11.1.2005

Behagliche Knackmandel-Lektüre

Die Frankfurter Allgemeine freut sich über die Neuausgabe von Leo Perutz‘ Roman „Der Marques de Bolibar“. In seiner Rezension weist Wolfgang Neuber eingangs darauf hin, dass Perutz sich zu Lebzeiten der Wertschätzung vieler renommierter Literaturkritiker erfreute:

Zu seiner Zeit aber schätzten, ja bewunderten ihn Hermann Broch, Alfred Polgar, Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky oder Siegfried Kracauer, spätere Anerkennung fand er bei so unterschiedlichen Größen wie Theodor W. Adorno und Jorge Luis Borges.
Wolfgang Neuber: „Das doppelte Kokottchen“, in: FAZ, 11.1.12005, S. 32

Neuber scheint ein wenig zu bedauern, dass man Perutz „ins zweite Glied der deutschen Literaturgeschichte verbannt“ hat. In einem Brief an den befreundeten Schriftsteller Hans Erich Blaich rechnete Tucholsky die Romane Perutz‘ aber ebenfalls nicht unbedingt der Weltliteratur zu:

Mögen Sie Leo Perutz? Er erinnert mich (natürlich ganz cum grano salis) an Raabe – in der ›Dritten Kugel‹, die ich in der ›Weltbühne‹ festlich besungen habe, sowie in seinem neuen Roman im ›Tageblatt‹ ist immer ein Ton, der an den Alten erinnert, nur noch naturalistisch ausgeprägter. Nichts Großes – aber etwas sehr Erfreuliches.

Diese Reminiszenz an Wilhelm Raabe stand auch in besagter Buchbesprechung im Vordergrund. Eine Lektüre des Romans empfiehlt sich demnach besonders an langen, verregneten Wintertagen:

Das ist ein hübsches Buch. So eins, das man, wenns draußen furchtbar regnet, mit einem Teller Knackmandeln neben sich, tot für die Umwelt, verschlingt, mit der einen Hand blättert man um, mit der zweiten stopft man sich langsam eine Knackmandel nach der andern in den Mund …
Peter Panter: „Die dritte Kugel“, in: Die Weltbühne, 5.6.1919, S. 662

Im Gegensatz zu Tucholsky sieht Neuber im „Marques de Bolibar“ mehr die romantischen Schriftsteller E.T.A. Hoffmann und Ludwig Tieck anklingen. Allerdings sei Perutz mit seinem Erzählkonzept „keineswegs im tiefen 19. Jahrhundert steckengeblieben“. Vielmehr bleibe er

ganz den wahrnehmungs- und kunsttheoretischen Fragestellungen der Moderne verpflichtet. Das Ich der Figuren ist in der Tat unrettbar, es zerfällt in unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven. Ohne die Formauflösung, die den Roman des frühen zwanzigsten Jahrhunderts sonst häufig kennzeichnet, reflektiert der „Marques de Bolibar“ sich selbst (…).

Der letzte Satz würde in den Worten Tucholskys wohl lauten:

Die Herren von heute haben weniger Zeit, weniger Behaglichkeit und sind meist so pressiert, daß sie mit ihren atemlosen Geschichten schon immer fertig sind, ehe der Braunschweiger [Raabe] auch nur die Einleitung fertiggestellt hätte.
„Die dritte Kugel“, in: Die Weltbühne, 5.6.1919, S. 662

10.1.2005

Exzellente Diskussionen

Bei der freien Internet-Enzyklopädie Wikipedia läuft zum zweiten Mal innerhalb von zwei Monaten eine Diskussion darüber, ob der Artikel über Kurt Tucholsky zu den exzellenten Artikeln gezählt werden soll. Die frühere Diskussion ist inzwischen länger als der Artikel selbst, an der neuen Abstimmung kann man sich hier beteiligen. Die Abstimmung endet am 29. Januar 2005.

8.1.2005

Auf großem Fuß

Aus seiner Abneigung gegen die Tanzkunst der Zwanziger Jahre hat Tucholsky keinen Hehl gemacht:

Die Ekstasen der vielen jungen Mädchen mit den großen Füßen in Berlin habe ich nie so recht verstanden, und warum alle Hysterikerynnien, die einen Silberring mit grünem Stein auf dem rechten Zeigefinger tragen, nun grade tanzen müssen, war mir von je rätselhaft.
„Valeska Gert“, in: Die Weltbühne, 17.2.1921, S. 204

Von dieser Kritik nahm Tucholsky die Tänzerin Valeska Gert ausdrücklich aus, einzelne Teile ihres Programmes bezeichnete er im oben genannten Text als „das Frechste, was wohl je auf einer Bühne gemacht worden ist“.
Dieses Lob taucht auch in Amelie Soykas Sammelband über die Tänzerinnen der Moderne wieder auf, der in der Süddeutschen Zeitung vom 7. Januar auf Seite 14 besprochen wird.
Die von Gert dargestellte „Canaille“ („eine geniale Leistung“) hat Tucholsky so gut gefallen, dass er sie ein Jahr später in der Rezension eines Tanzkunstbuches ein weiteres Mal erwähnte. Für den Autor des Buches, Erich Blaß, fand er ebenfalls lobende Worte:

Die Charakteristiken der großen Tänzerinnen sind so unaufdringlich und bescheiden, so leise und so klug abgefaßt, daß man seine helle Freude haben muß.
„Tanzkunst“, in: Die Weltbühne, 20.7.1922, S. 71

Ob dasselbe auch für die Beiträge in Amelie Soykas Sammelband gilt, geht aus der SZ-Rezension leider nicht hervor.

Tucholsky-Abend in Hamburg

Am 9. Januar 2005 wäre Kurt Tucholsky 115 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass wiederhole die Schauspielerin Christel Lohse ihren Tucholsky-Abend, schreibt das Hamburger Abendblatt in einer kurzen Meldung. Da die Meldung alle wichtigen Angaben für potenzielle Besucher enthält, kann man darüber hinwegsehen, dass die Überschrift so klingt, als würde Tucholsky bei der Hommage selbst vorbeikommen.

7.1.2005

Zum Glück nur fast

Die Süddeutsche Zeitung präsentiert den neu erschienenen Band über den französischen Germanisten Robert Minder (1902-1980). Laut SZ war Minder

zu seiner Zeit eine der wichtigen Brücken zwischen Frankreich und Deutschland. Er gründete schon 1923 als Student an der Ecole Normale Supérieure eine Gruppe, die deutsche Intellektuelle wie Kurt Tucholsky, Heinrich Mann, Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal, Walter Mehring nach Frankreich einlud und Lebensmittel an hungernde Kinder im Ruhrgebiet versandte.
Hartmut Kaelble: „Der Vermittler“. In: SZ, 7.1.2005, S. 14

Im Falle Tucholskys und Mehrings waren diese Einladungen allerdings überflüssig, schließlich lebten sie in den zwanziger Jahren ohnehin in Paris. Tucholsky berichtete am 11. Februar 1926 an die Schauspielerin Kate Kühl, dass er „etwa 40 Vorträge gehalten“ habe. Meistens war er von der „Ligue des Droits de L`Homme“ eingeladen worden. Wie Vorträge von Thomas Mann und Alfred Kerr auf das Pariser Publikum wirkten, schilderte Tucholsky in dem Artikel „Deutsche Woche in Paris“. Darin heißt es:

Sehr bezeichnend ist das Publikum dieser pseudopazifistischen Veranstaltungen. Was sofort auffällt, ist der fast vollkommene Mangel an Jugend. Wo ist die -? Auf der andern Seite. Aber wäre ich zwanzig Jahre: ich ginge auch dorthin, wo etwas getan wird, wo Schwung sitzt, Kraft, Aktion, blutgeschwellte Adern. Wenn man in der Liebe stets zwanzig Jahre ist, dann ist man in der demokratischen Politik immer hundert. Manche werden gleich so geboren.
„Deutsche Woche in Paris“. In: Die Weltbühne, 9.2.1926, S. 206

Vielleicht war Robert Minder einer der Gründe für das Wörtchen „fast“ im zweiten Satz des Zitates.

6.1.2005

Was Wotan weihen wolle

Die Germanistin Anette Schaumlöffel hat sich nach Angaben ihres Verlages Random House während ihres Studiums mit nordischer Mythologie und Kurt Tucholsky beschäftigt. Herausgekommen ist dabei keine trockene Abhandlung über „Das Verhältnis Kurt Tucholskys zu den völkischen Bewegungen unter besonderer Berücksichtigung des Gedichtes ‚Olle Germanen'“, sondern ein „herrlicher Gesellschaftsroman im Fantasy-Pelz“ (Nautilus). „Die vergessenen Götter“ heißt das Buch, in dem laut Klappentext die junge Kölner Assistentin Ariane „eine verheißungsvolle Männerbekanntschaft“ macht, bei der es sich in Wahrheit um Gott Odin handelt. Was das Ganze vielleicht doch mit Tucholsky zu tun haben könnte, hat auch die taz in ihrer Rezension nicht herausfinden können.

2.1.2005

Die Mühen des Patriotismus

Die taz beschäftigt sich in ihrer Silvesterausgabe 2004 auf zwei Seiten mit den „Mühen des Patriotismus“. Wenn es um die Themen Deutschland und Heimat geht, darf eine Erwähnung von Tucholskys Buch „Deutschland, Deutschland über alles“ – und insbesondere des abschließenden Textes „Heimat“- nicht fehlen. Christian Semler, der gerne mal ein paar Verse als Tucholsky-Zitat ausgibt, die gar nicht von „Tucho“ (Christian Semler) stammen (im Falle Tengelmann von Victor Arnold), hat dieses Mal richtig in den Text geschaut:

„Wer aber weiß, was die Musik der Berge ist, wer die tönen hören kann, wer den Rhythmus einer Landschaft spürt … nein, wer gar nichts andres spürt, als daß er zu Hause ist; daß das da sein Land ist, sein Berg, sein See – auch wenn er nicht einen Fuß des Bodens besitzt … es gibt ein Gefühl jenseits aller Politik, und aus diesem Gefühl heraus lieben wir dieses Land.“
Aus: Heimat. In: Deutschland, Deutschland über alles. Berlin 1929, S. 227.

In seinem Kommentar „Auf vertrautem Boden“ zieht Semler daraus den Schluss, dass Tucholsky die deutschen Landschaften nur „menschenleer“ geliebt habe. Zwischen den Bewohnern des Landes, auch wenn es sich um „gute“ Deutsche wie „Kommunisten, Sozialisten, Freiheitsliebende aller Grade“ handele, und den Landschaften stelle Tucholsky keine Verbindung her. Semler hält eine solche Liebe zwar für „wenig human, aber durchaus vorstellbar“.

Was ist das Sudelblog?

„Sudelbuch“ nannte der deutsche Schriftsteller und Journalist Kurt Tucholsky sein Notizbuch, das er von 1928 bis 1935 mit sich führte. In Anlehnung an die „Sudelbücher“ von Georg Christoph Lichtenberg notierte Tucholsky darin eigene Beobachtungen und sprachliche Einfälle, aber auch Bemerkungen und witzige Äußerungen anderer Personen.
Der letzte Eintrag im „Sudelbuch“, kurz vor seinem Tod am 21. Dezember 1935 aufgezeichnet, war die berühmte Treppe:

Eine Treppe

In diesem Sudelblog soll notiert werden, wo und in welchem Zusammenhang Tucholsky in den Medien zitiert oder sein Leben und Werk besprochen werden. Die Hinweise auf diese Fundstellen werden nach Möglichkeit mit Angaben zur exakten Zitatstelle und zur Entstehung des Originaltextes ergänzt. Gelegentlich werden mit Tucholsky-Zitaten auch aktuelle politische Ereignisse kommentiert.
Sudelblog.de ist daher eine Art literarisches Medienblog für Tucholsky-Fans.


Aus dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm:

SUDELBUCH, n., buch, in welches man die erste nachlässige fassung eines später sorgfältig abzuschreibenden textes schreibt, kladde, besonders die geschäftskladde des kaufmanns: sudelbuch adversaria, libellus collectaneorum, ein buch darein man täglich schreibet, sudel oder kleckbuch GOLIUS onom. (1585) 149; adversaria, rapulatus oder sudelbuch oder papier, darinn man etwas ohne ordnung auffzeichnet und rapuliret, das nachmals mit fleisz wirdt abgeschrieben HEUPOLD dict. (1620) 14, vgl. STAUBTOBLER 4, 993: strazze, in der handlung, das sudelbuch, wie kladde VOIGT hwb. f. d. geschäftsführ. (1807) 2, 466; nach Lichtenbergs beispiel habe ich mir ein sogenanntes wastebook (sudelbuch) angeschafft PLATEN tageb. 1, 509, vgl. LICHTENBERG verm. schr. 1, XIX; entsprechend 2sudeln 3 e auf den inhalt gedruckter bücher bezogen: ich weisz, Stöcklein, dasz sie an das schnelle dahinfahren und versterben der sudelbücher (der minderwertigen bücher) sich am wenigsten stoszen JEAN PAUL 37, 66 Hempel; woher haben sie denn das abgeschrieben, aus welchem sudelbuche? LASSALLE red. u. schr. 2, 451.

1.1.2005

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Friedhelm Greis
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