das bleibt freilich am Bodensatz des Dialekts kleben, es kommt nicht herauf, und hier steckt die Tragik des Buches.

Auch den zweiten Band nahm er sich direkt nach dem Erscheinen vor. Darin kanzelte er Reiner noch schärfer ab:

Gott weiß, was uns durch diese unmögliche Übersetzung verloren geht – aber es bleibt noch genug.

Dieses »genug« reichte immerhin aus, dass bis vor kurzem keine weitere deutsche Übersetzung des Schwejk gegeben hat.

Ein Makel, den nun der 1962 in Prag geborene Übersetzer Antonín Brousek beseitigt hat. Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg sind zwar schon im vergangenen Jahr bei Reclam erschienen, werden aber weiterhin fleißig in den Feuilletons besprochen. Darin geht es unter anderem um die Frage, wie »kongenial« Reiners Übersetzung war, oder, besser gesagt, wie sehr sie das Werk verfremdete und umdeutete. Reiner ließ den Schwejk »böhmakeln«, laut Wikipedia ein »gesprochenes Deutsch mit auffallendem ›böhmischen‹ Akzent«. Als deutscher Leser nimmt man nun mit Erstaunen zur Kenntnis, dass eine solche Sprechweise überhaupt nicht dem Original entspricht. Mit den Worten Brouseks:

Grete Reiner hat sich mit ihrem »Böhmakeln« etwas Neues ausgedacht. Dabei hat sie das Buch nicht übersetzt, sondern interpretiert und umgeschrieben und damit ein eigenständiges Werk geschaffen. Das bedeutet, die deutsche Fassung entsprach nicht nur nicht der tschechischen, sondern war auch noch eine eigenständige neue Interpretation, die mit dem Original nur bedingt etwas gemeinsam hat. […]

Hašeks Roman ist im Original in einem modernen Umgangstschechisch geschrieben. Es musste also ein modernes Umgangsdeutsch her. Das Buch enthält teilweise altertümelnde Begriffe, aber in der Regel reden alle Leute völlig normal. Das heißt, es ist genau umgekehrt zu Grete Reiner. […]

Alle Dialoge sind in einem normalen Umgangstschechisch verfasst, das auch »Schwejk« spricht. Die einzigen, die im Roman komisch sprechen, sind die Deutschen, denn diese können kein richtiges Tschechisch – und sobald sie versuchen Tschechisch zu sprechen, hört sich dies lächerlich an.

Brousek gibt im Interview mit Radio Prag der Kritik Tucholskys an der merkwürdigen Sprache der Protagonisten ausdrücklich recht:

Ich finde es erstaunlich, dass Tucholsky damals fast als Einziger dies bemerkte, obwohl er kein Tschechisch sprach. Den meisten gefiel Reiners Übersetzung bei der Veröffentlichung. Bert Brecht fand die Übersetzung beispielsweise urkomisch. Doch Kurt Tucholsky hat es richtig beschrieben, die Übersetzung ist in gewissem Sinne »unmöglich«.

Gut möglich ist aber, dass Reiner auch inhaltlich in den Roman eingriff. So schimpft Schwejk bei Brousek über die Deutschen: »Das sind solche Drecksäcke, wie sonst keiner auf der Welt.« Diese Passage zu Beginn des Buches findet sich bei Reiner nicht, wie die Berliner Zeitung kritisch bemerkt:

Bisher war dieser Satz, gesprochen zum Auftakt des Romans im Wirtshaus Zum Kelch, allen Lesern des Svejk bekannt – nur den titulierten Drecksäcken nicht. Denn in der einzigen deutschen Übertragung des Romans von 1926 und sämtlichen Neuauflagen fehlen diese Worte.

Kein Wunder, dass die Rezensenten die neue Übersetzung als »bahnbrechend« (Berliner Zeitung) und »überfällige Rettung eines modernen Klassikers aus dem K.-u.-k.-Komödienstadel« (Tagesspiegel) loben.

Umso besser, dass Brousek die Lorbeeren für sein Werk noch zu Lebzeiten ernten kann. Nicht nur die Schwäbische Zeitung hat ihn mit einem Namensvetter verwechselt und bereits 2013 sterben lassen. Auch der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek schreibt dem gleichnamigen Dichter und Literaturkritiker Brousek die neue Schwejk-Übersetzung zu. Wie quicklebendig der Übersetzer und laut Reclam in Berlin lebende Richter Brousek ist, zeigte er auch auf einer Lesung während der Leipziger Buchmesse 2014.

17.6.2014

too-HOLE-skee spricht Englisch

Viel zu lange ist an dieser Stelle schon versäumt worden, auf die neuen englischsprachigen Tucholsky-Ausgaben aus dem Berlinica-Verlag von Eva C. Schweitzer hinzuweisen. Im vergangenen Jahr erschien bereits der umfangreiche Band Berlin! Berlin! Dispatches from the Weimar Republic, der zahlreiche Texte Tucholskys nebst biografischen Erläuterungen und vielen zeitgeschichtlichen Fotos enthält. Zuletzt ließ Schweitzer noch Rheinsberg übersetzen, Tucholskys „Bilderbuch für Verliebte“, das ihn vor 100 Jahren in der Literaturwelt bekanntmachte.

Dass Tucholsky in der englischsprachigen Welt nahezu unbekannt ist, mag sicher auch am Mangel an Übersetzungen liegen. Die von Harry Zohn herausgegebenen Ausgaben liegen schon Jahrzehnte zurück. What if – ?; Satirical writings of Kurt Tucholsky stammt aus dem Jahr 1967, das Deutschland-Buch wurde 1972 übersetzt. Der Sammelband »Germany? Germany«: a Kurt Tucholsky Reader erschien 1990.

Die neuen Ausgaben des Berlinica-Verlages haben sogar das Interesse der New York Times geweckt. Anfang Juni porträtierte William Grimes unter der Überschrift »Giving a Satirist of the Third Reich the Last Laugh« den Schriftsteller, der 1936 in dem renommierten Blatt immerhin einen Nachruf erhalten hatte. Grimes stellt Tucholsky seinen Lesern wie folgt vor:

In Weimar Germany, Tucholsky (pronounced too-HOLE-skee) was big, the most brilliant, prolific and witty cultural journalist of his time. He remains big in Germany, a widely read author, with sales in the millions. In the English-speaking world, however, he barely exists.

Es bleibt zu hoffen, dass sich Letzteres aufgrund der beiden Bände ein wenig ändert. Dass Tucholskys Sprache durch eine Übersetzung einiges an ihrer Wirkung verliert, lässt sich wohl nicht vermeiden. Aber zumindest scheint die Übersetzerin Cindy Opitz den Ton gut getroffen zu haben. Tucholsky-Fan Fred Roberts, der selbst ein Blog mit Übersetzungen betreibt, schrieb über Berlin! Berlin!:

Cindy Opitz hat ins zeitgenössische Englisch übersetzt, aber ich hatte das Gefühl, dass die Gedanken exakt wie die von Tucholsky klangen. Dies ist das erste Mal, dass ich ihn nicht auf Deutsch gelesen haben. Kompliment an Cindy Opitz. Es ist nicht einfach, Tucholsky auf Englisch zu artikulieren.

Um Tucholsky für die amerikanischen Leser literarisch einordnen zu können, vergleicht die New York Times ihn zum einen mit dem Humoristen Robert Benchley, zum anderen mit dem Satiriker H. L. Mencken.

Jemand, der wie Tucholsky gleich »mit 5 PS« schrieb, gab es aber selbst in den USA offenbar nicht.

18.11.2013

»Still, wie eine Jungfrau im achten Monat« – Unbekannter Tucholsky-Brief entdeckt

Es kommt nur sehr selten vor, dass fast 80 Jahre nach dem Tod Tucholskys unbekannte Briefe aus der Maschine des manischen Briefschreibers auftauchen. Doch gelegentlich werden solche raren Exemplare auf irgendeinem Dachboden wieder hervorgekramt. So auch im Falle von Jørn Dietrich. Dieser entdeckte im Nachlass seines Großvaters Alfred Dietrich einen Brief, den Tucholsky am 23. Juni 1927 während seines Aufenthaltes im dänischen Mogenstrup Kro getippt hatte. Der Brief ist zweifellos ein echter Tucholsky:

Hier ist es ganz still, der Wirt spricht so wenig Deutsch, dass meine Konversation auf das erfreulichste eingerostet ist, und ich arbeite vor mich hin und gehe im Wald spazieren und lebe still, wie eine Jungfrau im achten Monat.

Zugleich beantwortet der Brief einige Fragen, die Tucholskys Aufenthalte in Kopenhagen betreffen und klärt die Identität einer Person, die in einem anderen Brief erwähnt wurde. Ein Fund, der sich für die Tucholsky-Forschung gelohnt hat.

Der Briefadressat war damals Presseattaché der deutschen Botschaft in der dänischen Hauptstadt. Tucholsky hatte ihn wohl zu einem Essen eingeladen, um über ihn Kontakte zu prominenten dänischen Literaten und Politikern zu knüpfen. Das geht aus einem »Kassensturz« vom 13. Juni 1927 hervor, den er einem Brief an seine Frau Mary Tucholsky beilegte.

Hotel 140 Kronen (Dabei ein unverschämt hoher
Gepäcktransport von Terminus.)
Gepäck 15
Marken 45
Papier 15
Diverses 30
Whisky 10
Bücher 20
eine Pfeife 15
Essen mit
Dietrich 30

steht dort notiert. In der Tucholsky-Gesamtausgabe (Band 18, S. 627) heißt es noch zu Dietrich: »Nicht identifiziert.«

Auch wenn Tucholsky sich in dem Brief bitterlich beklagte, wohin seine ansehnlichen Honorare verschwunden sind (»Es sieht ja schrecklich mit dem Geld aus, und ich möchte nur wissen, wie das gekommen ist«). Die 30 Kronen für das Essen mit Dietrich waren offenbar gut angelegt. Denn in dem Schreiben an den Diplomaten bedankt er sich sehr artig «für alle Freundlichkeiten«, mit denen Dietrich ihm »wirklich ganz besonders nett weitergeholfen« habe. Ob dies der einzige Kontakt zwischen dem umherreisenden Schriftsteller und dem Presseattaché war, geht aus den überlieferten Texten und Briefen Tucholskys nicht hervor. Wobei er sich bei Dietrich mit dem Satz verabschiedete: »Sollte ich in Kopenhagen noch einmal Station machen, melde ich mich natürlich.«

Weitere Begegnungen sind durchaus wahrscheinlich. Es ist dazu sehr aufschlussreich, sich das Leben Dietrichs genauer anzuschauen. Denn in vieler Hinsicht ist es typisch für die Karriere eines linken Intellektuellen in den Wirren von Kaiserzeit, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Nachkriegsepoche. Eine gute Quelle dafür ist ein Lebenslauf, den Dietrich nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb, um als »Opfer des Faschismus« anerkannt zu werden.

Karl Wilhelm Alfred Dietrich wurde demnach am 1. September 1878 in Spremberg in der Niederlausitz geboren. Der Sohn eines Seilermeisters sollte nach dem Willen seines Vaters evangelischer Geistlicher werden, was Dietrich jedoch ablehnte, so dass er nur die Volksschule absolvierte. Mit 14 Jahren kam er zum Spremberger Anzeiger, wo er zum Setzer und Stenografen ausgebildet wurde. Mit 18 wurde er Redaktionsgehilfe beim Niederlausitzer Anzeiger in Finsterwalde. Von dort zog er nach Bremen, wo er bei der Weser-Zeitung sechs Jahre lang als Redakteur arbeitete. In Bremen lernte er auch den späteren Reichspräsidenten Friedrich Ebert kennen, mit dem ihm eine »warme Freundschaft“ verband, wie Dietrich in dem Lebenslauf schreibt. Zum Jahreswechsel 1904 ging Dietrich nach Kopenhagen, wo er 40 Jahre seines Lebens verbringen sollte. Bis nach Ende des Ersten Weltkrieges arbeitete er dort als Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien, darunter das offiziöse Nachrichtenbüro WTB, die Kölnische Zeitung und das Hamburger Fremdenblatt. Nach der Novemberrevolution zahlten sich die alten Verbindungen zur SPD und insbesondere zu Ebert aus. Dietrich wurde 1919 Leiter der Presse- und Kulturabteilung der deutschen Gesandtschaft in Kopenhagen und behielt diesen Posten bis zum 1. Oktober 1934.

In diesen 15 Jahren machte er die Bekanntschaft mit vielen »bedeutenden Persönlichkeiten«, wie in dem Lebenslauf schreibt. Zu den ersten Bekanntschaften zählte einer der Fliegerhelden des Ersten Weltkrieges, der nach der Abrüstung der Reichswehr als Militärberater nach Dänemark gegangen war. Der spätere Nazi-Bonze und Reichsmarschall Hermann Göring habe am meisten als »Schürzenjäger, Säufer und Morphinist« von sich reden gemacht, schreibt Dietrich. Ein Teil seiner Dienstzeit sei damit draufgegangen, Görings »zahlreiche Gläubiger zu beruhigen«. Dass Göring schon vor dem Münchner Putsch von 1923 Morphinist gewesen sein soll, widerspricht historischen Darstellungen. Er soll sich aber bereits im Ersten Weltkrieg mit Kokain aufgeputscht haben und nahm die Droge vielleicht auch in Kopenhagen. Die Bekanntschaft mit Göring sollte Dietrich aber noch einmal aus einer prekären Situation helfen.

Solange Dietrich noch als Presseattaché wirkte, lernte er zahlreiche deutsche und dänische Literaten kennen. »Ich nenne hierbei besonders Max Reinhardt, Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Ernst Toller, Emil Ludwig, Kurt Tucholski [sic], ferner Einstein, Thälmann und Scheidemann …« Auch mit dem dänischen Ministerpräsidenten Thorvald Stauning sowie den Schriftstellern Martin Andersen Nexø und Georges Brandes hätten ihn »eine viele Jahre währende Freundschaft« verbunden. Es wundert nicht, dass die Nazis nach ihrer Machtübernahme den sozialdemokratischen Diplomaten auf Linie bringen wollten. Dietrich musste nach eigenen Angaben bei Propagandaminister Joseph Goebbels in Berlin zum Rapport, weigerte sich jedoch, der NSDAP beizutreten.

Eine persönliche Aussprach mit Goebbels hierüber, die der damalige Außenminister v. Neurath vermittelt hatte, und die im Auswärtigen Amt in Berlin stattfand, verlief ausserordentlich heftig, aber vollkommen ergebnislos. U.A. machte Goebbels mir zum Vorwurf, dass ich immer von einer »Partei« spräche, während es sich doch jetzt um eine Weltanschauung handele, worauf ich ihm erwidern konnte, dass er mich ja selbst aufgefordert habe, in die Partei einzutreten. Mit blutrotem Kopf fuhr er mich hierauf an, dass er sich eine derartige »Anpöbelung« verbäte.

Am 1. Oktober 1934 verlor Dietrich seinen Posten und fand in Kopenhagen nach Darstellung seines Enkels jahrelang keinen Job, was auch mit seiner Nazi-kritischer Haltung zusammengehangen haben könnte. Dietrich selbst behauptet hingegen, schon im April 1935 als Schriftleiter bei der Zeitung Licitationen angefangen zu haben. Auch in anderer Hinsicht flunkert Dietrich in seinem Lebenslauf ein wenig. Während er schreibt, seine Ehe sei 1935 geschieden worden, weil seine Frau ihm die ablehnende Haltung gegenüber den Nazis nicht habe verzeihen können, sieht das seine Familie anders. Der Diplomat sei immer schon seiner Frau untreu gewesen und habe das auch in den dreißiger Jahren fortgesetzt, was schließlich zum Bruch geführt habe.

Glaubhaft hingegen scheint, dass Dietrich sich aktiv für Flüchtlinge und durchreisende Regimegegner einsetzte: »Ernst Toller und Kurt Tucholski und andere haben bei mir vorübergehend Unterkunft erhalten«, schreibt er, wobei in diesem Fall unklar ist, ob Kopenhagen für Tucholsky weiterhin als Durchreisestation diente oder er auf dem Weg in die Schweiz nicht gleich per Schiff von Schweden nach den Niederlanden oder Belgien gefahren ist.

Die Geheime Staatspolizei beobachtete Dietrich auch nach seiner Entlassung aus dem diplomatischen Dienst und notierte Hitler-kritische Reden in der Öffentlichkeit. Anderthalb Jahre nach der Besetzung Dänemarks durch deutsche Truppen wurde er von der Gestapo in Dänemark verhaftet. Am 9. November 1941 brachten ihn zwei Beamte nach Deutschland, wo er schließlich im berüchtigten Polizeipräsidium am Berliner Alexanderplatz landete. »Vollkommen überrascht« sei er gewesen, als er im April 1942 entlassen worden sei. Dahinter steckte offenbar ein Besuch seiner Tochter bei Göring, die den damaligen Reichsmarschall daran erinnerte, wie ihr Vater ihn 1920 in sturzbetrunkenem Zustand und ohne Geld aus einer Bar mit nach Hause genommen hatte. Zwar habe Göring behauptet, im Gegensatz zu Goebbels nichts für Dietrich tun zu können, doch die plötzliche Entlassung dürfte sicherlich in einem Zusammenhang mit dem Besuch gestanden haben.

Dietrich durfte Berlin nicht verlassen. Ausgebombt und nervenkrank überstand er das Ende des Krieges in der Berliner Charité. Im September 1945 heiratete er seine zweite Frau Emma. Nach dem Krieg arbeitete er für den Berliner Magistrat unter den Bürgermeistern Louise Schroeder und Ernst Reuter. Wie aus dem abgebildeten Ausweis hervorgeht, wurde er als »Opfer des Faschismus« anerkannt. Am 27. Oktober 1951 starb er im Alter von 73 Jahren und wurde auf dem St. Thomas-Friedhof in Neukölln beerdigt. Postum erhielt er 1953 eine Entschädigung von 1.395 D-Mark für 279 Tage Freiheitsentzug in der NS-Zeit. Seine Witwe erhielt 1964 eine Entschädigungssumme von 25.000 D-Mark, die Dietrich offenbar als Opfer des NS-Regimes zustand.

Wann und wie er Tucholsky zum letzten Mal gesehen hatte, ist nicht bekannt. Im April 1931 wurde Tucholsky in Kopenhagen an der Nase operiert. Ende Juni 1934 war er zum letzten Mal nach Schweden eingereist – dabei aber vermutlich mit dem Schiff von Amsterdam nach Göteborg gefahren. Solche und viele weitere Details von Tucholskys Leben sind noch ungeklärt. Aber vielleicht findet sich mal wieder ein verschollener Brief auf einem Dachboden, der für neue Erkenntnisse sorgt.

7.9.2013

Stipendien für Tucholsky-Forschung

Es gibt zwar nur noch wenige weiße Flecken in der Tucholsky-Forschung, aber ein einjähriges Stipendium in Deutschland oder im Ausland dürfte für Tucholsky-Fans unter jungen Wissenschaftlern durchaus interessant sein. Ausgeschrieben werden die beiden Stipendien für 2014 von der Kurt Tucholsky Stiftung zusammen mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA). Der Ausschreibung zufolge werden insbesondere Doktoranden der Germanistik, Publizistik, Soziologie oder Politologie gefördert, die sich mit Werk und Ideen Kurt Tucholskys und angrenzenden Themenbereichen beschäftigen. Die Stipendien sind mit monatlich 900 Euro dotiert. Für Stipendiaten besteht das Angebot, während des Aufenthaltes im Deutschen Literaturarchiv Marbach ein Zimmer im Collegienhaus zu mieten. Weitere Details zu den Stipendien stehen in der Ausschreibung.

6.5.2013

Heimat, deine Zeitschriften

Einer der am meisten rezipierten Tucholsky-Texte ist eine Liebeserklärung an Deutschland. »Der Staat schere sich fort, wenn wir unsere Heimat lieben«, heißt am Ende des »Deutschland«-Buches, dieser an sich harten Abrechnung mit seinem Land.

Trotz dieser Heimatliebe hatte Tucholsky Deutschland schon 1924 verlassen. Seine geistige Heimat blieb ihm hingegen erhalten: die Weltbühne. Mit der Geschichte und dem Mythos der linksintellektuellen Wochenschrift beschäftigt sich der Historiker Alexander Gallus in einer ausführlichen Studie. In seinem Buch »Weltbühne. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert« beleuchtet er das »Staats- und Demokratiedenken ausgewählter Autoren und Redakteure der Weimarer Weltbühne«. Da es Gallus jedoch darum geht, dieses Denken angesichts der Wechselfälle der deutschen Geschichte bis in die Gegenwart darzustellen, stehen die prominentesten Weltbühne-Journalisten – Siegfried Jacobsohn, Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky – nicht im Mittelpunkt. Gallus untersucht die Lebenswege von Kurt Hiller, Axel Eggebrecht, William S. Schlamm und Peter Alfons Steiniger. Sie alle verband – so behauptet Gallus – »ein politisch-publizistisches Erweckungserlebnis durch die alte Weltbühne, die sie als eine geistige Heimat begriffen, deren Verlust sie melancholisch stimmte und die sie mitunter kämpferisch wiederbeleben wollten«.

Diese Grundthese des Buches sollte man sich als Leser am besten aus dem Kopf schlagen. Denn sie stimmt einfach nicht und lässt sich auf den folgenden 400 Seiten lediglich im Fall Eggebrecht belegen. Im Fall Steinigers räumt Gallus selbst sein, dass dieser inhaltlich nicht begründen konnte, warum er zu Weltbühne geneigt habe. Auch bei Schlamm bleibt offen, was erweckt wurde, als er 1932 die Wiener Weltbühne übernahm, obwohl er zuvor nur einmal für die Berliner Weltbühne geschrieben hatte. Und Hiller lag offenbar permanent im Clinch mit Herausgeber Jacobsohn, der sich 1926 bei Tucholsky beklagte: »Ich fürchte, dass es mit mir und Kurtchen Hiller nicht mehr lange währen wird. Es ist nicht zu sagen, was dieser arme Homosaxone sich an Hysterie, Verfolgungswahn, Eitelkeit, Empfindlichkeit, Anmaßung und Geschmacklosigkeit brieflich leistet.« Klar ist jedoch: Wer häufiger und länger für eine radikaldemokratische, pazifistische und antimilitaritische Zeitschrift schreibt, wird diesen Positionen nicht ganz fern stehen.

Die Lektüre von Gallus‘ Studie lohnt sich dennoch, denn sie bietet einen fundierten Abriss der wissenschaftlichen Forschung und der publizistischen Debatte über das Blättchen, wie S.J. seine Zeitschrift nannte. Zudem präsentiert Gallus wichtige Stationen und Positionen in der Karriere der vier Protagonisten, womit er im Falle von Schlamm und Steiniger eine klaffende Forschungslücke füllt. Allerdings sind die Porträts nicht als eigentliche Biografien zu lesen. Zu sehr steht das politische Denken im Mittelpunkt.

Alle vier Autoren schrieben schon vor 1933 für die Zeitschrift und setzten nach der Machtübernahme der Nazis beziehungsweise nach dem Zweiten Weltkrieg ihre publizistische Tätigkeit fort. Auf höchst unterschiedliche Weise. Während sich Hiller (1885-1972) als »Ego-Dogmatiker« treu und auch im neuen deutschen (West-)Staat ein Außenseiter blieb, machte Eggebrecht (1899-1991) Karriere beim Nordwestdeutschen Rundfunk als Radio-Journalist. Schlamm (1904-1978) wandelte sich hingegen vom Sozialisten zum extremen Rechtsausleger, der nach seiner Rückkehr nach Europa sogar dem Axel-Springer-Verlag zu konservativ wurde. Gänzlich los vom Journalismus machte sich Steiniger (1904-1980), der in der DDR als linientreuer Parteisoldat zum hochdekorierten Verfassungsrechtler aufstieg.

Der überzeugteste Weltbühnerianer von den vier dürfte Eggebrecht gewesen sein. Für ihn war die Zeit mit den roten Heften »die besten Jahre«, war Siegfried Jacobsohn sein Lehrmeister. S.J. habe ihn gelehrt, »Menschen, Bücher, Literatur, das ganze Leben unbefangen zu betrachten«. Eggebrecht wurde durch dieses Denken geprägt, weniger im politischen als im journalistischen und persönlichen Sinne.

Ganz anders Kurt Hiller. Für ihn war die Weltbühne vor allem ein Publikationsorgan, sein wichtigstes und renommiertestes. Seine pointierten Positionen – er schwärmte für den Kraftkerl Mussolini und wetterte gegen die Diktatur der demokratischen Mittelmäßigkeit – waren auch innerhalb des Blattes nicht unumstritten. Nach seiner Flucht aus Deutschland im Herbst 1934 publizierte er wieder häufig in der Neuen Weltbühne, jedoch kam es 1936 zum Zerwürfnis mit dem Herausgeber Hermann Budzislawski. Nach dem Krieg hoffte Hiller auf eine herausgehobene Position in der westdeutschen Medienlandschaft. Doch eine solche Anerkennung blieb ihm verwehrt.

Dies galt nicht für Schlamm. Nach seiner Abberufung als erster Herausgeber der Neuen Weltbühne ging er ins Exil in die USA, wo er »frühzeitig Erfolge im amerikanischen Mediensystem verzeichnete«, wie Gallus schreibt. Noch in Europa soll er sich zum Antikommunisten gewandelt haben, der die USA dann zum harten Widerstand gegen die totalitären Feinde der Demokratie, Hitler und Stalin, aufforderte. Zurück in Europa sorgte Schlamm 1959 mit dem Buch »Die Grenzen des Wunders« für Aufsehen. Darin forderte er ein starkes deutsch-amerikanisches Bündnis gegen die Sowjetunion, das auch zum Atomkrieg entschlossen sein sollte. War er in den sechziger Jahren noch gefragter Kolumnist beim Stern und bei der Welt am Sonntag, wurde er Anfang der siebziger Jahre selbst für den Springer-Verlag untragbar. So gründete er 1972 schließlich eine eigene Zeitschrift: die Zeitbühne. Ein konservatives Kampfblatt gegen den »linken Zeitgeist«.

Einen gänzlich anderen Lebensweg schlug Peter Alfons Steiniger ein. Schon als 19-Jähriger schrieb er Leitartikel für die Weltbühne. Sehr ungewöhnlich für einen jungen Studenten, der sich in seinen Texten mit dem demokratischen System der Weimarer Republik befasste und unter anderem vorschlug, die vielen Splitterparteien zu drei Blockparteien zu bündeln. Gallus‘ Behauptung, Steiniger sei über Hillers Gruppe Revolutionärer Pazifisten zur Weltbühne gestoßen, ist jedoch nicht plausibel. Denn 1926, als Hiller seine Gruppe gründete, hatte Steiniger fast alle seiner 32 Weltbühne-Artikel schon geschrieben und dieses Lebenskapitel im Alter von 23 Jahren bereits abgeschlossen. Gegen Ende der Weimarer Republik promovierte er als Jurist und arbeitete anschließend als Gerichtsreferendar in Berlin. Als Sohn einer deutsch-jüdischen Familie blieb ihm die juristische Karriere verwehrt. Aus der Not heraus biederte er sich beim NS-Regime an, um als Schriftsteller publizieren zu können. Nach dem Krieg legte Steiniger »eine linientreue Musterkarriere im sozialistischen deutschen Staat hin«. Zwar holte ihn seine Vergangenheit 1950 kurz ein, als seine kommunismuskritischen Texte in der WB und seine Bittbriefe an Goebbels ausgeschlachtet wurden. Doch anschließend vertrat er – unter den Argusaugen der Stasi – als Verfassungs- und Völkerrechtler an der Berliner Humboldt-Universität umso vehementer die Positionen der Partei. Die »Einheit von Parteilichkeit und Wissenschaft« war laut Gallus klar gegeben. Von einem unabhängigen Denken wie bei der Weltbühne war keine Spur mehr zu sehen.

Nach den vier Biografien der Autoren folgen noch 30 Seiten, auf den Gallus Bilanz zieht. Doch dahinter steckt nicht mehr als ein Nacherzählen der vier Lebensläufe, die er zuvor präsentiert hat. Festzuhalten bleibt dabei die Skepsis, die Eggebrecht seiner gewachsenen Anerkennung als Intellektueller in der Bundesrepublik entgegenbrachte. Die geschmähten Außenseiter der Weimarer Republik hätten nun einen »festen Platz im politischen System« erhalten. Es habe sich eine »Aussöhnung oder wenigstens Anerkenntnis zwischen Staat und Kritiker« vollzogen, schreibt Gallus.

Die Tatsache, dass ein Autor in einer bestimmten Phase seines Lebens für ein bestimmtes Medium geschrieben hat, muss offenbar kein prägendes Wesensmerkmal sein. Vielleicht wäre es daher besser gewesen, anstelle von Steiniger und Schlamm engagierte Weltbühnerianer wie Heinz Pol und Walther Karsch in die Auswahl zu nehmen. Beide stießen als junge Journalisten zu dem Blatt und hatten über viele Jahre persönlichen Kontakt zu den Herausgebern. Auch der Ökonom Fritz Sternberg hätte ein Kandidat für die Auswahl sein können. Gallus nennt jedoch sechs Gesichtspunkte, die für die Auswahl aus den aberhundert Weltbühne-Autoren entscheidend gewesen seien. Dazu gehört unter anderem, dass sich die Autoren »während ihrer gesamten Schaffensperiode als genuin politische Publizisten oder Akteure verstanden«. Aus diesem Grund sei Karsch durchs Raster gefallen, weil er nach dem Krieg als Feuilletonist gearbeitet habe. Aber Eggebrecht hat in der Weltbühne ebenfalls hauptsächlich Filmkritiken geschrieben.

Und Tucholsky? Hätte er noch mal eine geistige Heimat gefunden, wenn er den Krieg überlebt hätte? Diese Frage hat sich der Journalist und Tucholsky-Preisträger Erich Kuby schon 1965 gestellt und nicht gerade positiv beantwortet:

1945 Rückkehr aus Schweden, Mitarbeiter am 3. Programm des Norddeutschen Rundfunks unter englischen Majoren und Axel Eggebrecht, 1959 Feuilletonredakteur am L’Express in Paris, 1960 Herausgeber einer Taschenbuchreihe rororo-aktuell, 1964 Rückkehr nach Schweden, 1965, wer weiß, Selbstmord am Mälarsee.

Ein Außenseiter wäre Tucholsky nach Ansicht Kubys aber nicht mehr gewesen: »Unsere herrschende Klasse findet Tucholsky einen äußerst liebenswerten Sohn ihres liebenswerten Volkes.«

Alexander Gallus: Heimat Weltbühne. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert. Wallstein Verlag, Göttingen 2012, ISBN 978-3-8353-1117-6.421 Seiten, 34,90 Euro.

23.4.2013

Tucholsky und das böse N-Wort

Der taz-Autor Deniz Yücel hat mal wieder Ärger. Diesmal geht es um eine Diskussion über Diskriminierung, Ästhetik und Sprache. Unter dem Titel »Meine Damen und Herren, liebe N-Wörter und Innen« moderierte Yücel auf einem taz-Kongress ein Gespräch mit der Publizistin Mely Kiyak, dem Titanic-Chefredakteur Leo Fischer und der Autorin Sharon Otoo. Dabei provozierte Yücel einige Zuhörer, nach seinen Angaben »vornehmlich studentische Aktivisten«, mit der Lektüre von Texten, die das inkriminierte N-Wort enthielten. Was kann schlimm daran sein, Sätze von Adorno, Martin Luther King oder Oswald Preußler vorzulesen?, dachte sich Yücel.

Damit er das nächste Mal seinen Fundus variieren kann, seien dem Tucholsky-Preisträger von 2011 hier einige Passagen aus dem Werk seines Preisnamensgebers genannt. Tucholsky benutzte die Begriffe Nigger und Neger damals ganz selbstverständlich, dutzendfach finden sie sich in seinem Werk. Typisch für seine Zeit sicher auch, dass die Begriffe meist als Chiffre für das Exotische, Primitive und Animalische des Menschen dienen. Muss man deswegen nun Tucholskys Texte schwärzen, ihn als Rassisten anprangern? Wie absurd die Debatte über die Begrifflichkeiten ist, zeigt eines der Beispiele aus dem Jahr 1921. Darin beklagt sich Tucholsky, dass man in Deutschland nicht mehr das Wort Neger verwenden dürfe, um nicht an die »Schwarze Schmach« zu erinnern. Was sollte man stattdessen sagen, um nicht die Rassisten und Nationalisten gegen sich aufzubringen? Tucholsky weicht auf Nigger aus.

Hier nun eine fast wahllose Zusammenstellung von Zitaten aus Texten und Briefen Tucholsky, in denen sich die N-Wörter befinden.

(CW (Content Warning): schlimme Witze und Klischees)

Der Papagei, tu., Vorwärts, 1.6.1913:

Aber dafür glotzen ihn die biedern Deutschen auf der Straße an, und worüber sie bei einem Negerhäuptling grinsen, darüber strahlen sie bei dem General: die Ausstattung ist es, die den Mann macht.

Das Organ der Variétéwelt. Jubiläumsschrift, Peter Panter, Oktober 1918:

Einem guten Varietéprogramm fehlt nicht nur die Würze ohne die Engländer und Nigger und Romanen – es fehlt ihm sein eigentlicher Inhalt. (…) Aber daß der lange Nigger, der mit seinen riesigen Beinen ein paar Male den Wintergarten zierte, das Infernalischste an geschlechtlicher Gier war – wie bleckte er die Zähne! – das weiß ich wohl.

Die neuen Troubadoure, Peter Panter, Weltbühne, 24.3.1921:

Caruso ist alt und fett, und inzwischen ist den Leuten ins Blut gegangen, was der Nigger sang. (Es ist sehr schwer, heute in Deutschland das Wort Neger in den Mund zu nehmen, ohne daß einem die Leute mit dem Ausruf »Schwarze Schmach« über den Mund fahren. Aber die schwarze Schmach scheint mir, soweit sie besteht, viel mehr eine französische zu sein, und vergewaltigende Abessinier desavouieren nicht den Rhythmus von Nigger-Songs.)

Brief an Mary Gerold vom 8.6.1924:

Beispiel: sehr sinnliche Frauen, die keinen Erfolg haben, begehren fast nie plump Männer, sondern sammeln mit einer impetuosen Wut: Teetassen – oder bekehren Negerkinder – oder sind rabiate Okkultistinnen und so fort. Haben sie einen Mann, der sie befriedigt, fällt das alles fort. Die sexuelle Gier hat sich auf andere Gebiete geworfen, weil sie sich ihrer schämen – sie haben sie verdrängt, ohne sie je auslöschen zu können. (»Ist alles nicht wahr.« Doch.)

Affenkäfig, Peter Panter, Weltbühne, 16.10.1924:

In dem Riesenkäfig wohnten früher die Menschenaffen aus Gibraltar. Große, dunkle und haarige Burschen, größer als Menschen – mit riesigen alten Negergesichtern.

Spaziergang, Peter Panter, Weltbühne, 28.4.1925

Jetzt will ich mich wieder nach Hause schleichen. Hoffentlich ist der Besuch inzwischen eingegangen, so Gott will. So etwas ist nicht sehr lustig. Die Leute marschieren immer wieder zu Prunier und immer wieder in die Revuen, und wenns die Frau nicht hört, fragt mich der Mann nach einigen Adressen. Und ich weiß doch keine. Aber ich kann mich nicht länger blamieren, und daher folge hier eine
Liste:
32 rue Blondel: Nackte Mädchenbedienung.
186 rue Rondelet: Erzbischöfe, Neger und Minderjährige.
4 Boulevard Marbeau: Frau mit Lama (»Tier oder Tibetaner?« Stelle anheim).
Und, etwas völlig Perverses:
18 rue Donizetti: Ein revolutionärer Sozialdemokrat.
Aber dies Unternehmen sollen sie ausgehoben haben.

Am Telephon, Ignaz Wrobel, Weltbühne, 22.9.1931:

Und wie verständigen sich die Direktoren der Staatsverbände, die ja trotz allen Geschreis nur einen großen Klub bilden? Sie verständigen sich untereinander in einer Art, gegen die die Trommelpost der Neger eine höchst moderne und hervorragende Sache ist.

Sudelbuch, Eintrag Nr. 457

Neger treibt einen Kult, wenn er vögelt. Er trompetete dabei wie ein Elefant. Er kommt von weit her. Es war wie ein Gewitter.

Brief an Rudolf Leonhard vom 27.12.1929:

Das ist aber nichts gegen den Neger, der aus dem Bade stieg – durch die Badehose sah man so ein Ding. »He!« sagte ein evangelischer Pastor, der dieses sah, »schämen Sie sich nicht!« – »Na, na …«, brummte der Neger. »Immer mit der Ruhe. Wenn Sie zwei Stunden im kalten Wasser schwimmen, schrumpft er Ihnen auch ein -!«

«He!«, sagte eine Feminist_in, die trotz der CW weitergelesen hatte, »schämen Sie sich nicht!« – »Na, na …«, brummte Tucholsky. »Ist doch nur ein Witz. Wer schwimmt schon zwei Stunden im kalten Wasser.«

3.2.2013

»Sprache ist eine Waffe« – Neuer Tucholsky-Tagungsband erschienen

Kurt Tucholsky war sich der Bedeutung der Sprache für seinen Erfolg wohl bewusst: »Ich bin ein Schriftsteller und wie ich meins sage, ist oft besser als das, was ich sage«, schrieb er im November 1935 an seine Schweizer Freundin Hedwig Müller. Er war ein leidenschaftlicher Sprachkritiker und -beobachter. Denn die Sprache war Tucholskys wichtigstes Werkzeug, ja seine Waffe. So lautet denn auch der Titel einer Tagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft, die in einem soeben erschienenen Band dokumentiert ist.

Darin untersucht der Krimi-Autor Jan Eik unter anderem, wann und wie Tucholsky Gebrauch vom berüchtigten Berliner Dialekt machte. Der Journalist Paul-Josef Raue beschreibt, wie sich die Sprache der Presse von der Weimarer Republik bis heute entwickelte. In welcher Situation sich die Lyrik zu Beginn des 20. Jahrhunderts befand, wird von dem Literaturwissenschaftler Dieter Mayer analysiert. Der Germanistik Walter Fähnders beleuchtet, wie Tucholsky auf die neuen Formen der Lyrik einging. Zudem betrachtet der Germanist Sven Hanuschek gemeinsame literarische Vorgänger zwischen Tucholsky und dem Dramatiker Heinar Kipphardt sowie ähnliche Techniken beider Schriftsteller. Neben einem Forschungsbericht von Alexandra Bracht dokumentiert der Band zudem noch die Verleihung des Tucholsky-Preises 2011 an den taz-Journalisten Deniz Yücel für dessen WM-2010-Kolumne Vuvuzela.

Aus dem Inhalt:
Vorwort
Kurt Tucholsky: Mir fehlt ein Wort

Analysen
Sven Hanuschek: Der Schnitt durch den Käse – Literarische Sprache und politische Wirklichkeit
Dieter Mayer: Tod der Lyrik? Anmerkungen zur Lyrik-Diskussion in der Weimarer Republik
Walter Fähnders: Tucholskys Lyrik – Ästhetisches Programm und politische Rhetorik
Jan Eik: Tucholskys Gebrauch von Berliner Dialekt
Paul-Josef Raue: Wandel der deutschen Journalistensprache von Tucholskys Zeiten bis heute

Forschungsbericht
Alexandra Brach: Kurt Tucholskys Sprache im Diskurs seines Werkes – Ausführung und erste Ergebnisse des Dissertationsvorhabens

Verleihung des Kurt Tucholsky-Preises 2011
Ian King: Begrüßung
Jan Feddersen: Laudatio auf Tucholsky-Preisträger Deniz Yücel
Deniz Yücel: Dankesrede, Ausgewählte Vuvuzela-Kolumnen

Titel und Bestellung:
Greis, Friedhelm; King, Ian (Hg.): Tucholsky und die Sprache – Dokumentation der Tagung 2011 »Sprache ist eine Waffe«. Schriftenreihe der Kurt Tucholsky-Gesellschaft, Band 6. St. Ingbert 2012, Röhrig-Universitätsverlag. St. Ingbert 2010, 187 S., 24 Euro, ISBN 978-3-86110-502-2

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21.12.2012

Tucholsky und der Hindukusch

Der SPD-Politiker und frühere Verteidigungsminister Peter Struck ist am Mittwoch überraschend in Berlin gestorben. Politiker und Medien würdigten Struck zu Recht als einen Mann der klaren Worte. Wie zum Beweis stellte Spiegel Online eine Übersicht der prägnantesten Zitate ins Netz, Belege für »eine unverfälschte Persönlichkeit« und für einen Politiker, »der offene Worte fand – die nicht jedem gefielen«.

Nicht gefallen hat den meisten Tucholsky-Fans eine Äußerung, die Struck bei einem öffentlichen Bundeswehr-Gelöbnis im Juni 2003 in Hamburg machte. Als Demonstranten in Anspielung auf das Tucholsky-Diktum »Soldaten sind Mörder« ein Transparent mit der Aufschrift »Tucholsky hat recht« entrollten, bemerkte der damalige Verteidigungsminister:

Wenn Tucholsky heute leben würde, hielte er die Auslandseinsätze der Bundeswehr für richtig.

Ob Tucholsky ihm jetzt dafür auf den Wellen die Leviten liest?
Zum damaligen Anlass hat das schon die Titanic in einem »Brief an die Leser« gebührend übernommen. Dem muss man nun nichts mehr hinzufügen. Angesichts vieler weichgespülter Politiker-Statements werden wir Typen wie Struck dennoch vermissen.

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