1.2.2021

Das Plagiats-Wunder von Lourdes

Was macht man, wenn man ein Buch übersetzt hat, das außerhalb katholischer Kreise vermutlich nur wenige Leser interessiert? Ein handfester literarischer Skandal könnte aus Promotionsgründen sicher nicht schaden.

Dieser Eindruck drängt sich bei der Lektüre von Hartmut Sommers Artikel „Was haben Sie da nur gemacht, Herr Tucholsky?“ in der nicht minder katholischen „Tagespost“ auf. Darin wird Kurt Tucholsky unterstellt, aus dem Buch Les foules de Lourdes des französischen Autors Joris-Karl Huysmans abgeschrieben zu haben. Sommers Übersetzung Lourdes: Mystik und Massen ist im vergangenen Jahr erschienen.

Die Vorwürfe betreffen das Kapitel über den französischen Wallfahrtsort Lourdes in Tucholskys 1927 erschienener Reisebeschreibung Ein Pyrenäenbuch.

Sommer schreibt:

Tucholskys Biograph Rolf Hosfeld bescheinigt ihm: „Mit dem geübten Blick eines Theaterkritikers erzählt Tucholsky im Pyrenäenbuch die Dramaturgie des Wunderspektakels eines ganzen Tages.“ Doch wie lange war Tucholsky wirklich selbst dort und was hat er selbst beobachtet, muss man sich fragen. Die meisten Beschreibungen jedenfalls sind offenbar von Huysmans Lourdes-Buch übernommen, als sehr eng daran angelehnte Wiedergabe oder als sehr ähnliche Paraphrase.

Das ist harter Tobak. Wird Tucholsky nun postum des Plagiats überführt, so wie im Jahr 1904 sein Mentor und väterlicher Freund Siegfried Jacobsohn? Dieser hatte als junger Theaterkritiker wortwörtlich Passagen aus früheren Artikeln des Kritikers Alfred Gold übernommen und war deshalb von seiner Zeitung entlassen worden. Dazu würde gut passen, dass Tucholsky das Pyrenäenbuch dem Ende 1926 unerwartet gestorbenen Jacobsohn gewidmet hat.

Wer von Sommer nun eine „Smoking gun“ erwartet, um Tucholskys geistigen Diebstahl nachzuweisen, wird jedoch arg enttäuscht. Als erstes Beispiel nennt er:

Tucholsky: „Es ist eine kleine Felsgrotte, ein paar Meter tief, mit einem schmiedeeisernen Gitter. ‚Entrée‘ und ‚Sortie‘ steht daran, auf blauen Emailschildern in weißer Schrift; einen Augenblick lang zieht ein Straßenschild an meinem Auge vorüber…“
Huysmans: „Schade, dass sie [die Grotte] so organisiert ist mit ihrer eingefassten Quelle, deren Wasser in Leitungen verborgen ist wie gewöhnliches Wasser, mit ihren Gittern wie in öffentlichen Gärten und blauen Emailleschildern, vergleichbar mit denen an unseren Straßenecken, auf denen in weißer Schrift auf der einen Seite ‚Eingang‘ und auf der anderen ‚Ausgang‘ steht.“

Da haben offenbar zwei Menschen ein und denselben Ort beschrieben und dabei ähnliche Beobachtungen gemacht. Wenn Sommers Definition zutrifft, dann muss die halbe Reiseliteratur aus Plagiaten bestehen. („Vor der Mona Lisa drängeln sich in Ihrem Text auch die Menschenmassen? Plagiat!“)


Die Grotte von Massabielle.

Nach dieser Logik liefert Sommer noch eine ganze Reihe weiterer „Belege“. Alles, was sich bei Tucholsky findet und von Huysmans in ähnlicher Weise beobachtet worden war, muss folglich übernommen worden sein.

Völlig absurd wird die Beweisführung in folgendem Beispiel:

Oft gerät die Übernahme des Huysmans’schen Berichtes, der das Gesehene dem Leser bildkräftig und vieldimensional vor Augen stellt, bei Tucholsky nur noch zu einer kümmerlichen Schrumpfform. Tucholsky etwa schreibt: „Die ganze Luft riecht nach Vanille“, während uns Huysmans geradezu in das volkstümliche Treiben versetzt: „Über allem hängt der Geruch von Vanille in der Luft. Die Bergbewohner verpesten Lourdes, indem sie von morgens bis abends mit Bündeln von Vanilleschoten umhergehen, deren Essenz schon von Konditoren und Parfümeuren abgezogen wurde, die man aber betrügerisch mit einigen Tropfen Duftstoff aufgefrischt hat.“

Tucholsky hat demnach so dilettantisch von Huysmans abgeschrieben, dass die Übernahme überhaupt nichts mehr mit dem Original zu tun. Nicht einmal richtig plagiieren kann er, der „Schnell- und Vielschreiber“, wie ihn Sommer bezeichnet.

Aber warum sollte Tucholsky es überhaupt nötig gehabt haben, Huysmans‘ Schilderung zu übernehmen? Schließlich war diese schon 20 Jahre vorher, im Jahr 1906, erschienen. Da könnte sich sogar im katholischen Lourdes manches geändert haben. War Tucholsky vielleicht ein entfernter Vorläufer des Spiegel-Autors Claas Relotius, der sich preisgekrönte Reportagen ausgedacht hat, anstatt selbst zu recherchieren?

Zwangsaufenthalt wegen böser Waldschlucht

Nicht einmal Sommer dürfte bezweifeln, dass sich Tucholsky von Mitte August bis Mitte Oktober 1925 tatsächlich in den Pyrenäen und auch in Lourdes aufgehalten hat. Stattdessen liefert er eine andere Erklärung:

(…)Tucholsky fehlten offenbar eigene Eindrücke, als er nach seiner Rückkehr das „Pyrenäenbuch“ verfasste, weil er wohl wenig Lust gehabt hatte, die religiöse Atmosphäre des Wallfahrtortes zu nahe an sich herankommen zu lassen. Der authentischste Teil seines Lourdes-Kapitels ist denn auch die Beschreibung eines Besuchs der Burg mit dem volkskundlichen Museum, von dem aus man in sicherem Abstand von der Stadt und dem heiligen Bezirk auf das Prozessionstreiben dort hinabschauen kann.

Viel Zeit für Lourdes selbst blieb dann wohl nicht.

Dieser letzte Satz ist eine einzige Frechheit. Was in Hosfelds Biografie nicht enthalten ist, geht unter anderem aus einem Brief Tucholskys an Heinrich Mann vom 7. November 1925 hervor:

Ich habe zwei Monate in den Pyrenäen – einschließlich Lourdes – gesteckt – nicht ohne in einer bösen Waldschlucht mir das Schienenbein glorios aufgeschlagen zu haben – und dann haben sie mich in Lourdes operiert (ohne Wunder).

Oder auch aus dem Text „Der Reisegott Zippi“ vom März 1927:

Ich hatte mir über einer Baumwurzel ein Bein aufgeschlagen, und mußte nach Lourdes zurückfahren, um mir von einem richtigen Menschenarzt im Bein herumschneiden zu lassen. Mit der Wunderquelle hatte ich es nicht so im Sinn … Der Arzt, ein tüchtiger piksauberer Mann, schnitt, verband und packte mich für zehn Tage ins Bett.

Notgedrungen muss sich Tucholsky wegen des Sturzes in der Schlucht von Kakaouetta (beschrieben im Kapitel „Lieber Jakopp“) nicht nur wenige Tage, sondern wohl gut zwei Wochen in Lourdes aufgehalten haben. Das geht auch – kaum übersehbar – aus dem Pyrenäenbuch hervor.


Die Schlucht von Kakouetta.
Foto: Ancalagon, Lizenz: CC-by-SA 3.0

Ja, man sieht zu viel. Treibe dich vierzehn Tage in der Stadt herum, und du fühlst nie mehr nasse Augen, aber manchmal ein verdächtiges Zucken im Gesicht. (…)

Man darf nicht verweilen. Man sieht zu viel. (…)

Man sieht zu viel. Man sieht, bei längerm Aufenthalt, wie es gemacht wird, sieht am Häuschen hinter der Basilika die Aufschrift: „Hommes“ – „Femmes“ und „Cabinets Reservés“, wonach also zu schließen wäre, daß die Geistlichen, denen man sie reserviert hat, weder Männchen noch Weibchen sind …

Aber laut Sommer hat Tucholsky das alles nur abgeschrieben, weil er, der evangelisch getaufte Jude, die „religiöse Atmosphäre des Wallfahrtortes“ nicht zu nahe an sich heranlassen wollte.

Erstaunlicherweise hat Tucholsky in dem Text „Aus aller Welt“ das Pyrenäenbuch selbst als eher untypische Reiseliteratur gesehen, denn es sei

darin mehr von meiner Welt als von den Pyrenäen die Rede,

Aber nicht das ganze Buch:

nur das Kapitel über Lourdes macht eine Ausnahme. Ich konnte zum Beispiel mit den Leuten nicht baskisch sprechen – wie soll ich diesen Landstrich ganz begreifen?

Diese Sprachbarriere gab es in den zwei Wochen Lourdes hingegen nicht. Tucholsky konnte daher nicht nur Huysmans‘ Buch lesen, sondern sich in Lourdes sogar mit echten Franzosen unterhalten.

Wie kam Sommer Tucholsky auf die Schliche?

Aber wie ist Sommer dem angeblichen Plagiator Tucholsky auf die Schliche gekommen? Hat in Deutschland noch nie jemand die Schilderungen Huysmans‘ gelesen, bevor Sommer sie nun erstmals ins Deutsche übersetzt hat?

Moment mal, heißt es im Pyrenäenbuch nicht an einer Stelle:

Die Ausstattung in den Kirchen. „Aber das übersteigt die kühnsten Träume. Mit Kunst, selbst mit Kunst in ihrer niedrigsten Entartung, hat das hier überhaupt nichts zu tun. Das ist nicht einmal schlecht …“ Nein, es ist grauslich. „Das ist alles so häßlich! Wenn es wenigstens naiv wäre – aber leider: grade das ist es nicht.“ Das sagt ein Freigeist? ein frecher Aufklärichtsmann? ein Kerl, der vom Katholischen nichts versteht -? Ach, es ist J.-K. Huysmans, dessen A rebours Oscar Wilde zum Dorian Gray angeregt hat, der in den Schoß der Kirche zurückgekehrte, reuige Sünder.

Fünf Mal wird Huysmans in dem Kapitel über Lourdes erwähnt. So auch hier:

Und so vieles hiervon steht bei Huysmans. Sein Fanatismus hat ihn, den Frischbekehrten und also lächerlich Überhitzten, nicht gehindert, in Lourdes die Augen aufzumachen. Auf einen Teil der schwarzen Flecke hat er mich erst aufmerksam gemacht, und wenn ich zögerte, mir Luft zu machen, so stärkte mich ein Blick in sein Buch. Da stands noch viel schlimmer.

Vielleicht hat ihn Huysmans auch auf folgende Beobachtung aufmerksam gemacht: „Eine Verkrüppelte hat unter Glas und Rahmen die braunen Nägel aufbewahrt, die ihr durch die Hand gewachsen waren und von denen sie nun befreit ist.“ Dieses Beispiel findet sich laut Sommer auch in Huysmans Buch. Ebenso wie ein Zitat über „Engländer, die alles für sich haben wollen, die besten Plätze, die Spitze bei den Prozessionen“, das sich demnach ebenfalls bei Huysmans findet. Bei Tucholsky wird dies nicht Huysmans zugeschrieben, sondern einem unbekannten „jemand“, der sich über die Engländer beklagt.

Ob diese Klage 1925 immer noch berechtigt war? Tucholsky schreibt in seinem Text „Anglikanische Pastöre“:

Ich habe sie im Zug nach Lourdes gesehen und auf vielen Bildern: die glatten Ledergesichter der Hagern, wie Fußball-Champions, und die guten, onkelhaften der Dicken – ja, sie hatten diese schwarzen Röcke an, es waren wohl Geistliche, Alles, was recht ist … aber es waren keine

Sommer sind die vielen Erwähnungen von Huysmans‘ Buch durch Tucholsky natürlich nicht entgangen. Er sieht sie jedoch allesamt als Beleg dafür, dass der „Agnostiker“ Tucholsky auch den Rest seiner Eindrücke übernommen haben muss.

Unbelegte Rufschädigung

Was bleibt also von Vorwürfen übrig?

Wie Tucholsky selbst bemerkte, hat er sich damals Lourdes auch mit den Augen Huysmans angeschaut. So wie sich Abertausende deutscher Touristen das schwedische Schloss Gripsholm mit den Augen Tucholsky angeschaut haben mögen.

Er fand Huysmans‘ Buch sogar so lesenswert, dass er ein Exemplar im Jahr 1927 seiner Geliebten Lisa Matthias schenkte.

Tucholsky zu unterstellen, er habe sich Lourdes aus Zeitgründen und religiöser Ignoranz gar nicht richtig angesehen, um stattdessen aus Les foules de Lourdes abzuschreiben, ist aber eine durch nichts belegte Rufschädigung. Wäre Tucholsky noch am Leben, wäre eine Gegendarstellung in der „Tagespost“ wohl das Mindeste, das er durchsetzen würde.

Absurd auch der Versuch Sommers, Tucholsky eine Scheinheiligkeit im Umgang mit tatsächlichen Plagiaten nachzuweisen. Denn Tucholsky habe er der Schriftstellerin Irmgard Keun unterstellt, in ihrem Roman Das kunstseidene Mädchen den „Ton“ eines anderen Romans imitiert zu haben. Abgesehen davon, dass Tucholsky gerade nicht versucht hat, den „bildkräftigen und vieldimensionalen“ Stil Huysmans nachzuahmen, muss man ihn beim Thema Plagiat an den Maßstäben messen, die er im Falle Bertolt Brechts angelegt hat.

So heißt es im Artikel „Die Anhängewagen“ vom Mai 1929:

Ich bin kein Plagiatschnüffler; ich weiß, wie halb verwehte Klänge haften, wie einem Erinnerungen aufsitzen, wie man unbewußt plagiieren kann … aber weil ich es weiß, passe ich auf. Zu denken, daß sich unsereiner quält, wegläßt, weil vielleicht diese Zeile zu sehr an eine von Mehring erinnert – ich habe den größten Respekt vor geistigem Eigentum, und eine ebenso große Verachtung literarischer Einbrecher.

Der Plagiatschnüffler Sommer ist bei Tucholsky offensichtlich auf eine falsche Fährte gestoßen. Vielleicht hätte er sich vor der Abfassung des Artikels besser diesen Artikel der „Tagespost“ durchgelesen.

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