31.10.2007

Zwei neue Jünger

Fast 1400 Seiten musste Stephan Reinhardt bewältigen, um für den Deutschlandfunk zwei soeben erschienene Biografien über Ernst Jünger zu rezensieren. Zwar seien beide recht unterschiedlich geschrieben, heißt es in dem Text, doch sei beiden gemein,

dass sie den 1895 geborenen und 1998 im Alter von 102 Jahren an Herzschwäche gestorbenen Ernst Jünger auf ein Podest stellen. Trotz gelegentlicher Einwände ist Jünger für sie eine unverrückbare Zentralgestalt der europäischen Moderne.

Besonders missfällt Reinhardt, dass die Biografen Jüngers militanten Nationalismus lediglich mit dem Versailler Vertrag zu erklären versuchen und seinen Antiparlamentarismus mit der Kritik der Weltbühne an der Weimarer Republik auf eine Stufe stellen.

Es schmerzt regelrecht, wenn Kiesel, der den „republikfeindlichen Antiparlamentarismus“ Jüngers erklären will, dabei pazifistische Schriftsteller wie Tucholsky und Ossietzky zu radikalen Republikfeinden stempelt. Dabei hängt er sich an Riccardo Bavajs oberflächliche Studie „Von links gegen Weimar“ an. Das ist so unredlich wie falsch. Denn Jüngers Gegenspieler Tucholsky und Ossietzky waren gewiss Kritiker des Parlamentarismus, im Zweifelsfalle aber war ihnen die Demokratie das Wichtigste. Natürlich wussten sie, dass in ihr Menschen- und Freiheitsrechte eher geschützt werden als in Diktaturen.

Diese Einschätzung ist sicher nicht ganz unzutreffend. Vor allem aber kritisierten Tucholsky und Ossietzky die Weimarer Regierungen dafür, dass diese die antidemokratischen und antirepublikanischen Bestrebungen der Reaktion nicht scharf genug bekämpften und somit Frieden und Demokratie in Gefahr brachten. Den Vorwurf eines solch gearteten „Antiparlamentarismus“ kann man Jünger sicherlich nicht machen.

23.10.2007

„Der Krieg ist aber unter allen Umständen tief unsittlich“

Wie gut, dass es noch Menschen wie George W. Bush und Dick Cheney gibt. Sonst hätte man sich als Veranstalter vielleicht noch Sorgen darüber machen müssen, dass eine Tagung, die sich mit dem Pazifisten und Antimilitaristen Kurt Tucholsky beschäftigt, gar nicht mehr zeitgemäß ist.

Wie gut, dass es noch Zeitungen wie die Junge Welt gibt. Sonst hätte überhaupt kein Medium von besagter Tagung Kenntnis genommen, obwohl, – Bush und Cheney sei Dank -, sie an Aktualität leider nichts zu wünschen übrig ließ.

So versucht Autorin Doreen Hoffmann in ihrem Artikel „Zuviel Gehorsam“ denn auch, die aktuellen Aspekte der Vorträge und Diskussionen hervorzuheben. Etwas merkwürdig klingen dabei ihre Passagen zu einem Vortrag der Juristin und Uni-Mitarbeiterin Ursula Blanke-Kießling, die über ihre Dissertation zum Staatsverständnis bei Tucholsky vortrug. Woraus bei Hoffmann eine „Staatsdienerin“ wurde, die „sich mit dem Verhältnis von Dichtkunst und Staat aus rechtswissenschaftlicher Sicht beschäftigte“. Dass Blanke-Kießling die rhetorische Frage stellte, was im Vergleich zur Weimarer Republik denn von Tucholskys Kritik heutzutage noch gültig sei, stößt in der Jungen Welt natürlich auf wenig Verständnis. Schließlich leben wir „in den Zeiten der neoimperialistischen Weltordnungskriege“. Siehe ganz oben.

Die Wiedergabe der Podiumsdiskussion bleibt dem selben Duktus verhaftet. Was von wem genau gesagt wurde, soll sich im kommenden Jahr in einer geplanten Tagungsdokumentation nachlesen lassen.

Nicht solange muss man wohl auf die Dokumentation der Reden warten, die auf der Verleihung des Tucholsky-Preises im Deutschen Theater gehalten wurden. Auch in diesem Fall sei zunächst der Jungen Welt gedankt, die sich die Ehrung ihres Autors Otto Köhler nicht entgehen ließ, dabei aber Mitpreisträger Lothar Kusche ebenfalls gebührend zur Kenntnis nahm. Sehr anschaulich schildert Thomas Wagner in seinem Text „Auf der Zigarrenkiste“ vor allem den Auftritt der Laudatorin Gisela May. Was er von der Rede Köhlers schreibt, macht ebenfalls neugierig:

Wie die neue Konstellation entstand, unter denen die BRD durch den nach Adolf Hitler zweiten deutschen Kriegskanzler Gerhard Schröder und seine willigen Helfer Rudolf Scharping und Joseph Fischer wieder kriegstüchtig gemacht wurde, zeigte Otto Köhler in seiner blendend formulierten und im scharfen Ton gehaltenen Dankesrede auf. „Mit dem Ausruf ‚Nie-wieder-Ausschwitz‘ stürzten wir uns in den Krieg.“

Wie schön, dass die Junge Welt solche Autoren hat.

Nachtrag 26.10.: In der Wochenzeitung Freitag ist Köhlers Rede in gekürzter Form abgedruckt.

7.10.2007

Antiquierte Reaktion

Eine kleine Zeitungsrevolution bedeutet die Tatsache, dass die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ seit dem 5. Oktober täglich ein Foto auf ihrer Titelseite zeigt. Doch nicht nur das: Auch die altehrwürdige Frakturschrift über den kaum moderneren Kommentaren musste verschwinden. Warum, erläuterte Mitherausgeber Werner D’Inka in seinem Leitartikel wie folgt:

Offenkundig ist die Fraktur vielen Lesern, beileibe nicht nur den jüngeren, über die Jahre fremd geworden.

Eine interessante Feststellung. Sie klingt danach, als hätten sich seit den 80er Jahren – oder auch erst durch das frakturlose Internet – völlig neue Trends in der Typographie ergeben.

Manche Leute hatten allerdings schon etwas früher ihre Probleme mit der gebrochenen Schrift:

Mich hat neulich in der „Neuen Bücherschau“ Artur Rudolf rechtens darauf aufmerksam gemacht, ich solle meine Bücher lieber in Antiqua setzen lassen, obgleich doch diese Sammelbände nicht grade vom Ausland verschlungen werden, und in einem Brief hat mir Herr Rudolf meine alte Liebe zur Fraktur mit so kräftigen Argumenten erschüttert, daß ich sehr in mich gegangen bin. Die Fraktur deckt sich heute so recht mit der Reaktion, sagte er; sie will in der Welt und der Welt gegenüber etwas Besondres sein…

… schrieb Tucholsky in seiner Bücherrubrik „Auf dem Nachttisch“ am 18. Juni 1929.

Wie beruhigend, dass D’Inkas Kommentar die frakturlose Überschrift trägt: „Wir bleiben uns treu“

6.9.2007

Tucholsky-Preis 2007 an Lothar Kusche und Otto Köhler

Stell Dir vor, es ist Tucholsky-Preis und niemand meldet es.

Das Medienecho auf die Vergabe des diesjährigen Tucholsky-Preises für literarische Publizistik an den Satiriker Lothar Kusche und den Journalisten Otto Köhler war wirklich sehr bescheiden. Wobei verschiedene ostdeutsche Regionalzeitungen, die Google-News nicht aufführt, ebenfalls eine kurze Meldung brachten.

Liegt es an Tucholsky? An der der geringen Dotierung (3000 Euro)? Oder auch daran, dass die Preisträger Lothar Kusche und Otto Köhler bei der jüngeren Generation verhältnismäßig unbekannt sind? Dabei wurden dieses Mal mit Bedacht ein ostdeutscher und ein westdeutscher Autor gemeinsam geehrt. Was ausgerechnet das Neue Deutschland (ND) zu der Bemerkung veranlasste:

ND-Autor Otto Köhler, Verfasser wichtiger Bücher über verdrängte NS-Vergangenheit und die Täter, erhält den Tucholsky-Preis 2007 – gemeinsam mit Lothar Kusche. Er (beide) hätte(n) einen ganzen Preis verdient.

Vielleicht ist diese geringe Resonanz ein weiteres Argument dafür, ernsthaft über die Zukunft des Tucholsky-Preises nachzudenken. Was durchaus im Sinne des Namensgebers liegen dürfte. Denn wie antwortete dieser 1931 auf eine Rundfrage der polnischen Zeitschrift Pologne Littéraire zu einer Initiative des polnischen PEN-Clubs, wonach der Völkerbund aufgefordert werden sollte, die Stiftung eines Literaturpreises einzurichten:

Je me permets de vous faire savoir que je suis par principe un adversaire de tout prix littéraire.
Auf Deutsch:
Ich erlaube mir Ihnen mitzuteilen, daß ich aus Prinzip ein Gegner aller Literaturpreise bin.
Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Bd. 14, S. 429.

Was niemanden davon abhalten sollte, Kusche (links) und Köhler herzlich zu dem Preis zu gratulieren.


(Fotos: Privat)

23.8.2007

Kommissarin mit Tucholsky ertappt

„Außen rot und innen …“ heißt das Tucholsky-Programm mit Hannelore „Bella Block“ Hoger, Dietmar Mues und Joachim Kuntzsch, das in diesen Tagen in Berlin gespielt wird. Die (Berliner) Presse zeigte sich zufrieden.

„Der Tagesspiegel“ schreibt:

Das Vergnügen, nach langer Zeit mal wieder die rothaarige Charakterschauspielerin aus Hamburg an der Spree auf einer Bühne zu sehen, war gleichzeitig mit der herzhaft aufgefrischten Erinnerung an einen großen Berliner verbunden. Ist der Abend mit Rezitation und Gesang doch Kurt Tucholsky gewidmet, der am 9. Januar 1890 in der Lübecker Straße geboren wurde und am 21. Dezember 1935 seinem Leben im Exil in Göteborg ein Ende setzte, weil ihm ‚der Grund zu kämpfen, die Brücke, das innere Glied, die raison d’être fehlte‘.

Bei „Zeit-online“ heißt es, mithilfe von dpa:

Hannelore Hogers liebt Kurt Tucholsky – und das Publikum liebte Hannelore Hoger. Bei der Premiere ihres Tucholsky-Abends im Berliner Theater am Kurfürstendamm zeigten sich die Zuschauer am vergangenen Abend von der Theater- und Fernsehschauspielerin begeistert.

Dem „taz“-Rezensenten Jörg Sundermeier gefiel allerdings der erste Teil des Abends nicht besonders,

denn man ist es nicht mehr gewohnt, in dem edlen ehemaligen Reinhardt-Theater am Kudamm dümmliches Boulevardtheater zu sehen.

Was auch daran gelegen haben mag, dass Sundermeier nicht alle Texte richtig verstanden hat:

Schon als Dietmar Mues zuvor einen Text über die Unterschiede zwischen den Menschen vortrug und sich in den Satz „Der Mann will nicht denken …“ gesteigert hatte, lachten auch die meisten Frauen im Publikum. Den Satz „… die Frau kann nicht denken“ sprachen dann sogar einige Eifrige mit.

Soweit damit dieser Tucholsky-Text gemeint ist, geht es darin weniger um die Unterschiede, als um das Gemeinsame, das die Menschen verbindet.

Mit dem zweiten Teil des Abends konnte Sundermeier dagegen zufriedengestellt werden:

„Doch im zweiten Teil haben sich die Mues, Hoger und der singende Professor Kuntzsch ganz offensichtlich auf den weitaus besseren Teil des Tucholskyschen Werks besonnen, und nun geben sie dem Publikum, dass sie in der ersten Hälfte mit billigen Witzen angeheizt haben, was es braucht und eigentlich nicht gewollt hat: den politischen Tucholsky, bei dem es nicht mehr um dumme Frauen und geile Herren geht (…).“

Noch bis 26. August ist das Programm „Außen rot und innen …“ im Theater am Kurfürstendamm zu sehen.

8.8.2007

Bahnstreik vor Gericht ohne Tucholsky

Bei Kurt Tucholsky verlor die Richterin die Geduld. Das Gedicht über die „Eisenbahner“ durfte Ulrich Fischer vor dem Arbeitsgericht Frankfurt nicht mehr vortragen. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte der Rechtsanwalt der Gewerkschaft der Lokführer das Gericht, die Vertreter der Deutschen Bahn und diverse Journalisten schon mehrere Stunden in Atem gehalten mit seinen Ausführungen zum Arbeitskampf seiner Mandanten.

Heißt es in der FAZ. Und man wundert sich natürlich, dass nach atemraubenden Ausführungen eines lebenden Juristen die Worte eines profilierten toten eher als weitere Anstrengung denn als Entspannung gesehen werden – zumindest von der Journalistin Melanie Amann.

Doch bevor sich nun die engagierte FAZ-Leserschaft selbst an ihr Tucholsky-Bücherregal begibt und Fischer möglicherweise dadurch missversteht, dass sie den Text „Eisenbahner“ von 1930 statt den von Fischer vorzutragen beabsichtigten „Eisenbahnerstreik“ von 1922 liest, sei er hiermit dargebracht:


Eisenbahnerstreik

Unnötig.
Aber ohne jedes Recht.
Die Frau, die Kinder wollen Schuhe.
Wißt ihr, wie solcher Dienst den Körper schwächt?
Tag-, Nachtschicht und das bißchen Ruhe.

Ja, standet ihr schon mal am Führerstand?
Der Kessel glüht – es ziehn die Winde.
Heiß-kalt, kalt-heiß wird seine Führerhand . . .
Wo ist sein Sinn! Bei seinem Kinde?

Wo ist sein Sinn? Die Augen spähn: »Fahrt frei!«
Er darf nicht einen Griff versäumen.
Er sieht das Vorsignal und Weiche III –
Ihr könnt auf weichen Polstern träumen,

Wollt ihr nicht sichere Fahrt durch euer Land?
Wie soll der Dienst tun mit den Sorgen?
Zweihundert Leben in der einen Hand –
und dieser Hand will keiner, keiner borgen?

Er hats nicht leicht der Mann vom Flügelrad.
Stets droht der Tod. Er soll nicht ein Mal fehlen.
Ihr tuts für euch. Macht seine Kinder satt!
Wer fünf Milliarden für die Reichswehr hat:
der darf uns nichts von Sparsamkeit erzählen!

Autorenangabe: Theobald Tiger
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 09.02.1922, Nr. 6, S. 149

6.8.2007

Die falsche Frage

In der Berliner Zeitung steigt Thomas H. Wendel in einen Kommentar mit dem Zitat ein:

Wo bleibt das Positive? Diese Frage hat den Satiriker Kurt Tucholsky schon zu Zeiten der Weimarer Republik umgetrieben. Leider ist er selten fündig geworden.

Mit letzterer Aussage hat Wendel durchaus recht. Aber vielleicht lag es auch daran, dass sich der Autor von „Wir Negativen“ diese Frage zu selten stellte. Denn sie stammt mitnichten von Tucholsky, sondern findet sich in dem Gedichtband Erich Kästners Ein Mann gibt Auskunft, erschienen 1930. Eines der Gedichte lautet: „Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner?“ Tucholskys Antwort auf die Frage:

Der „Kurzgefaßte Lebenslauf“ ist ehrlich; es ist auch ehrlich, in dem unsereinem aufs Fell geschriebenen Gedicht „Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner?“ zu sagen, daß wir ein Weltbild nicht aus dem Boden stampfen können und zunächst nur wissen: Also dieses da nicht.
Peter Panter: „Auf dem Nachttisch“, in: Die Weltbühne, 9.12.1930, S. 859f.

3.8.2007

Déjà-vu in Berlin-Mitte

Manchmal kann es passieren, dass einem Dinge, die man schon mal irgendwo in einem Buch gesehen hat, ganz unvermutet in der Realität begegnen. Eher selten geschieht dies wohl mit Dingen aus Büchern, die schon ein paar Jahre auf dem Buckel haben, so zum Beispiel Tucholskys Deutschland, Deutschland über alles, erschienen 1929. Darin wird auf Seite 52 gefragt: „Wo steckt Deutschlands Geld?“ Und neben Bildern von Soldaten in Manövern, Panzerattrappen, einem reich gedeckten Tisch und einer Luxus-Boutique ist auf Seite 54 auch folgendes Gebäude zu sehen:

In der Tucholsky-Gesamtausgabe wird der Ort der Aufnahme nicht genannt, da er für das Verständnis des Textes auch nicht von Bedeutung ist.

Fährt man jedoch 80 Jahre später in Berlin-Mitte durch die Französische Straße in Richtung Mauerstraße, muss man einen auffälligen Bogen unterqueren:


Wo immer Deutschlands Geld heutzutage stecken mag, in der Berliner Mauerstraße offenbar nicht mehr. Die Gebäude rechts und links des Bogens gehören übrigens zum Bundeslandwirtschaftsministerium.

In der Gegend Unter den Linden / Behrenstraße fanden sich vor dem Kriege dagegen noch viele repräsentative Bankgebäude, unter anderem die Zentrale der Deutschen Bank. Dass darin wirklich Geld gesteckt haben muss, zeigt ein Text aus der Weltbühne von 1922:

Unter den Schilderungen, die die ausländische Presse in reichlichem Maße von Berlin entwirft, nehmen die Bankbauten unter den Linden und in der Behren-Straße stets einen hervorragenden Platz ein. Man kann es den Fremden nicht verdenken, wenn ihnen beim Anblick dieser Pracht- und Monstrebauten leise Zweifel an der deutschen Not kommen.
Morus: „Schiffe, Preise, Banken“, in: „Die Weltbühne“, 20.11.1922, S. 580

2.8.2007

Nicht sein Sylt

Die Süddeutsche Zeitung hat sich das neue Buch von Fritz J. Raddatz angeschaut, in dem er „sein Sylt“ besingen soll. In ihrer Rezension stellt Regine Leitenstern fest:

Im Duktus mal fröhlich heiter, mal melancholisch wehmütig, mal bissig sarkastisch webt Raddatz einen bunten Teppich aus historischen Fakten, persönlichen Erinnerungen und Anekdoten sowie literarischen Zeugnissen berühmter Schriftstellerkollegen wie Thomas Mann, Kurt Tucholsky oder Max Frisch, die wie er der Insel verfallen waren.

Da scheint die Rezensentin aber etwas durcheinander geworfen zu haben. Wie heißt es in Raddatz‘ Buch:

„Sylt ist tausendmal schöner als Wangeroog“, schreibt schon Siegfried Jacobsohn 1920 an Kurt Tucholsky, „und ebenso viel mal mehr Nordsee“; und nach einem Besuch Thomas Manns in seinem Haus in Kampen schreibt der Kritiker, der sommers seine „Weltbühne“ von hier aus redigierte: „Tatsächlich hat ja Westeuropa zwischen Hammerfest und Gibraltar nicht ihresgleichen“ über die Insel, der er „Sonne und Seligkeit“ verdankt; schon die Anreise – damals noch per Schiff – versetzt den gewieften Berliner in eine Art Taumel: „Für die Überfahrt übers Wattenmeer geb ich das ganze Engadin hin und bin meines Handels froh. Ich bin so berauscht, daß ich keine drei Minuten fest auf dem Stuhl sitzen kann.“

Vom Empfänger des Briefes, der während Jacobsohns monatelanger Sommerfrische die Manuskripte nach Potsdam zur Druckerei bringen durfte, ist hingegen nicht bekannt, dass er jemals das Schiff nach Sylt bestiegen hätte. Und einen Hindenburg-Damm hätte Tucholsky wohl aus Prinzip nicht benutzt.

22.7.2007

Improvisiertes Lob

Die Süddeutsche Zeitung hat Tucholskys Sommergeschichte „Schloß Gripsholm“ als Band 64 ihrer SZ-Bibliothek aufgelegt. Kein Wunder, dass Gottfried Knapp am Ende seiner Rezension lobt:

Danach trudelt das Geschehen in jener Ferien-Entspanntheit aus, die so ansteckend ist, ja süchtig macht. Als Leser jedenfalls glaubt man am Ende der Lektüre aus einem langen Urlaub zurückzukehren. „Schloss Gripsholm“ hat darum einen Stammplatz in allen Ferienkoffern verdient.

Was der Architekturkritiker Knapp hingegen am Anfang seines Artikels verbreitet, lässt sich auch mit Marketing nicht entschuldigen:

Was passiert, wenn ein bekannter Schriftsteller Urlaub von der Tagesarbeit macht? Dann kann im Idealfall eine so wunderbar locker improvisierte „Sommergeschichte“ zustande kommen, wie sie dem Satiriker Kurt Tucholsky im Jahr 1931 nach anfangs heftigem Widerstand in den Ferien quasi unterlaufen ist. (…) Rowohlt wünscht sich eine Liebesgeschichte vom Meister der anrüchigen Lyrik; Tucholsky aber weist das Ansinnen mit privat-autobiografischen Gründen von sich – um am Ende des Sommers mit einem privat-autobiografischen Manuskript zurückkehren (…).

Da ist also dem „Meister der anrüchigen Lyrik“ das „locker improvisierte“ Manuskript „quasi unterlaufen“, er hat es neben schmutziger Wäsche und Schweden-Souvenirs wohl zufällig in seinem Koffer gefunden und dann an Rowohlt geschickt.

Nun ist aber der Briefwechsel mit Rowohlt ebenso fiktiv wie der gesamte Rest der Geschichte. Zumindest, wenn man dem Autor in dieser Sache glauben möchte:

In den langen Wintermonaten, in denen ich mich mit ›Gripsholm‹ beschäftigt habe, hat mir nichts soviel Mühe gemacht, wie diesen Ton des wahren Erlebnisses zu finden. Außer einem etwas vagen Modell zum Karlchen und der Tatsache, daß es wirklich ein Schloß Gripsholm gibt, in dem ich nie gewohnt habe, ist so ziemlich alles in dieser Geschichte erfunden: vom Briefwechsel mit Rowohlt an bis zur (leider! leider!) Lydia, die es nun aber gar nicht gibt. Ja, es ist sehr schade.
(Brief an Alfred Stern vom 6. Mai 1931)

Wer sich von der offenbar „locker improvisierten“ Rezension davon abschrecken lässt, den SZ-Band für 5,90 Euro zu kaufen, hat noch eine günstigere Möglichkeit: Die Geschichte steht hier komplett online.

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