9.11.2008

Erinnerung an eine Unvollendete

Um die Ursachen zu finden, an denen die Weimarer Republik schließlich scheiterte, muss man nach Ansicht Tucholskys in ihrer Entstehungszeit suchen. Auch wenn die Revolution im November 1918 in wenigen Tagen jahrhundertealte Herrscherhäuser vom Thron fegte, hatte sie den Titel offenbar nicht wirklich verdient. Über die Ereignisse vor 90 Jahren schrieb Tucholsky wenige Monate später, im März 1919, in seinem programmatischen Artikel »Wir Negativen«:

Wenn Revolution nur Zusammenbruch bedeutet, dann war es eine; aber man darf nicht erwarten, daß die Trümmer anders aussehen als das alte Gebäude.

Der große Fehler der ersten republikanischen Regierung habe darin bestanden, den neuen Staat auf eben diesen Trümmern des alten Kaiserreiches zu errichten: Justiz, Verwaltung, Militär. Vor allem den ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert machte Tucholsky für diese verhängnisvolle Entscheidung verantwortlich. Noch nach dessen Tod wetterte er:

Wer so wenig politisches Gefühl hat, um nicht zu sehen, daß es in diesem Moment das Äußerste an verbrecherischem Wahnsinn war, einen Staat, der grade an seinen Lastern zusammengebrochen war, mit eben diesen Lastern wiederaufzubauen, dem ist nicht zu helfen. Hinter Ebert standen wenige Tage lang Millionen von Arbeitern – er holte sich entlaufene Offiziere und baute mit denen etwas auf, was er die Ordnung nannte, und was die Arbeiter bald als Gefängnis erkannten. Hinter ihm standen wochenlang zahllose Studenten, Rechtsanwälte, selbst Beamte – er beließ die Richter und Landräte in ihren Stellungen und baute auf. Was dann begann, ist frisch in aller Erinnerung.

»Die Ebert-Legende«. in: Die Weltbühne, 12.1.1926, S. 52

Typische Formulierungen, mit denen Tucholsky auf die Revolution zurückblickte, lauteten:

Das war eine deutsche Revolution:
Eine mit Organisation,
eine mit Stempeln und Kompetenzen –
beileibe nicht mit wilden Tänzen
(1920)

Kriege sind über uns hereingebrochen, Volksbelustigungen, denen man in Deutschland den Namen »Revolution« anhängte, … (1925)

Aber es ist doch traurig zu sehen, wie wenig diese sogenannte Revolution eigentlich bewirkt hat. (1925)

Es ist ja dieser »Revolution« genannten deutschen Volkssehnsucht, Weihnachten 1918 wieder bei Muttern zu feiern, vorbehalten gewesen, einen staatsrechtlichen Umschwung mit »wohlerworbenen Rechten« einzuleiten. (1927)

Diese Revolution war keine. (1927)

Die deutsche Revolution hat im Jahre 1918 im Saale stattgefunden. (1928)

Die deutsche Revolution steht noch aus. (1928)

Wegen ungünstiger Witterung fand die deutsche Revolution in der Musik statt. (1930)

Tucholsky selbst verhielt sich in dieser umwälzenden Epoche um den Jahreswechsel 1919 alles andere als revolutionär. Als er um den 20. November 1918 aus dem Kriegseinsatz in Rumänien nach Berlin zurückkehrte, war die Republik bereits ausgerufen. Im Dezember wurde er Chefredakteur des Ulk, der Satirebeilage des Berliner Tageblatts. Anders als in der Weltbühne, wo er beispielsweise noch Sympathie für die Spartakisten aufbrachte, die »die Geschichte beim Schopfe« packten, kritisierte er im Ulk:

Der Spartakus, der Spartakus,
der möcht uns gern regieren;
er will bei diesem Friedensschluß
die Leut noch kujonieren.
Im ganzen Kriege schoß er nicht
so viel um sich herum
wie hier, nut, nut, an einem Tag

»Berliner Drehorgellied«, in: Ulk, 17.1.1919

Erst, als es schon zu spät und Revolutionäre wie Kurt Eisner, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet waren, verspottete Tucholsky die halbherzigen Aktionen der Regierung:

Seit November tanzt man Menuettchen,
wo man schlagen, brennen, stürzen sollt.
Heiter liegt der Bürger in dem Bettchen,
die Regierung säuselt gar zu hold.
Sind die alten Herrn auch rot bebändert,
deshalb hat sich nichts bei uns geändert.
Kommts, daß Ebert hin nach Holland geht,
spricht er dort zu einer Majestät:
»Schließen wir ’nen kleinen Kompromiß!
Davon hat man keine Kümmernis.
Einerseits – und andrerseits –
So ein Ding hat manchen Reiz …«
Und durch Deutschland geht ein tiefer Riß.
Dafür gibt es keinen Kompromiß!

»Das Lied vom Kompromiß«, in: Die Weltbühne, 13.3.1919, S. 297

Rückblickend räumte Tucholsky 1935 in einem Brief ein, in der damaligen Situation selbst die Lage nicht richtig erfasst und zu sehr auf den Tageblatt-Chefredakteur Theodor Wolff gehört zu haben:

1918/1919 habe ich überhaupt nichts verstanden – aus dieser Zeit datieren meine dümmsten Arbeiten, die ich teils selbst auf dem Gewissen habe, zum Teil ließ ich sie publicieren, verleitet durch den etwas dümmlichen Mann, den Du neulich kennen gelernt hast, und der nicht weiß, wo Gott wohnt.

In den zahlreichen Rückblicken der Medien auf den 90. Jahrestag der Novemberrevolution finden sich auch mehrere mit Bezug zu Tucholsky:

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