3.1.2007

Reich, aber narzisstisch

Bei der Rezension eines Tucholsky-Abends lässt sich in der Regel schwer beurteilen, welche Behauptungen über Tucholsky auf dem Dung des Vortragenden oder der Recherche des Journalisten gewachsen sind. Unfreiwillig komisch wirken auf jeden Fall die begeisterten Passagen, die Sabine Henrichs in der Frankfurter Neuen Presse über ein Tucholsky-Programm los wird. In „Tucholsky als Selbstdarsteller in Perfektion“ berichtet sie über einen Abend mit Oliver Steller und gibt ihr frisch erworbenes Wissen zum Besten:

Seine gute Beobachtungsgabe hatte Tucholsky, der am 9. Januar 1890 geboren wurde, bereits mit seiner ersten Erzählung „Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte“ unter Beweis gestellt. Diese wurde über 120 000 Mal verkauft und ließ den Schriftsteller noch ein wenig reicher werden.

Die Betonung sollte dabei auf „wenig“ liegen. Sehr stark sogar. Denn wie schrieb Tucholsky rückblickend über den finanziellen Erfolg seines Buches:

Ich zeigte damals meinen Vertrag, den ersten, den ich in meinem Leben gemacht hatte, dem damaligen Vorsitzenden des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller. Der weinte eine halbe Stunde vor Freude und streichelte mir dann leise den Kopf. Ich weiß bis heute nicht, was er damit hat sagen wollen.
Kurt Tucholsky: „Rheinsberg“, in: Die Weltbühne, 8.12.1921, S. 579

Was Tucholsky damit meinte: Er hatte die Rechte für einen einmaligen Betrag an den Verleger Alex Juncker abgetreten und war somit an dem finanziellen Erfolg des Buches überhaupt nicht beteiligt.

Auch eine weitere Passage der Rezension liest sich sehr schön:

Immerhin hatte er mit 21 Jahren das Erbe seines sechs Jahre zuvor verstorbenen Vaters in Höhe von heute rund 400 000 Euro angetreten. Doch auch dieses Geld hatte sich irgendwann verflüchtigt und so arbeitete Tucholsky als Privatsekretär in einer großen Bank, wie Steller mit dem Tango „Ich bring’s zu nichts“ erzählte.

Diese „Verflüchtigung des Geldes“ wird häufig auch Inflation genannt, und nach dem Ersten Weltkrieg war Tucholsky sicherlich nicht der einzige in Deutschland, der davon betroffen war. Seine Abkehr vom Journalismus hatte aber auch damit zu tun, dass er 1922/1923 unter schweren Depressionen litt und keinen Sinn mehr im Schreiben erkannte. Es gibt daher auch durchaus andere Gründe als reinen Narzissmus, wenn man sich über den Sinn des Lebens Gedanken macht. Nicht so bei Henrichs:

So war Tucholsky überaus selbstverliebt. Das wurde nicht nur deutlich, als er sich über den Tod Gedanken machte und sich fragte, ob er nicht nur sich selbst, sondern auch anderen fehlen würde, wenn er gestorben sei.

In diesem Fall gehört wohl auch eine gewisse Selbstironie dazu.

29.12.2006

Sauberer Literat

Wäre es Tucholsky im Exil besser ergangen, wenn er einen guten Schutzengel gehabt hätte? Eine solche Funktion für Emigranten hatte der Schriftsteller Hermann Kesten, dem die Welt aus Anlass zweier neu aufgelegter Werke den Artikel „Schutzengel der Exilanten“ widmet.

Zwischen Kesten und Tucholsky gab es während des Exils jedoch keine Verbindungen, was auch damit zusammenhängen dürfte, dass Tucholsky schon seit Anfang der 1930er Jahre recht sicher in Schweden lebte und nur über eine Zürcher Deckadresse erreichbar war. Und als Kesten sich vom amerikanischen Exil aus für seine Schriftstellerkollegen in Europa einsetzte, war Tucholsky schon seit mehreren Jahren tot.

Dennoch taucht ein Porträt Tucholskys in der neu erschienenen Textsammlung Kestens „Meine Freunde, die Poeten“ auf. Darin heißt es, wie die Welt zitiert, über Tucholsky:

Er ist überhaupt ein Ängstlicher, aber von der Sorte, die aus lauter Furcht attackiert und im Angriff immer mutiger wird. Er war ein deutscher Patriot von der echten Sorte. Man erkennt diese am Lachen. Denn die falschen Patrioten sind feierliche Esel oder pathetische Mörder.

Wobei es einen Ausweis an gehobener Dialektik darstellt, Tucholsky, der sich im Patriotismus „von jedem übertreffen“ lassen wollte, deswegen als „echten“ deutschen Patrioten zu bezeichnen.

Kesten taucht in Tucholskys Werk dagegen nur am Rande auf, bei der Besprechung des vom damaligen Lektor des Kiepenheuer-Verlages herausgegebenen Auswahlbandes „24 neue deutsche Erzähler“:

Hm … Vielleicht wäre es gut, dieser sehr sauber gearbeiteten Anthologie den Untertitel «Stufen» zu geben. Es ist, wie wenn sich diese Autoren entsagungsvoll zu Boden geworfen hätten, damit ihre Leiber Stufen für jene bilden mögen, die da aufwärts schreiten sollen zum Parnaß. Nach ihnen. Es stehen sehr hübsche Geschichten in dem Band, es ist beinah alles gut und schön – aber ich werde das bestimmt nicht zum zweiten Mal lesen, und das ist ja eigentlich der wahre Wertmesser eines Buches.
Peter Panter: „Auf dem Nachttisch“, in: Die Weltbühne, 22.4.1930

Besonders echauffiert sich Tucholsky über die Erzählung eines damals noch recht unbekannten Schriftstellers, der sich an der Schilderung des Angestellten-Milieus versuchte:

Guter Mann, das ist gewiß sehr höhnisch gemeint. Doch der Hohn geht daneben.

Die Verbindung zwischen Tucholsky und Kesten endete jedoch nicht mit Tucholskys Tod. Kesten schrieb das Nachwort zur Autobiographie von Lisa Matthias, Tucholskys Geliebter von 1927 bis 1931 und realem Vorbild des „Lottchens“. Kestens damalige Feststellung über das Buch, die so gar nicht den Verrissen seiner Feuilleton-Kollegen entsprach, besitzt heute noch Gültigkeit:

Um die ganze Kunst von Tucholsky zu begreifen, braucht man diese Autobiographie Lottchens, samt den Urtypen, einem halben oder ganzen Dutzend Wendriners. Wer über Tucholsky schreiben will, wer ihn kennen lernen will, kann diese Autobiographie Lottchens gar nicht mehr entbehren, obgleich sie freilich ein parteiischer Bericht ist, ein subjektiv verzerrter Spiegel, und – bei aller unzweifelhaften schriftstellerischen Begabung der Autorin, bei all ihrem Mutterwitz, ihrer psychologischen Einsicht, ihrem Talent, Situationen, Menschen und Zeitläufe zu beschreiben – in keiner Hinsicht dem geliebten und zuweilen mit Liebeshaß umgangenen Gegenstand und Modell, Kurt Tucholsky, ebenbürtig ist.

22.12.2006

Weihnachten mit Liefers

„Kadima“ heißt ein jüdisch-russisches Restaurant neben der Neuen Synagoge in der Berliner Oranienburger Straße. Das Besondere an dem Restaurant ist nicht die Tatsache, dass es den Namen mit Ariel Scharons Partei (zu deutsch: Vorwärts) teilt, sondern dass es über 25 Tische mit Collagen verfügen, „die an 21 jüdische Persönlichkeiten von Albert Einstein bis Billy Wilder erinnern.“ Und außerdem: „Namhafte Künstler, Politiker und Wissenschaftler haben Patenschaften für diese jüdischen Persönlichkeiten übernommen.“

Für Kurt Tucholsky gibt es ebenfalls einen Tisch. Pate ist, wie auf einem Messingschildchen daran zu lesen, Jan Josef Liefers. Als Gerichtsmediziner Karl-Friedrich Boerne ist er vielen Fernsehzuschauern aus dem „Tatort“ aus Münster bekannt.

Zum 71. Todestag Tucholskys ließ sich Liefers im „Kadima“ blicken und las aus den Werken seines „Patenkindes“ vor. Dass er dabei zu spät kam und ohne Konzept wahllos Texte vortrug, nahmen ihm die reichlich erschienenen Zuhörer nicht übel. Das musste auch Klatschreporter Andreas Kurtz von der „Berliner Zeitung“ einräumen, wie aus seinem Text „Ein Akt der Altersvorsorge“ hervorgeht:

Die Art, wie er sie vortrug, kam an. Der Beifall geriet mehr als freundlich. Das Publikum hatte sichtlich Freude daran, von Liefers mit teils weniger populären Texten bekannt gemacht zu werden. Für den Anfang seiner Lesung hatte er eine Schmähung der Institution Familie gewählt. In den anschließenden Applaus hinein meldete sich Brigitte Rothert, pensionierte Russischlehrerin aus Dresden und Großcousine Tucholskys, zu Wort. Sie erzählte, was für eine große Verwandtschaft Tucholsky hatte – vielleicht eine Erklärung für seine geringe Wertschätzung der Familie.

Nach der Lesung war Liefers noch lange mit dem Signieren eines Buches beschäftigt. Allerdings keinem eigenen, sondern der vom Aufbau-Verlag geschäftstüchtig herausgebrachten Anthologie
„Weihnachten mit Tucholsky“. Liefers nahm’s mit Humor, wie die Zeitung bemerkte:

Die absurde Situation, dass er als Interpret das Buch des Dichters zu signieren hatte, bewältigte er dabei durch ironische Widmungen wie diese: „Ich hätte dieses Buch lieber geschrieben als gelesen!“

13.12.2006

Tucholsky zieht wieder in die Schlacht

Das hätte sich Tucholsky wohl nicht träumen lassen. Mehr als 88 Jahre, nachdem er als Feldpolizeikommissar seinen Dienst im deutschen Heer quittierte, darf er noch mal in eine Schlacht ziehen. Zum Glück in eine ganz unmilitärische, denn bei der Darmstädter Dichterschlacht geht es darum, andere lebende und tote Dichterkollegen aus dem Feld zu schlagen. Im „Darmstädter Echo“ heißt es dazu:

Vier Schauspieler der „Theaterquarantäne“ werden dafür in Kostüme schlüpfen und Lyrik und Prosa von Schiller, Tucholsky, Gertrude Stein und der 1999 verstorbenen britischen Autorin Sarah Kane vortragen. Jan Büttenbender von der „Theaterquarantäne“ wird den Abend moderieren. Vier slamerfahrene Poeten, darunter Nora Gomringer und Alex Dreppec, treten für die lebenden Dichter auf.

Vermutlich dürfte Tucholsky noch postum ganz aufgeregt sein. Denn es ist mit Sicherheit sein erster Poetry Slam. Diese Art des Dichterwettstreites wurde erst vor 20 Jahren in den USA erfunden.

10.12.2006

Um Gottes Willen, Herr Schröder

Wenn man jemanden wie Burkhard Schröder zum Chefredakteur einer Journalisten-Zeitschrift macht, darf man sich nicht wundern, dass krawallige Editorials dabei herauskommen. Die Ausgabe 8/2006 des Berliner Journalisten widmet sich dem Thema Religion. Gleich zu Beginn stellt Schröder klar, warum sich die Lektüre der folgenden Beiträge eigentlich nicht mehr lohnt. Bei Religion handele es sich schließlich um

Aberglauben und mehr oder minder primitive Magie (…) Religion und Aberglauben sind zwar Privatsache, aber wer die Existenz eines Jahwe, Gott, Allah oder Manitou für wahr hält, kann auch gleich den Wetterbericht nach der Tagesschau durch einen Regenzauber aus Neu-Guinea ersetzen. (…) Aus der Perspektive eines Atheisten ist der weltanschauliche Unterschied zwischen Joseph Alois Ratzinger alias Benedikt XVI., dem Scientologen Ron Hubbard, einem Schamanen der Apachen und einem Präses der Evangelischen nur marginal.

Das mag aus der Sicht eines Atheisten tatsächlich stimmen. Schröder geht jedoch weiter und behauptet, dass es auch für jeden Journalisten stimmt. Stimmen muss. Denn es sei verlogen

religiös zu sein und etwa über die Karikaturen Mohammeds in den Medien zu räsonieren, ohne im Abspann zuzugeben, dass man an absurde Dogmen glaubt wie etwa die Wiedergeburt eines Gottessohnes oder die zu erwartende Wiederkunft eines Messias.

Schröder gibt seinen Kollegen daher den wohlmeinenden Rat:

Für Journalisten gilt daher der immer noch aktuelle Aufruf Kurt Tucholskys: „Tretet aus der Kirche aus. Tretet aus der Kirche aus. Tretet aus der Kirche aus.“

Tucholsky mag seine Gründe gehabt haben, 1914 aus dem Judentum aus-, 1918 in die evangelische Kirche ein- und aus dieser irgendwann wieder auszutreten, wobei letzteres biographisch nicht belegt ist. Einige der Gründe gehen aus dem Text „Auch eine Urteilsbegründung“ hervor, aus dem das Zitat entnommen ist.

Aber ist es tatsächlich „eine Frage der Berufsehre“, wie Schröder sein Editorial überschrieben hat, kein Mitglied einer Religionsgemeinschaft zu sein, um distanziert über einen Papstbesuch in Deutschland schreiben zu können? Darf ein Journalist, der über den Telekommunikationsmarkt schreibt, kein Telefon irgendeiner Telefongesellschaft besitzen? Kein Wunder Zufall, dass sich ein christliches Medienmagazin über diese Thesen echauffiert. Aber wie naiv muss Schröder eigentlich sein, um zu glauben denken, die Medien würden aus eigener Religiosität auf den religiösen Zug aufspringen? Indem er die berechtigte Kritik an dem pseudoreligiösen Papst-Hype mit seiner ebenso ideologischen wie überzogenen Forderung verbindet, tut er seinem eigenen Anliegen keinen Gefallen.

Dass nur noch sehr wenige Menschen an die tradierten Dogmen glauben, ist der Kirche selbst schmerzlich bewusst. Und warum jemand letztlich aus der Kirche austritt, hat in den seltensten Fällen etwas mit religiöser Überzeugung zu tun. „Ich bin im Jahre 1911 ‚aus dem Judentum ausgetreten‘, und ich weiß, daß man das gar nicht kann“, schrieb Tucholsky in seinem Brief an Arnold Zweig“. Woran jemand glaubt und zu was er sich zugehörig fühlt, hängt nicht von einer Eintragung auf der Steuerkarte ab.

Einen bemerkenswerten Satz hat Schröder aber dennoch in seinem Editorial geschrieben:

Natürlich gibt es dumme Journalisten. Klugheit wird in diesem Beruf nicht vorausgesetzt.

7.8.2006

Berliner wählt! Berliner wählt!

Was kann man von einem Wahlplakat mehr erwarten, als dass es von den Medien ausgiebig rezipiert wird? In diesem Sinne lässt sich behaupten, dass die Berliner PDS durchaus Erfolg mit Wahl ihres Slogans hatte, mit dem sie vor der Abgeordnetenhauswahl vom 17. September um Wählerstimmen wirbt. Denn ihr Spruch wurde von den Berliner Zeitungen mehrfach zum Anlass genommen, sich inhaltlich damit auseinanderzusetzen. Wenn auch eher kritisch. Wie die PDS das geschafft hat? Sie hat einfach folgendes Tucholsky-Zitat genommen und groß auf ihre roten Plakate drucken lassen:

… für diese Stadt, in der immerhin Bewegung ist und Kraft und pulsierendes rotes Blut. Für Berlin.

Auf der Pressekonferenz, bei der die Partei das Plakat vorstellte, wurde immerhin der Originaltext „Berlin! Berlin!“ verteilt. Die Vertreter der verantwortlichen Werbeagentur konnten allerdings nicht eindeutig die Frage der Journalisten klären, ob der Text denn rechtlich überhaupt zu diesem Zweck verwendet werden dürfe. Dabei lautet die Antwort doch ganz einfach: Ja. Dies ging auch aus einer Meldung der Nachrichtenagentur ddp hervor, die weitestgehend in der taz abgedruckt wurde.

In derselben Ausgabe ging auch Gereon Asmuth in einem Kommentar der Frage nach, was denn der Tucholsky-Slogan mit der PDS zu tun habe:

Es bleibt ein irgendwie linker, vor allem aber längerer Slogan, als ihn die anderen Parteien bieten. Und das Gefühl, die PDS trauere alten Zeiten mit klaren Fronten nach. Immerhin wird der Wähler verleitet, mal wieder Tucholsky zu lesen. Viel mehr kann man von einem Wahlplakat kaum erwarten.

Zur Tucholsky-Lektüre fühlte sich offenbar auch Wiebke Hollersen von der Berliner Zeitung bemüßigt. Und in ihre Schulzeit versetzt:

Was will uns der Autor damit sagen? Es könnte eine Aufgabe aus der Abiturklausur sein. Der Prüfling müsste einbringen, was er über Kurt Tucholsky, den Autor der Aussage, gelernt hat, und auch etwas über die gesamtgesellschaftliche Situation im Entstehungsjahr des Zitats 1927.

schlägt Hollersen in ihrem Text „Wir grüßen uns kaum“ vor. Ihr Resümee:

Zumindest, dass es ihn nicht kümmert, dereinst klar gedeutet werden zu können. Dass sein Essay für Abiturklausuren eher nicht taugt. Für Wahlplakate vielleicht schon – aus demselben Grund.

Das sehen andere wiederum anders. Der Tagesspiegel hat zum Beispiel einen Experten die Wahlplakate der Berliner Parteien beurteilen lassen. Dabei kommt die PDS nicht so gut weg:

Die Linke verspricht, wie auch CDU und FDP, etwas „für Berlin“ zu tun. Statt konkrete Ziele zu nennen, benutzt sie ein Zitat von Kurt Tucholsky. Das ist ungewöhnlich. Man setzt auf das Pathos der roten Stadt, in der das rote Blut kraftvoll pulsiert. Die Metapher wirkt feierlich, will emotionalisieren. […] Das Zitat wirkt zu abgehoben. Freigeister und Intellektuelle mag es ansprechen, aber es bleibt unkonkret, da von jeder Programmatik abstrahiert wird. Tucholsky attestiert Berlin lediglich, dass „immerhin“ Bewegung und Kraft vorhanden sei.

Der vom Tagesspiegel befragte Berliner Werbepsychologe Alexander Schimansky ist nicht der einzige, der allen Ernstes glaubt, dass die PDS mit dem Plakat die Wählerstimmen von „Intellektuellen“ gewinnen könnte. Auch die taz machte sich zu diesem Thema Gedanken und interviewte den Politologen Gero Neugebauer, der lamentierte:

Schauen Sie sich doch um: Es gibt in Berlin noch keinen wirklichen Wahlkampf. Was hier läuft, kann man doch nicht Mobilisierung nennen. Die eine Partei bildet ihre Kandidaten ab wie Sardinen in Senfsoße, die andere plakatiert originell gemeinte Zitate. Ein Spruch von Tucholsky interessiert vielleicht 635 Kenner, mehr aber nicht.

Hm, meint Herr Neugebauer das im Ernst? Oder: was meint er überhaupt? Dass die 635 Berliner Tucholsky-Kenner wegen des Plakates plötzlich anfangen, auf dem Alexanderplatz PDS-Fähnchen zu schwenken? Und aus lauter Plaisier am 17. September der früheren SED ihre Stimme geben? Vermutlich hat das einzig wahre Wort in dieser Causa der Taxifahrer Kasupke von der Berliner Morgenpost gesprochen. Wie sagte er doch in seiner Kolumne zu recht:

… und die PDS schmückt sich mit nem Spruch von Tucholsky. Der is lang tot und kann sich nich wehren.

29.5.2006

Das Gegenteil von Adof


„Ist Kurt Tucholsky noch der Größte?“
titelt Michael Angele heute in der Netzeitung. Anlass für diese Frage, die nur rhetorisch gemeint sein kann, ist eine „Neuausgabe“ des „Deutschland, Deutschland über alles“-Buches. Als „Die beste Kritik zur Lage der Nation“ hat Herausgeber Timo Rieg diese Ausgabe bezeichnet.

Eine Behauptung, die Angele anhand der Originaltexte überprüfen möchte. Dabei kommt er zu dem wohl naheliegenden Schluss, dass sich seit den Zeiten Tucholskys viel verändert hat:

Nicht nur im deutschen Verkehr. Auch das Verhältnis zu Militarismus und Obrigkeit ist ein anderes geworden, die „Beamtenpest“ scheint nicht mehr unbesiegbar, die Presse mag gegängelt werden, die Justiz sich irren, die selben sind sie nicht mehr. Nein, was bleibt, ist eine einmalige, unverkennbare Stimme, die über die Zeiten hinweg aus den Texten von „Deutschland, Deutschland über alles“ spricht.

Um diese Stimme zu beschreiben, bedient sich Angele einer eleganten Methode:

Sie enthält alles, was dieser fehlt:

„Manchmal überbrüllt er sich, dann kotzt er. Aber sonst nichts: nichts, nichts, nichts. Keine Spannung, keine Höhepunkte, er packt mich nicht (…). Kein Humor, keine Wärme, kein Feuer, – nichts.“

Wer mit dieser Beschreibung gemeint ist, steht hier. An Tucholskys Einschätzung hat sich auch durch Bruno Ganz hoffentlich nichts geändert.

Das Eine-Million-Euro-Gedicht

Diese Frage war aber wirklich schwer. Von wem stammen die Verse „Der Fußballwahn ist eine Krankheit, aber selten, Gott sei Dank!“ wurde Günther Jauch am Samstag in seiner eigenen Show gefragt. War es A: Kurt Tucholsky, B: Erich Kästner, C: Heinz Erhardt oder D: Joachim Ringelnatz? Die richtige Antwort steht hier. Da Jauch sie nicht wusste, riskierte er lieber nicht die auf dem Spiel stehenden 500.000 Euro und ließ sie direkt der Deutschen AIDS-Stiftung zukommen.

Ernsthaft in die Auswahl wären als Antworten wohl nur C und D gekommen. Denn Kästner reimte irgendwie anders, und Tucholsky hat sich offenbar so wenig für Fußball interessiert, dass der Sport ihm nicht einmal ein kritisches Gedicht wert war. So schrieb er 1932 von Wien aus an seine Freundin Hedwig Müller:

Was da so brüllt, sind die Zuschauer eines Fußballmatches in der Nähe. Wofür sich die Leute so begeistern können, wie?

Wobei an der richtigen Antwort D wiederum erstaunt, dass der Autor des Gedichtes schon 1934 gestorben ist. Was lange wahnt, wird nicht immer gut.

28.5.2006

Tucholsky rockt

Nach etlichen anderen Medien hat sich auch die „Frankfurter Rundschau“ jüngst einmal im brandenburgischen Städtchen Rheinsberg umgeschaut. Harry Nutt sah dort nicht nur „Gespenster im Schlosspark“, sondern traf sich offenbar auch mit Peter Böthig, dem Leiter des dortigen Tucholsky-Museums. Der berichtete von interessanten Projekten:

Zusammen mit einer mobilen Jugendpflegerin plant er eine Veranstaltung unter dem Titel „Tucholsky rockt“. Junge Leute sollen sich mit der Tradition des politischen Pazifisten Kurt Tucholsky identifizieren können.

Was es damit auf sich haben könnte, geht aus dem Text leider nicht hervor. Zwar wurden Tucholskys Couplets und Gedichte sehr häufig vertont, aber dass die Rockmusik den „politischen Pazifisten Kurt Tucholsky“ für sich entdeckt hat, war außerhalb Rheinsbergs bislang wenig bekannt. Vielleicht handelt es sich dabei aber auch nur um ein sprachliches Problem. Denn wie schreibt Nutt:

Reisewarnung, No-Go-Area, Menschen mit Migrationshintergrund … . Das öffentliche Sprechen befindet sich in einem Formulierungsnotstand. Vorsicht, Reisende. Sie verlassen jetzt den semantischen Sektor. Gehen Sie nicht weiter. Don’t go.

30.4.2006

Die ganze Empfehle

Der Benimmonkel der Zeit wurde diese Woche mit einer Frage behelligt, die wohl jeder gerne für beantwortet hätte. Wie halte ich eine gute Rede? Was im dargestellten Falle noch dadurch verschärft wird, dass ein 21-jähriger Enkel eine Tischrede zum 85. Geburtstag seines Großvaters halten soll. Michael Allmeier beantwortet die „Geschmacksfrage“ in seinem Text „Das ganze Gerede“ natürlich sehr pädagogisch, und wird am Ende dann doch etwas konkreteter:

Wenn Sie sich vorbereiten wollen, lesen Sie Tucholskys Ratschläge für einen schlechten Redner. Die sind fast so alt wie Ihr Großvater, aber noch immer unerreicht. Da geht es darum, wie man lernt, schlecht zu reden. Natürlich nur, damit man nicht auf den schlechten Rat hört und das Gegenteil macht. Mit so einem einfachen Dreh macht Tucholsky das dröge Thema lustig. Sicher fällt Ihnen für Ihre Rede auch so etwas ein.

Und wenn die Zeit das schon meint, sollten die „Ratschläge für einen schlechten Redner“ niemandem vorenthalten werden.

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