28.11.2008

So ein Ééérger

Es gab Gelegenheiten, bei denen sich Tucholsky auf eine spezielle Art ärgern konnte. Vor allem über die Tücken der Technik:

Abends, wenn ich im Bett liege, muß ich mich immer so ééérgern … (Merk: ärgern – das ist böse und einmalig; ééérgern aber ist lange, sanft, süß-sauer und überhaupt.) Ich muß mich so ééérgern, weil sich wieder achtmal etwas ereignet hat, das ich da benannt habe: Die Technik spielt.

Peter Panter: »Auf dem Nachttisch«, in: Die Weltbühne, 23.12.1930, Nr. 52, S. 940.

Etwas ärgerlich ist auch, wenn Tucholsky-Zitate, die ihm auf hunderten von Internetseiten zugeschrieben werden, nirgendwo in dessen Werk zu finden sind. So auch die Behauptung:

Das Ärgerliche am Ärger ist, dass man sich schadet, ohne anderen zu nützen.

Wobei sich in diesem Fall nicht nur die Frage nach dem Urheber, sondern auch nach dem Sinn des Zitates stellt. Warum soll man anderen nützen, wenn man sich über etwas geärgert hat? Und warum schadet es, sich mal so richtig zu ééérgern?

Ich würde mich natürlich sehr ärgern, falls doch jemand das Zitat bei Tucholsky finden und mir die Stelle nennen würde. Aber das hätte dann wenigstens einen Nutzen.

21.11.2008

Dräuende Krieger aus gefrorenem Mist

Hätte der Architekturexperte der Berliner Zeitung, Nikolaus Bernau, die folgenden Zeilen vor 80 Jahren geschrieben, wäre ihm Ärger sicher gewesen:

Was für ein babylonisches Steingebirge. Urtümlich mit finsteren Kriegergestalten, mit dem weiten, von hohen Wällen gerahmten Vorplatz und dem unergründlich spiegelnden Teich darin. Das Leipziger Völkerschlachtdenkmal war schon vor seiner Einweihung 1913 heftig umstritten.

Bernau erinnert in seinem Text »Die reaktionäre Moderne« an der Architekten Bruno Schmitz, der heute vor 150 Jahren geboren wurde. Schmitz hat jedoch nicht nur das Völkerschlachtdenkmal, sondern auch das Kaiser-Wilhelm-Denkmal an der Porta Westfalica und das Kaiser-Wilhelm-Denkmal am Deutschen Eck verbrochen. Letzteres hat auch Tucholsky einmal in Augenschein genommen. Und war entsetzt:

Wir gingen auf der breiten, baumbestandenen Allee; vorn an der Ecke war eine Fotografenbude, sie hatten Bilder ausgestellt, die waren braun wie alte Daguerrotypien, dann standen da keine Bäume mehr, ein freier Platz, ich sah hoch … und fiel beinah um.

Da stand – Tschingbumm! – ein riesiges Denkmal Kaiser Wilhelms des Ersten: ein Faustschlag aus Stein. Zunächst blieb einem der Atem weg.

Sah man näher hin, so entdeckte man, daß es ein herrliches, ein wilhelminisches, ein künstlerisches Kunstwerk war. Das Ding sah aus wie ein gigantischer Tortenaufsatz und repräsentierte jenes Deutschland, das am Kriege schuld gewesen ist – nun wollen wir sie dreschen! In Holland.

Zunächst ist an diesem Monstrum kein leerer Fleck zu entdecken. Es hat die Ornamenten-Masern.

Oben jener, auf einem Pferd, was: Pferd! auf einem Roß, was: Roß! auf einem riesigen Gefechtshengst wie aus einer Wagneroper, hoihotoho! Der alte Herr sitzt da und tut etwas, was er all seine Lebtage nicht getan hat: er dräut in die Lande, das Pferd dräut auch, und wenn ich mich recht erinnere, wallt irgend eine Frauensperson um ihn herum und beut ihm etwas dar. Aber da kann mich meine Erinnerung täuschen … vielleicht gibt sie dem Riesen-Pferdchen nur ein Zuckerchen. Und Ornamente und sich bäumende Reptile und gewürgte Schlangen und Adler und Wappen und Schnörkel und erbrochene Lilien und was weiß ich … es war ganz großartig. Ich schwieg erschüttert und sah Jakoppn an.

»Ja«, sagte Jakopp, »das ist das Kaiser-Wilhelm-Denkmal am Deutschen Eck.

Ignaz Wrobel: »Denkmal am Deutschen Eck«, in: Die Weltbühne, 14.1.1930, S. 94

Schon diese Schilderung dürfte seinen nationalbewussten Zeitgenossen nicht gefallen haben. Aber mit einer weiteren Formulierung war ihm der Zorn der Rechten sicher, wie Tucholsky zwei Jahre später im Rückblick schrieb:

Vor einiger Zeit habe ich hier das schöne Denkmal am Deutschen Eck, in Koblenz, geschildert; der selige Kaiser Wilhelm der Erste ist dort zu Stein zusammengehauen, und ich hatte mir erlaubt, solches einen gefrorenen Mist zu nennen. Darob große Entrüstung bei den Kleinbürgern des Nationalismus. Es hagelte Proteste, ich spannte keinen Regenschirm auf, und soweit gut.

Ignaz Wrobel: »Historisches«, in: Die Weltbühne, 26.1.1932, S. 144

Tucholskys Bitte, dass eine Regierung diesen »gefrorenen Mist« abkarre, hat übrigens erst ein amerikanischer Soldat erhört, der 1945 Kaiser Wilhelm von seinem hohen Podest schoss. Jedoch nicht für immer: 1993 ließ ein generöser Spender, ausgerechnet ein Zeitungsverleger, den alten Hohenzollern wieder auferstehen. Womöglich galt für ihn dasselbe, was Bernau über Schmitz geschrieben hat:

Er suchte zutiefst pessimistisch ob der Zukunft die neuen Formen in der Vergangenheit.

2.11.2008

Die Verbreitung einer Gedicht-Legende

Es war wohl kaum anders zu erwarten, als dass sich das vermeintliche Tucholsky-Gedicht »Höhere Finanzmathematik« mit der Geschwindigkeit eines Computerwurms im Internet verbreiten würde. Aber diesmal wurden nicht die Rechner, sondern die Gehirne der Leser befallen. Ein poetischer Hoax.

Hat sich wenigstens der hier zuvor geäußerte Wunsch erfüllt, dass die Presse ihre Leser über dieses kollektive Missverständnis aufklärt? Von wegen. Gleich mehrere Zeitungen sind der falschen Zuschreibung auf den Leim gegangen und haben das Gedicht unter der Urheberschaft Tucholskys abgedruckt. So in Deutschland die Westdeutsche Zeitung und die Nürnberger Nachrichten (die zwei Tage später den Fehler berichtigten), oder in der Schweiz die Basler Zeitung und das St. Galler Tagblatt. Was wiederum das Boulevardblatt Blick für einen kleinen Seitenhieb auf die Kollegen nutzte:

Doch geschrieben hat die etwas holprigen Reime ein Österreicher im September, berichtet die «Financial Times Deutschland». Trotzdem hat es die «Basler Zeitung» in ihrem Kulturteil abgedruckt und als Autor Tucholsky vermerkt.

Das Tagblatt sah sich ebenfalls zu einer Berichtigung genötigt und schrieb unter der etwas irreführenden Überschrift »Lug & Trug«:

Es ist ein Gedicht, stimmig und aktuell. Tucholsky wird als sein Urheber genannt — auch gestern, in diesem Blatt. «Wenn die Börsenkurse fallen»: So fing es an. Doch Tucholsky war’s nicht, das erklären die Fachleute, auch wenn das Gedicht unter seinem Namen quer durchs Netz floriert.

Wenig rühmlich auch, dass der ehemalige Zeit-Chefredakteur Roger de Weck das Gedicht im Medienmagazin des RBB zitierte. Und als »Finanzexperte« hätte Oswald Metzger vor der Veröffentlichung in seinem Blog etwas vorsichtiger sein können. Dennoch sei zur Ehrenrettung der Medien erwähnt, dass viele Zeitungen skeptisch waren und vor einem möglichen Abdruck des Gedichtes bei der Tucholsky-Gesellschaft nachfragten, ob Tucholsky der Urheber sei. Die Financial Times Deutschland sprach sogar mit dem tatsächlichen Autor, dem 69 Jahre alten Wiener Richard Kerschhofer. Der kann die Verwechslung gar nicht nachvollziehen und meinte mit Blick auf die starken stilistischen Unterschiede zu den Versen Theobald Tigers: »Kurt Tucholsky hat nicht annähernd so saubere Reime geschrieben wie ich.«

Kerschhofers Nähe zum rechten politischen Lager — er schreibt auch für die österreichische Zeitschrift Zeitbühne — müsste nun eigentlich linke Kapitalismuskritiker in Erklärungsnöte bringen. Etliche haben das Gedicht unter dem Autornamen Tucholsky oder anonym veröffentlicht (so auch die KPÖ). Worüber sich nicht nur die Wiener Presse, sondern auch Kerschhofer selbst amüsiert:

Offene Ohren fand das Gedicht vor allem bei linksgerichteten Kapitalismuskritikern. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass laut dem Gedicht das Finanzsystem aufgrund der »Spekulantenbrut« eine Umverteilung nach oben bewirkt, für die der »kleine Mann zu blechen hat«. Der Urheber ist politisch jedoch eher auf der anderen Seite zu finden. »Ich bin sicher kein Linker. Und ich fand es zuerst unglaublich, dass diese es sofort für sich reklamiert haben«, sagt Kerschhofer im Gespräch mit der »Presse«. Für ihn sei es nun aber eine »Genugtuung«, dass sein Gedicht – wenn auch unter falscher Urheberschaft – so große Berühmtheit erlangt hat.

Aber schon zu Zeiten Tucholskys waren lechts und rinks bisweilen zu velwechsern. Ein Leser der Westdeutschen Zeitung geht die Debatte daher sehr unideologisch an und meint: »Na egal wer es geschrieben hat, ob linker Weltverbesserer oder rechte Ätzbacke, das Gedicht ist trotzdem gut.«

Letzterem kann die Berliner Morgenpost hingegen nicht zustimmen. In einer ausführlichen Analyse der angerichteten Verwirrung schreibt Hendrik Werner:

Als erdrückendes Indiz, das von Anfang an gegen eine Urheberschaft Tucholskys hätte sprechen müssen, kommt noch hinzu, dass seine Lyrik zeitlebens sehr viel sperriger war als das ihm jetzt angehängte Gedicht. So hingegen klingt ein echter Tucholsky: »Ihr, in Kellern und in Mansarden, / merkt ihr nicht, was mit euch gespielt wird? / mit wessen Schweiß der Gewinn erzielt wird? / Komme, was da kommen mag. / Es kommt der Tag, / da ruft der Arbeitspionier: / Ihr nicht. / Aber Wir. Wir.« Dies ist die Schlussstrophe eines Gedichts namens »Die freie Wirtschaft«, das unter dem Pseudonym Theobald Tiger am 4. März 1930 in der »Weltbühne« veröffentlich wurde. Auch diese Verse sind kämpferisch und kritisch. Aber sie sind, anders als der Fake »Höhere Finanzwirtschaft«, nicht von dieser monotonen Betulichkeit, die bei einem formal konventionelleren Dichter wie Erich Kästner weit eher anzutreffen ist. Nichts gegen behäbige Paarreim-Strophen; Tucholsky indes war in ästhetischen Dingen um einiges avancierter.

Warum Werner aber dauernd von »Fake«, »Lug und Trug« und »Fälschung« spricht, ist nicht ganz ersichtlich. Eine Fälschung liegt laut Wikipedia dann vor, »wenn einer eigenen Leistung die Urheberschaft eines Anderen unterstellt wird«. Diesen Vorwurf kann man Kerschhofer nicht machen. Und der Person, die die »Höhere Finanzmathematik« wohl erstmals mit Tucholsky in Verbindung brachte, ist wohl eher Schusseligkeit vorzuwerfen. Bei der weiteren Verbreitung des Fehlers gelten dieselben Mechanismen, die auch die Weiterleitung von Hoaxes befördern: eine gewisse Gutgläubigkeit und Unbedarftheit gepaart mit fehlendem Hintergrundwissen. So entgegnet Thomas Wendt, der das Gedicht auf der Website des SPD-Ortsvereins Rerik Salzhaff Kröpelin veröffentlicht hat, auf den Vorwurf der ungeprüften und unreflektieren Übernahme dieser »Ente«:

Ungeprüft, das mag sein. Ein gewisser Grad an Plausibilität ist gegeben und das darf in diesem Falle reichen. Ob Tucholsky oder nicht, ist für die Aussage egal. Aber der Vorwurf, hier wäre etwas unreflektiert übernommen worden trifft auf keinen Fall zu. Da scheint mir eher der Vorwurf selber unreflektiert zu sein. ;-)

Um diese höhere Form der Dialektik zu beherrschen, muss man wohl Jahrzehnte auf Parteischulungen verbracht haben.

Vielleicht sollte man inzwischen dazu übergehen, wie es die Börsen-Zeitung gemacht hat, statt der Kerschhofer’schen Finanzmathematik den »Kurzen Abriß der Nationalökonomie« von Kaspar Hauser abzudrucken. Das ist immer noch unterhaltsamer, zutreffender und aktueller als alles, was sich beispielsweise Frank Schirrmacher im Feuilleton der FAZ zur Finanzkrise zusammenschreibt.

1.9.2008

Ein Bilderbuch für Verpflichtete

Die Bibliophilie mancher Verleger treibt bisweilen bizarre Blüten. So hat der Berliner accurat verlag in der vergangenen Woche zu einer besonderen Buchpräsentation am 1. September eingeladen. Der Anfang des Schreibens sah ungefähr so aus:

1912 geschah:

1. Kurt Tucholskys Evergreen,
 
RHEINSBERG,
EIN BILDERBUCH
FÜR VERLIEBTE,

 
illustriert von Kurt Szfranski,
erscheint.

2008 geschieht:

1. Die reprintete Erstausgabe
von
Kurt Tucholskys
RHEINSBERG
placiert auf einem
SILBERTABLETT,
(noblesse oblige)
erscheint.

Als nächste Paralle wird dann die Eröffnung einer „Bücherbar“ auf dem Kurfürstendamm angekündigt, in der ebenso wie bei Tucholskys damaliger Werbeaktion die Neuausgabe des Rheinsberg-Büchleins festlich begangen werden soll. Hintergründe zu dem Neudruck sowie der Bücherbar wusste der Oranienburger Generalanzeiger schon zu berichten:

Darüber hinaus kultiviert der Berliner die einst von Kurt Tucholsky und Kurt Szafranski ins Leben gerufene „Bücherbar“ für einen Monat neu. In Berlin, Am Kurfürstendamm 41, können Interessierte über Gott, das Leben und die Welt sprechen, ganz wie zu Tucholskys Zeiten. Bis Ende September soll die „Bücherbar“ zum Politisieren anregen. Als Chef des Clubs auf Zeit konnte Heinicke Hans-Peter Marcuse gewinnen, welcher dem Clan um den Philosophen Ludwig Marcuse entstammt. Bardame wird übrigens Gerhart Hauptmanns Enkelin Birgit Hauptmann sein. Das Rheinsberg-Paket in seinen zwei Varianten kann auch im Berliner Club erworben werden.

In einem Zusatzzettel der Presseinladung bot sich Peter Marcuse an, „Ihnen weiß behandschuht, das auf dem Silbertablett befindliche Besprechungsexemplar in der BÜCHERBAR zu überreichen“. Wessen Adel zu diesem Brimborium verpflichtet, geht aus der Ankündigung nicht ganz hervor. Der erwiesenermaßen nicht blaublütige Tucholsky verwandte diesen Ausdruck ohnehin nur in Verballhornungen: Noblessoblisch, Snoblesse oblige oder Pleitesse oblige.
Der Verlag kann sich daraus das Passende aussuchen.

11.8.2008

Rücksichtsloses Gebell

Der Anlass ist nicht ganz ersichtlich, aber die taz hat sich ein bisschen mit dem Medienkritiker Tucholsky beschäftigt. Daraus wird in Sabrina Ebitschs Artikel „Salat für Zeitungsleser“ jedoch gleich ein kläffender, Verzeihung yapping „media watch dog der ersten Stunde“. Ein Leser weist in einem Kommentar zu Recht darauf hin, dass dieser Anglizismus doch für den Hundehasser Tucholsky kein passender Titel sei, was wiederum Detlef Gürtler zum gegebenen Anlass nimmt, in seinem „Wortistik-Blog“ über sinnvolle Übersetzungen des Begriffs zu sinnieren. Warum der Ausdruck Medienkritiker dem selbst ernannten „word watch dog“ der Nation nicht gefällt, ist nicht ganz ersichtlich.

Nun aber zum eigentlichen Thema: Dass Tucholsky überhaupt den Kollegen ihre „Unsauberkeiten“ laut taz „genüsslich unter die Nase“ reiben konnte, lag auch an dem Medium, das ihm diese Kritik ermöglichte. In diesem Fall war das die Schau- und Weltbühne, die sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts darüber hinwegsetzte, dass die Presse nicht über sich selbst schrieb. Dazu heißt es in dem kürzlich erschienenen Lesebuch zur Weltbühne im Kapitel Medienkritik:

Während es heutzutage selbstverständlich scheint, dass die überregionalen Zeitungen jeden Tag eine ganze Seite den Entwicklungen innerhalb der Medien widmen, war dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts völlig anders. Das lag nicht nur daran, dass es die elektronischen Medien wie Fernsehen, Radio und Internet noch nicht gab. Bezeichnend für den damaligen Zustand ist eine Klage [Siegfried] Jacobsohns in einer „Antwort“ vom 30. September 1915: „Immer wieder wird mir vorgehalten, daß ich dem Stand nicht nütze, indem ich seine eigenen Angelegenheiten erörtere. Aber dem Stand kann nur diese öffentliche Erörterung nützen, die rücksichtsloseste am meisten.“ Indem sie gegen presseinterne Widerstände solche Themen aufgriff, trug die „Weltbühne“ dazu bei, eine journalistische Medienkritik zu etablieren. Sie befasste sich dabei mit grundsätzlichen Fragen von Theorie und Praxis der Medienproduktion und -rezeption. Ihre frühen Analysen besitzen zum Teil zeitlose Gültigkeit.

Oder, mit den Worten der taz: „Manches, was er [Tucholsky] schreibt, würde sich allerdings selbst heute auf den Medienseiten der Zeitungen nicht anachronistisch lesen.“

7.8.2008

Augen in der Großstadt 2.0

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
          da zeigt die Stadt
          dir asphaltglatt
     im Menschentrichter
     Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück . . .
War’s etwa der hier? Oder die da?

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
          Ein Auge winkt,
          die Seele klingt;
     du hasts gefunden,
     nur für Sekunden . . .
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück . . .
Schau besser nach hier, immer wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
          Es kann ein Feind sein,
          es kann ein Freund sein,
          es kann im Kampfe dein
          Genosse sein.
     Es sieht hinüber
     und zieht vorüber . . .
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
          Von der großen Menschheit ein Stück!
Man sagt nur C’est la vie da.


Wie erfolgreich solche Augenblicks-Anzeigen sind, steht in der Berliner Zeitung.

3.8.2008

Nicht ganz mit der Wahrheit übereinstimmend

Die Berliner Morgenpost widmet sich derzeit in einer Serie verschiedenen „Liebesgeschichten aus Berlin“. In Folge 11 erklärt Anna Mertens das „Bilderbuch für Verliebte“, wie Tucholskys kurze Geschichte Rheinsberg im Untertitel heißt. Gegen Mertens‘ Interpretationen ist im Großen und Ganzen nichts einzuwenden, wobei eine Behauptung jedoch rätselhaft wirkt:

1912 erschien seine erste Liebesgeschichte unter dem Titel „Rheinsberg – ein Bilderbuch für Verliebte“ mit einem erstaunlich fortschrittlichen Frauenbild, dass der beziehungsunfähige Tucholsky im wahren Leben kaum unterstützte.

Was will die Autorin damit wohl sagen? Zunächst kann man festhalten, dass die „Claire“ in Rheinsberg durchaus eine „fortschrittliche“ Frau war, „daß sie Medizinerin war, wie sie zu sein vorgab, war kaum glaubhaft, jedoch mit der Wahrheit übereinstimmend“, heißt es da. Auch die Beziehungsunfähigkeit, die Tucholsky unterstellt wird, trifft nach Ansicht seiner Biographen ebenfalls zu. Wenn Tucholsky also selbständige und emanzipierte Frauen nicht gut gefunden hätte, warum hat er 1920 ausgerechnet Else Weil, das reale Vorbild der „Claire“, geheiratet? Gerade weil um die Unzulänglichkeiten menschlicher Beziehungen wusste, lag ihm daran, dass auch Frauen in der Lage sein sollten, für sich selbst zu sorgen und nicht von einem verdienenden Ehemann abhängig zu sein. Sämtliche Frauen, mit denen Tucholsky länger liiert war, waren alles andere als „Heimchen am Herd“. Mary Gerold arbeitete vor und nach ihrer Ehe als Sekretärin in Verlagen, Lisa Matthias war Journalistin und Hedwig Müller praktizierte ebenso wie Else Weil als Ärztin. Was Tucholsky allerdings nicht verwinden konnte: am Ende seines Lebens finanziell nicht mehr unabhängig und selbst auf die Unterstützung einer Frau (Hedwig Müller) angewiesen zu sein. So progressiv war er im wahren Leben dann doch nicht.

15.7.2008

Auf der Suche nach den verlorenen Jahren

In den 1996 erschienenen Marginalien, die der Tucholsky-Gesamtausgabe vorausgeschickt wurden, ist auf Seite 17 ein Editionsplan abgedruckt, der sich im Nachhinein als ziemlich ehrgeizig erwiesen hat: Demnach sollte im Jahr 2003 der letzte der 22 Bände erscheinen, zwei bis drei Bände hätten jedes Jahr gedruckt werden müssen. Daher wäre vor fünf Jahren wohl ein guter Zeitpunkt gewesen, nach den Verzögerungen bei der Edition zu fragen. Schließlich fehlten damals noch 9 der 22 Bände. Aber warum hetzen, mag sich Welt-Autor Lutz G. Wetzel gedacht haben, als er sich dieser Tage auf die Spur der Gesamtausgabe gemacht und dies für seine Zeitung aufgeschrieben hat.

Im Text lässt er seine Leser ausführlich an seiner Recherche teilhaben, die ihn zunächst in entlegene Gefilde wie eine Buchhandlung und auch ins Internet führt.

Die Nachfrage bei den Herausgebern gestaltet sich schwierig. Sehr schwierig sogar. Denn offensichtlich hat ein hartes Schicksal ihre Reihen inzwischen gelichtet. Bedrückende Nachrichten: „Plötzlich und unerwartet“ starb einer von ihnen. „Nach langer, schwerer Krankheit“ der Zweite. Und auf der Homepage des Dritten lese ich „Krankheitsbedingt bis auf weiteres keine Sprechstunden“. […] Doch geduldige Recherche führt mich in die Ebene 3, Raum B 308 des Bibliotheksgebäudes der Uni Oldenburg: die Kurt-Tucholsky-Forschungsstelle.

Erstaunlich, dass die Forschungsstelle genau da sitzt, wo es auf ihrer Homepage angegeben ist. Und wo man auch sonst alle Angaben findet, um unverzüglich mit den Mitarbeitern in Kontakt zu treten und nachzufragen. Aber da Herr Wetzel nun schon mal an der Uni Oldenburg ist, nutzt er ausführlich die Gelegenheit, mit der übrig gebliebenen Herausgeberin Antje Bonitz zu reden. Dann endlich erfährt der Leser auch, dass die Gesamtausgabe eigentlich schon komplett erschienen ist und der letzte Inhaltsband in diesem Jahr fertiggestellt werden soll. Zum Abschluss fehlen nur noch die Register, deren Veröffentlichung bis 2010 geplant ist. Womit der Rowohlt-Verlag die aktuelle Publikationsgeschwindigkeit von einem Band pro Jahr beibehalten würde.

Auf den Verlag und dessen Tucholsky-Lektor ist der Autor aber dennoch nicht gut zu sprechen.

Schmallippig spricht er von den „verlagsseitig eingeschränkten Möglichkeiten der Finanzierung“, lobt die teuren Bände als ausgesprochen preiswert und erweist sich darüber hinaus als nicht sehr auskunftsfreudig.

Es ist offensichtlich, dass die 22 Bände mit einem Gesamtpreis von fast 1100 Euro kein Verkaufsschlager sind. Daher muss man dem Verlag zumindest zugute halten, das Projekt bis zum Ende fortzuführen. Noch lobenswerter wäre es natürlich, wenn die Gesamtausgabe anschließend auf DVD erschiene und man sie dann noch besser dafür nutzen könnte, wofür sie vor allem geeignet ist: zum wissenschaftlichen Recherchieren. „Vielleicht liest das keine Sau“, glaubt Bonitz sogar selbst und womöglich liegt sie damit gar nicht so falsch, wenn man die Lektüre der Gesamtausgabe mit dem Lesen eines Romans vergleicht.

Was Wetzel mit seinem merkwürdig intendierten Text bei seinen Lesern hervorgerufen hat, kann man in den Kommentaren der Welt-Online wie immer gleich nachlesen. So schreibt „Heidi Bazin“:

Liest man heute die Artikel die Tucholsky in den 30er Jahren geschrieben hat, so meint man, tagesaktuelle Kommentare zu lesen. Kommt die Gesamtausgabe vielleicht deshalb nicht auf den Tisch?

Richtig, Frau Bazin, und vermutlich stecken auch in diesem Fall die CIA und der Mossad dahinter.

4.7.2008

Kaffka trifft Tucholski

Am 3. Juli war es 125 Jahre her, dass Franz Kafka in Prag geboren wurde. Klaus Bellin hat zu diesem Anlass im Neuen Deutschland mit Recht darauf hingewiesen, dass Tucholsky zu den ersten Literaturkritikern gehörte, die Kafkas Schriften würdigten, darunter die 1919 erschienene Erzählung In der Strafkolonie:

Ganz anders Kurt Tucholsky. Als die Erzählung, leicht gekürzt, im Mai 1919 bei Kurt Wolff erschien, nannte er sie in der „Weltbühne“ eine „Meisterleistung“ und sprach von einer „grenzenlosen und sklavischen Verneigung“ des folternden Offiziers „vor der Maschine dessen, was er Gerechtigkeit nennt, in Wahrheit: vor der Macht. Und diese Macht hat hier keine Schranken.“ Tucholsky gehörte zu den wenigen, die den Rang Kafkas gleich erkannten. Schon 1913 hatte er sich voller Anerkennung über die „Betrachtung“ geäußert.

Kafka war für Tucholsky jedoch schon einige Jahre vorher ein Begriff. Im jüngst erschienenen Band 16 der Gesamtausgabe taucht der Prager Versicherungsbeamte in einem der ersten Briefe auf, die von Tucholsky überhaupt überliefert sind. So hieß es einem Schreiben vom 5. November 1911 an Kafkas Freund Max Brod:

Ich bitte Sie, mich Herrn Dr. Kaffka und Herrn Baum zu empfehlen.

Tucholsky hatte Kafka (die ungewöhnliche Schreibweise von Kafkas Namen tauchte auch 1920 in der Besprechung der „Strafkolonie“ wieder auf) und den blinden Schriftsteller Oskar Baum wenige Wochen zuvor in Prag kennengelernt, als er zusammen mit seinem Freund Kurt Szafranski Max Brod besucht hatte. Nach der Begegnung am 30. September 1911 hatte Kafka in seinem Tagebuch über Tucholsky notiert:

…ein ganz einheitlicher Mensch von 21 Jahren. Vom gemäßigten und starken Schwingen des Spazierstocks, das die Schulter jugendlich hebt, angefangen bis zum überlegten Vergnügen und Mißachten seiner eigenen schriftstellerischen Arbeiten. Will Verteidiger werden, sieht nur wenige Hindernisse – gleichzeitig mit der Möglichkeit ihrer Beseitigung: seine helle Stimme die nach dem männlichen Klang der ersten durchredeten halben Stunde angeblich mädchenhaft wird – Zweifel an der eigenen Fähigkeit zur Pose, die er sich aber von größerer Welterfahrung erhofft – endlich Angst vor einer Verwandlung ins Weltschmerzlerische, wie er es an ältern Berliner Juden seiner Richtung bemerkt hat, allerdings spürt er vorläufig gar nichts davon. Er wird bald heiraten.

Um sich im nächsten Absatz für die falsche Schreibweise zu revanchieren:

Gestern abend auf dem Nachhauseweg hätte ich mich als Zuschauer mit Tucholski verwechseln können. Das fremde Wesen muß dann in mir so deutlich und unsichtbar sein, wie das Versteckte in einem Vexierbild, in dem man auch niemals etwas finden würde, wenn man nicht wüßte, daß es drin steckt.

Eine der letzten Reverenzen Tucholskys an Kafka stammt aus dem Jahre 1930:

Kafka. Ganz großer Mann. Ich habe ihn noch gekannt – aus Berlin und Prag. Willy Haas hat schön über ihn geschrieben. Ein großer Dichter.

schrieb er orthografisch korrekt an die „Katholikin“ Marierose Fuchs. Dem zu diesem Jahrestag wohl nichts hinzuzufügen ist.

2.6.2008

Verlage in treuen Händen

Die Parallelen sind schon frappierend. „Zu diesem bösem Spiel fällt uns nichts mehr ein!“, schrieben die Mitarbeiter eines Verlages, denen der Verleger Bernd F. Lunkewitz gerade den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Wegen gerichtlicher Streitigkeiten hatte er entschieden, das angeschlagene Unternehmen nicht mehr weiterzuführen. Die letzten Sätze seiner Erklärung dazu lauteten:

Da auch die Treuhandanstalt (…) den Verlag nicht an sich zog, wird er „abgewickelt“ wie so vieles in diesem Lande, was durchaus noch hätte weiterleben können. So kann die konsequente Umsetzung der Gerechtigkeit zu Ungerechtigkeit führen.

Nein, es handelt sich dabei nicht um das Schicksal des Aufbau-Verlages, der in diesen Tagen seine eigenen Erfahrungen mit Lunkewitz machen musste. Es ging um das Ende der „Weltbühne“, das durch einen Rechtsstreit zwischen Peter Jacobsohn, dem Sohn Siegfried Jacobsohns, und dem Verlag der Weltbühne im Juli 1993 besiegelt wurde. Wie dieses Ende sich genau zugetragen hat, ist an dieser Stelle ausführlich nachzulesen. Aber schon damals schien den Mitarbeitern nicht ganz klar, was ihr Verleger eigentlich vorhatte. Nach Ansicht inzwischen gestorbener Prozessbeteiligter trug er seinen Spitznamen nicht zu Unrecht. Besonders perfide empfanden die betroffenen Mitarbeiter, dass Lunkewitz durch sein Verhalten vor Gericht dem Verlag auch unter einem anderen Besitzer jede Zukunft verbaut hatte. Denn dem Verlag war künftig untersagt, den Titel der „Weltbühne“ weiter zu nutzen. Und seitdem ist die Zeitschrift auch nie wiederbelebt worden.

Wie es mit dem Aufbau weitergeht, ist derzeit alles andere als klar. Gut möglich, dass Gerechtigkeit wieder zu Ungerechtigkeit führen wird. Dieses Mal will Lunkewitz die Gerechtigkeit offenbar auf seiner Seite wissen.

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