9.6.2005

So ein Quatsch

Es ist in den vergangenen Jahren schon häufiger vorgekommen, dass die heutigen Verhältnisse in Deutschland mit denen in der Endphase der Weimarer Republik verglichen wurden. Das Beispiel, das Heribert Prantl im Leitartikel der „Süddeutschen“ dazu anführt, wirkt bei näherer Betrachtung aber besonders bedenklich:

Viele politische Nachrichten aus Berlin entstehen derzeit so ähnlich, wie Tucholsky das 1928 unter dem Titel „Familienquatsch“ beschrieben hat. Also: Da hat Kurt zu Franz gesagt, er habe nie zu Heinz-Werner gesagt, dass Gerd ihm nichts gesagt hat! Wie finnste das? Na, ist doch ganz klar, woher soll er denn das wissen? Nein? – Nein! Wenn du zu Ludwig nicht gesagt hättest, dass ich es dir gesagt habe, dann hätten doch die in der Zeitung nicht schreiben können, dass das so bei der Sitzung des SPD-Parteivorstandes besprochen worden ist . . .

Zunächst muss einmal klargestellt werden, dass bei Tucholsky natürlich nicht die Namen Kurt (Beck), Franz (Müntefering), Heinz-Werner (Schuster), Gerd (Schröder) und Ludwig (Stiegler) vorkommen, sondern die unverfänglichen Vornamen Lucie, Jenny, Oskar (Lafontaine) und Erwin. Und selbstverständlich ist nicht von irgendwelchen Zeitungen und Parteivorständen die Rede, sondern von Mama und Tante Emmi.

Aber das Besorgniserregende an diesem Vergleich liegt wohl darin, dass Tucholskys „Familienquatsch“ einer ganzen Sammlung von Quatschen entnommen ist, in der auch der „politische Quatsch“ nicht fehlt. Anders gesagt: Der politische Quatsch der Weimarer Republik scheint nicht auf die Gegenwart übertragbar zu sein, statt dessen bewegt sich der politische Quatsch der heutigen Zeit auf einem Niveau des Familienquatsches der zwanziger Jahre!

Wie schlimm das ist, wird sich in den kommenden Monaten herausstellen. Aber vielleicht ist es auch überhaupt nicht schlimm, weil im Grunde alles nur ein und derselbe Quatsch ist. Daher hilft es ab und an sicherlich, sich folgender Feststellung Tucholskys zu erinnern:

Höre, wenn du dies gelesen hast, um dich und sage ehrlich, was du da zu hören bekommst. Wenn du es alles vernommen hast, dann wirst du jenen alten und weisen Mann verstehen, dem der Arzt den Schnaps verboten hatte, seines Gehörs wegen. Als der Patient wieder in die Sprechstunde kam, da war er stocktaub und hörte überhaupt nichts mehr. Der Arzt war entsetzt. „Sie haben getrunken!“ schrieb er dem alten Mann auf einen Zettel. „Ich habe es Ihnen prophezeit und nun haben Sie Ihr Gehör verloren … !“ Da sprach der alte Mann: „Lieber Herr Doktor! Alles, was ich gehört habe, war nicht so gut wie Schnaps.“
Hatte er nicht recht?
Peter Panter: „Der Quatsch“, in: Berliner Illustrirte Zeitung, 31.5.1928, S. 995

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