29.8.2005

Die beleidigten Gewerkschaftler

Vor wenigen Wochen ist ein neuer Band von Tucholskys „Gesamtausgabe“ erschienen. Der Band 11 versammelt die Texte aus dem Jahre 1929, deren 178. Neben den ausführlichen Erläuterungen enthält der Band auch eine Reihe von Texten, die in den bislang erschienenen Sammelbänden nicht enthalten sind. Die meisten dieser „neuen“ Artikel sind nicht sonderlich spektakulär. Einer hat es aber in sich: Passt er doch exakt auf jene Diskussion, die seit Bekanntwerden der VW-Korruptionsaffäre geführt wird. In seinem Artikel „Hoppe – Hoppe – Reiter!“ beschäftigte sich Tucholsky mit der Frage, wie Gewerkschaftler durch den Umgang mit den „Großkopfeten“ in Versuchung geführt werden:

Habe ich alle Gewerkschaftssekretäre beleidigt?
Vielleicht steckt jener Kritiker seine Nase einmal in die ‚Soziologie des Parteiwesens‘ von Robert Michels. Er wird darin finden, daß es eine Art von Gesetz gibt, dem leider alle die unterliegen, die sich nicht dagegen aufrappeln können: ein Gesetz, wonach der Vertreter der Arbeiterinteressen sich rasch dem Gegner anpaßt. Das ist eine große Gefahr. Es gehört ein Unmaß von Charakterstärke, von Glauben an die Sache, von echter Manneskraft dazu, im jahrelangen Verkehr mit den „Großkopfeten“ nicht die Balance zu verlieren. Da färbt vieles ab: die Umgangsformen, die Luft, die guten Zigarren …
Kurt Tucholsky: „Hoppe – Hoppe – Reiter!“, in: Die Arbeiterstimme (Dresden), 21.9.1929

Die drei Pünktchen nach den Zigarren waren für die Boulevardpresse natürlich das Interessanteste an der ganzen Affäre.

27.8.2005

Lafontaine und das Geld

Im Grunde gibt es leider wenig Veranlassung, den ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine vor seinen Kritikern in Schutz zu nehmen. Aber angesichts der Diskussion um dessen Lebensstil sei daran erinnert, was Tucholsky schon 1931 über die Vereinbarkeit sozialistischer Positionen und persönlichem Besitz feststellte:

Wenn ein Kommunist arm ist, dann sagen die Leute, er sei neidisch. Gehört er dem mittleren Bürgertum an, dann sagen die Leute, er sei ein Idiot, denn er handele gegen seine eignen Interessen. Ist er aber reich, dann sagen sie, seine Lebensführung stehe nicht mit seinen Prinzipien im Einklang.
Worauf denn zu fragen wäre: Wann darf man eigentlich Kommunist sein -?
Peter Panter: „Schnipsel“, in: Die Weltbühne, 3.11.1931, S. 673

22.8.2005

Stöckelschuhe im Einheitsbrei

Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich die Feuilletons der „Neuen Zürcher Zeitung“ und des Berliner „Tagesspiegels“ abgesprochen haben. Aber die Art und Weise, in der sich zwei Beiträge in deren Sonntagsausgaben ergänzen, ist schon frappant. Da beklagt Regula Freuler in der „NZZ“ den „optischen Einheitsbrei auf dem Büchertisch“ und lässt Tucholsky meckern:

„Neuerscheinung! Soeben erschienen! Nur ja nichts lesen, was schon länger als vier Tage aus der Druckerpresse heraus ist!“ Kurt Tucholsky hatte gut schimpfen. Wenn er bereits 1930 den Buchmarkt als „Hochflut“ bezeichnet – durch die er als Kritiker viele Bahnen zog -, gehört heute eigentlich ein Tiefsee-Tauchbrevet ins Curriculum von Literaturredaktoren.

Aber nicht nur die schiere Masse an Neuerscheinungen stört Freuler:

Wenn es nur die Flut wäre. Schlimmer ist der optische Einheitsbrei: Stöckelschuhe, Frauenbeine, Stöckelschuhe, Frauenbeine – zum Davonlaufen!

Da hatten es die Leser früherer Generationen noch besser, um auf den Artikel im „Tagesspiegel“ zu sprechen zu kommen. Schon Tucholsky lobte 1932:

Wenn ich nicht Peter Panter wäre, möchte ich Buchumschlag im Malik-Verlag sein. Dieser John Heartfield ist wirklich ein kleines Weltwunder. Was fällt ihm alles ein! Was macht er für bezaubernde Dinge. Eine seiner Fotomontagen habe ich mir rahmen lassen, und aufbewahren möchte man sich beinah alle.

Letzteres war gar nicht nötig, denn das haben andere für Tucholsky übernommen. Das Ergebnis dieser Sammelleidenschaft lässt sich nun in einem äußert umfangreichen Bildband bewundern, den der „Tagesspiegel“ in dem Artikel „Eingeschlagen, umgeschlagen“ präsentiert:

„Blickfang. Bucheinbände und Schutzumschläge Berliner Verlage 1919 – 1933“ heißt das monumentale Kompendium, das in 86 alphabetisch geordneten Kapiteln glatte 1000 Buchumschläge farbig wiedergibt und oft die Rückseiten und Buchrücken dazu.

Vielleicht lassen sich ja einige Graphiker von dem drei Kilo schweren „Erschlagewerk“ aus dem Holstein-Verlag inspirieren, damit die Prophezeiung der „NZZ“ fürs nächste Jahr vielleicht doch nicht wahr wird:

„Wir wollen nicht das Neuste lesen; wir wollen das Beste, das Bunteste, das Amüsanteste lesen.“ Die Waage, lieber Herr Tucholsky, die diese drei im Gleichgewicht hält, muss erst noch erfunden werden. Bis dahin gilt: Auf in die nächste Stöckelschuh-Saison!



Von John Heartfield gestaltetes Cover

20.8.2005

Schlichte Gedichte

Aus merkwürdigem Anlass befasst sich die „FAZ“ heute ein wenig mit Leben und Werk der Schriftstellerin und Journalistin Mascha Kaléko. In ihrem Text „Momentaufnahme eines aufgeräumten Gemüts“ erweckt Renate Schoschtak den Eindruck, als sei der Gedichtband „In meinen Träumen läutet es Sturm“ soeben neu bei DTV herausgekommen. Dem ist aber überhaupt nicht so. Die erste Auflage erschien bereits 1977, die 18. Auflage im Jahre 1998. Warum das Buch anlässlich der soundsovielten Neuauflage wieder präsentiert wird, weiß wohl nur die „FAZ“.

Davon abgesehen, versucht Schoschtak die Lyrik Kalékos in damalige Strömungen einzuordnen:

Kaleko besitzt wie die Zeitgenossen, mit denen sie in dieselbe Schublade gelegt wird – Kästner, Tucholsky, Ringelnatz, Klabund – und wie ihr großer Ahnherr Heine, was in Deutschland rar ist: Anmut, Humor, Witz.

Und warum verweigert die „FAZ“ Frau Kaléko konsequent den Akzent? So rar dürften die Häkchen in den digitalen Setzkästen noch nicht geworden sein.

Leicht verdutzt

Es ist wirklich verwunderlich, wie manche Leute mit Zitaten umgehen. Da befasst sich ein Christian Schütte in der „FTD“-Kolumne „Casual Friday“ mit den politischen Umgangsformen sowie der Frage, wann in der Politik geduzt oder gesiezt wird. Und zieht dabei in historisches Beispiel heran:

Es ist ein bisschen so wie mit der legendären KPD. Deren professionelle Umgangsformen fasste der bürgerliche Linke Kurt Tucholsky einmal in den folgenden Satz: „Schade, dass er nicht in der Partei ist – sonst könnte man ihn jetzt ausschließen.“

Warum nicht einfach das Original nehmen? Dort heißt es viel passender:

KPD. „Schade, daß Sie nicht in der Partei sind – dann könnte man Sie jetzt ausschließen!“
Peter Panter: „Schnipsel“, in: Die Weltbühne, 26.1.1932, S. 140

19.8.2005

His master’s voice

Wer wollte nicht schon immer mal gehört haben, wie Großdichter Goethe selbst den „Zauberlehrling“ aufsagte? Was bei Goethe und Schiller leider nicht möglich ist, kann bei 15.000 anderen deutschen Autoren Wirklichkeit werden. Von so vielen Schriftstellern besitzt das Deutsche Literaturarchiv in Marbach entsprechende Aufnahmen, wie die „Stuttgarter Zeitung“ in ihrer heutigen Ausgabe berichtet. Darunter seien auch einige Prominente zu finden:

Zu hören, wie Gottfried Benn oder Paul Celan ihre eigenen Gedichte vorgetragen haben, gewährt eben einen ganz anderen Zugang zu dieser schwierigen Lyrik als der gedruckte Text.

Allerdings gibt es längst nicht von allen bekannten Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts solche Aufnahmen. Auch nicht von einem, der bekanntermaßen sogar im Rundfunk aus seinen Werken vorgetragen. Eine häufige Anfrage muss Archiv-Leiter Andreas Kozlik daher immer abschlägig beantworten:

Immer wieder werde er gefragt, ob es in Marbach auch die Stimme von Kurt Tucholsky zu hören gebe, erzählt Kozlik. Doch in diesem Fall muss er die Besucher enttäuschen, da bleibt dem Literaturfreund nur das geschriebene oder gedruckte Wort.

15.8.2005

Wählende mieden Bayern

Die Verve, mit der sich ein gewisser Herr Edmund Stoiber derzeit in Regionen außerhalb seines Heimatlandes unbeliebt zu machen versucht, reizte manche Kommentatoren schon zu tiefenpsychologischen Analysen. Für den Berliner „Tagesspiegel“ forderteStephan-Andreas Casdorff außerdem:

Man sollte mal mitstenografieren, was die Leute so reden, schrieb Kurt Tucholsky. Manche tun es inzwischen. Wir lesen: Beleidigungen, Belehrungen, Beschimpfungen. Was die Politiker sich, einander und uns, dem Publikum, zumuten, ist schier unerträglich, ist eine Zumutung.

Bei Tucholskys Aufforderung handelte es sich jedoch nicht darum, die Reden von Politikern mitzuschreiben, sondern die Pseudo-Dialoge des Alltags. Denn was Herr Stoiber bei gewissen Gelegenheiten gesagt hat, ist von den Nachrichtenagenturen sogar fein säuberlich notiert worden. Wer dem gedruckten Wort nicht glaubt, kann sich sogar die Originalrede anhören und selbst „mitstenographieren“.

Was Stoiber mit seinen Beschimpfungen erreichen will, gibt den meisten Beobachtern allerdings immer noch Rätsel auf. In den zwanziger Jahren führte die ausländerfeindliche (Ausländer = Preußen und Juden) Politik der bayrischen Regierung dazu, dass Tucholsky die Kampagne „Reisende, meidet Bayern!“ ins Leben rief. So etwas will Stoiber nun bestimmt nicht wieder provozieren. Viel weniger Fantasie benötigt man, um Stoibers Ausfälle als Rache dafür zu sehen, dass 2002 viele Wähler einen bayrischen Kandidaten gemieden haben.

13.8.2005

Literarische Kneipentour

Vor einigen Wochen hat Harald Martenstein in der „Zeit“ bekannt, dass Tucholsky ihm wegen seines Alkoholproblems menschlich immer besonders nahe gestanden habe. Eine Behauptung, die wohl unter die Rubrik „dichterische Freiheit“ fallen dürfte. Vielleicht hat sich davon aber der Berliner „Tagesspiegel“, dessen Chefreporter Martenstein ist, zu einem heute erschienenen Text inspirieren lassen. Tobias Schwartz schreibt in seinem Artikel „Blaue Runde“:

Dichter trinken gut und gern. Das könnte, nüchtern betrachtet, der Grund dafür sein, dass sich Kneipen und Wirtshäuser nach Literaten benennen. Mittlerweile schreibt die Berliner Gastronomieszene regelrecht Literaturgeschichte.

Klar, dass auch das Restaurant Tucholsky an der Tucholsky-Straße erwähnt wird.

Reichlich ist die klassische Moderne vertreten: Da sind das Ringelnatz, das Tucholsky und der Brecht-Keller. Vor kurzem hat noch das Horváth eröffnet.

11.8.2005

Alte Schweden

Seit Anfang dieses Jahres ist im Norden Deutschlands eine Wanderausstellung unterwegs, die anhand von 23 Personenporträts die engen Verbindungen zwischen Schweden und Pommern in den vergangenen Jahrhunderten aufzeigen soll. Weil die Ausstellung „Unter uns / Bland oss“ vom Freitag an im Rathaus der Stadt Wismar zu sehen ist, haben einige Medien eine entsprechende Meldung der Nachrichtenagentur epd übernommen.

Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf der so genannten Schwedenzeit von 1648 bis 1815, als Vorderpommern zu Schweden gehörte. Wie es Tucholsky dennoch in die Ausstellung schaffte, erläutert der Pressetext:

Und einige Beispiele für Frauen und Männer, die das Miteinander des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt haben, beschließen die Auswahl und sollen gleichzeitig einen Ausblick auf künftige Vorhaben geben. Zu den ausgewählten Persönlichkeiten zählen u. a. Königin Christina, Carl Wilhelm Scheele, Thomas Thorild, Baltzar von Platen, Ernst Moritz Arndt, Caspar David Friedrich, Anna Amalia von Helvig, Kurt Tucholsky und Stellan Arvidson.

10.8.2005

Emotional ansprechende Zwanziger

Wie unterschiedlich zwei Rezensionen ein und desselben Produktes ausfallen können, zeigt ein Vergleich zwischen Berliner „Tagesspiegel“ und „Berliner Zeitung“, die sich beide ein neue Art von Hörbuch angeschaut haben. Die Firma Ear Books vertreibt Bildbände mit beigefügten CDs, laut Eigenwerbung ein „physisch erlebbares Produkt, das emotional anspricht. Zum attraktiven Preis“. Das neueste Werk aus diesem Hause heißt „Cabaret Berlin“ und widmet sich den Goldenden Zwanzigern in der damaligen Reichshauptstadt.

Der „Tagesspiegel“ geht vergleichsweise gutwillig mit dem Konzept um:

Die Texte der gesammelten Lieder sind so anspielungsreich wie die Tänzerinnenposen auf den Fotos und sprechen vom trotzigen Selbstbewusstsein einer Stadt, die Krieg und Not erlebt hat und deren Zukunft ungewiss ist, sodass man sich wenigstens am Abend lustvoll dem Hier und Jetzt hingibt. Da die Begleittexte leider sehr knapp sind, bleibt die Zeitreise jedoch an der Oberfläche. Was man dafür anschaulich vorgeführt bekommt, ist „die schönste Fassade einer turbulenten und tragischen Zeit“, wie Jörn Müller in der Einführung schreibt.

Carmen Böker von der „Berliner Zeitung“ lässt jedoch kein gutes Haar an der ganzen Verlagsidee:

Die „Generation Überraschungsei“ fordert selbst Verlegern einiges ab. Menschen, die in ihrer Jugend nicht schlicht mit Schokoriegeln abgespeist wurden, sondern mit einem Produkt, das auf einen Schlag „was Spannendes, was zum Spielen und was zum Naschen“ bietet – die wollen auch Bücher nicht bloß lesen. (…) Der Band „Cabaret Berlin“ sucht ebenfalls lieber Marlene Dietrich in den Kulissen des „Blauen Engels“ und die nonchalant barbusigen „Palmenmädchen“ in der Ausstattungsrevue „Die Sünden der Welt“ auf als Dada-Manifeste und Revolutionsbegehren zu behandeln. Die Fotografien von Kinopalästen und U-Bahn-Kathedralen, von schwanengleichen Damen und geschniegelten Herren sind nett anzusehen – aber es fehlen die klugen, dreisten, politischen Texte jener Zeit, die von Autoren wie Tucholsky, Brecht, Klabund, Marcellus Schiffer oder Ringelnatz für das Kabarett verfasst wurden.

Einen sprachhistorischen Lapsus erlaubt sich allerdings der „Tagesspiegel“, indem er etwas unbedarft von den Zwanzigern als einer Zeit spricht, „als Schlager noch Gassenhauer hießen“. Das kann wohl nicht recht stimmen, schrieb Tucholsky doch 1922 schon über „alte Schlager“:

Schlager sind Lieder, bestehend aus Musik und Worten, die kaum noch etwas mit ihren Autoren zu tun haben, sondern die aus der Literatur zum Gebrauchsgegenstand des Volkes oder des jeweiligen Volkskreises avanciert oder degradiert sind. Solche Lieder zum sonntäglichen Gebrauch des deutschen Bürgertums aus den Jahren 1740 bis 1840 hat Gustav Wustmann, der Schöpfer des ausgezeichneten Werkes ‚Allerhand Sprachdummheiten‘ veranstaltet, und ihre Neuausgabe liegt jetzt vor.
Peter Panter: „Alte Schlager“, in: Die Weltbühne, 1.6.1922, S. 554

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