28.1.2005

Irgendwie dagegen

Wenn Fritz J. Raddatz ein längeres Interview gibt, ist es wohl unvermeidlich, dass irgendwann ein Tucholsky-Zitat fällt. Erst recht, wenn er von Bettina Röhl, die eine Art freie Mitarbeiterin der „Netzeitung“ geworden zu sein scheint, zu „Kunst, Macht und das geistige Klima, aus dem einst die RAF entstand“ befragt wird. Zwischendurch geht es in dem langen Gespräch um das Verhältnis Raddatz‘ zum Marxismus:

Und viele, die das Buch nicht kennen, sagen dann: Sie haben doch ein Buch geschrieben mit dem Titel: «Warum ich Marxist bin», und ich erkläre dann, dass ich dieses Buch nur herausgegeben habe, und dass der einleitende Aufsatz zu diesem Buch gerade darlegt, warum ich nicht Marxist bin – das ist schon eine Volte in sich selber. Ich bin allerdings, und da klaue ich jetzt ein Wort von Tucholsky, der hat sich mal so genannt, und so würde ich mich auch nennen: ein Anti-Antikommunist.

Nun sollte man gerade von Raddatz erwarten, dass er seinen Tucholsky sehr gut kennt. Falls dieser sich aber tatsächlich einmal als „Anti-Antikommunisten“ bezeichnet hat, muss er diese Stelle wirklich sehr gut in seinem Werk versteckt haben. Vielleicht hat sich Raddatz aber auch lediglich an folgende Passage erinnert:

Ich bin Anti-Antibolschewist. Aber ich bin kein Bolschewist.
Es mag sein – das ist meine letzte Hoffnung -, daß die Russen im Lande vernünftiger sind als ihre grauenvollen Reklameagenten. Es ist möglich, daß das Irrationale im Russen so stark ist, daß er dieser Überratio bedarf, die mir wie gefrorene Mathematik vorkommt. Vielleicht ist die Ware gut. Was im Schaufenster liegt, wird von Jahr zu Jahr unerträglicher.
Und trägt dazu bei, die Welt in einen einzigen Antisowjetblock zu verwandeln.
Kurt Tucholsky an Hedwig Müller, Q-Tagebuch, 3.3.1935

Nun kann man selbstverständlich der Meinung sein, Kommunismus, Marxismus und Bolschewismus seien ohnehin ein und dasselbe. Man kann aber auch, wie Tucholsky, lapidar feststellen:

Man muß, sagt Gumbel, Rußland mit sich selbst vergleichen: das Land vor dem Kriege und das Land nach dem Kriege – dann kommt man vielleicht zu einem Resultat. Er zeigt, wie der ›Bolschewismus‹, der niemals Kommunismus gewesen ist, damit begonnen hat, daß er den Landhunger der rückkehrenden Soldaten aufzufangen verstand (…)
Peter Panter: „Auf dem Nachttisch“, in: Die Weltbühne, 6.12.1927, S. 860

26.1.2005

Dem Verleger wird zugesetzt

Wer wie Bernd Lunkewitz nach der Wende einmal Besitzer des „Weltbühne“-Verlages war, sollte auch das Original der Zeitschrift aus der Weimarer Republik ganz gut kennen. Mit einer speziellen Debatte aus jenen Tagen scheint Lunkewitz besonders gut vertraut. In einer Replik auf Günter Grass, der in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ höhere Autorenhonorare gefordert hatte, holt der Aufbau-Verleger diese Diskussion hervor:

Der Konflikt über die Teilung und Angemessenheit der Erlöse aus der Verwertung der Urheberrechte ist so alt wie die Buchbranche selbst. Aber aus der Debatte zwischen Kurt Tucholsky und Ernst Rowohlt in der „Weltbühne“ des Jahrgangs 1928 (Nr. 6, 20 und 33) über die Gewinnverteilung und die populäre Forderung „Macht unsere Bücher billiger!“ ist er schließlich in diesen Ruf gemündet: „Zahlt uns höhere Honorare!“
Bernd F. Lunkewitz: „Was ein Roman kostet“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.1.2005, Nr. 20, Seite 36

Die indirekte Behauptung von Lunkewitz, wonach Tucholsky lediglich billigere Bücher und keine höheren Honorare gefordert habe, ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Seitdem er sein erfolgreiches Erzähldebüt „Rheinsberg“ pauschal für einen relativ geringen Betrag an den Verleger Axel Juncker verkauft hatte, fanden sich Sticheleien gegen die ach so viel Verlust machenden Verlage häufig in Tucholskys Texten.

Wir wußten uns vor Honoraren gar nicht zu lassen. Ich zeigte damals meinen Vertrag, den ersten, den ich in meinem Leben gemacht hatte, dem damaligen Vorsitzenden des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller. Der weinte eine halbe Stunde vor Freude und streichelte mir dann leise den Kopf. Ich weiß bis heute nicht, was er damit hat sagen wollen. Und Juncker setzte inzwischen immerzu zu …
Kurt Tucholsky: „Rheinsberg“, in: Die Weltbühne, 8.12.1921, S. 579

Es war daher auch kein Zufall, dass Tucholsky seine Erzählung „Schloß Gripsholm“ mit einem fingierten Briefwechsel zwischen ihm und seinem Verleger Ernst Rowohlt beginnen ließ. Was sich für Rowohlt wenig schmeichelhaft ausnahm, – selbst nach Abzug der zweifellos darin enthaltenen Ironie:

Da wir grade von Lyrik sprechen:
Wie kommt es, daß Sie in § 9 unsres Verlagsvertrages 15 Prozent honorarfreie Exemplare berechnen? So viel Rezensionsexemplare schicken Sie doch niemals in die Welt hinaus! So jagen Sie den sauern Schweiß Ihrer Autoren durch die Gurgel – kein Wunder, daß Sie auf Samt saufen, während unsereiner auf harten Bänken dünnes Bier schluckt. Aber so ist alles.

Und was die von Lunkewitz erwähnte Debatte betrifft, so haben sich nicht nur Tucholsky und Rowohlt, sondern auch der Mitbegründer des Malik-Verlages, Wieland Herzfelde, daran beteiligt. Und Herzfelde, Bruder des Graphikers John Heartfield, kommt als Verleger ebenfalls zu dem Schluss, dass die Autoren zu wenig Honorar erhalten:

Ich bin der Meinung, das Honorar für die erste Auflage eines Buches muß der Autor als Ersatz für seine Existenzkosten während der Herstellungsdauer seines Werkes, das heißt für seine „Regie“ betrachten. (…) Es ist nicht einzusehen, warum der Verleger bei ersten Auflagen verdienen muss, wo doch der Autor, der sozusagen der Sozius des Verlegers ist, daran noch nicht verdient, und überdies zwei Risiken trägt, erstens das, ob er überhaupt einen Verlag findet und zweitens (gemeinsam mit dem Verleger) das, ob sein Buch Käufer findet.
Wieland Herzfelde: „Das deutsche Buch ist zu teuer“, in: Die Weltbühne, 14.8.1928, S. 245

25.1.2005

Sportler sind Mörder

Was von den Überschriften der „Frankfurter Rundschau“ gilt, hat die Literaturkritikerin Sigrid Löffler auch einmal von der österreichischen Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek behauptet: Sie widerstehe allem, „nur nicht der Versuchung zum Kalauer“. Das schreibt zumindest die „Rundschau“ in einer Kritik über die Inszenierung von Jelineks „Sportstück“ in Kassel. Gleich zu Beginn stellt Joachim F. Tornau darin eine interessante Gleichung auf:

Churchill plus Tucholsky gleich Jelinek. „Sport ist Mord“, verkündete der britische Premier. „Soldaten sind Mörder“, wusste der (un)deutsche Satiriker. Häkelt man beides zusammen, bekommt man Ein Sportstück der österreichischen Schriftstellerin und Literatur-Nobelpreisträgerin des Jahres 2004. „Sportler sind wie Soldaten“, lässt Elfriede Jelinek irgendwo in ihrer fast 190 Seiten starken Abrechnung mit Sport, Krieg, Massen und Familie sagen. „Ein jeder legt sein bestes ins Trikot.“ Quod erat demonstrandum. Was zu beweisen war: Churchill plus Tucholsky gleich Jelinek. Natürlich: Den klassischen Zitatenschatz zu plündern und die Beute zu Pseudo-Gleichungen zu verwursten, ist – hoch lebe die Dialektik – so überspitzt wie platt.

Dabei hätte sich Jelinek, oder auch Tornau, überhaupt nicht auf solch arithmetischen Übungen einlassen müssen. Dass Sport eine Vorübung zum Krieg sein kann, hat Tucholsky nie anders gesehen. Selbst beim Anblick der „Tour de France“ kamen ihm wenig schöne Hintergedanken:

Der Mensch ist ein Säugetier und benötigt zum Leben Nahrung, Luft und Wasser. Damit ist ihm aber noch nicht alles gegeben. Auf daß ihm wohl sei, braucht er: den Betrieb. Einen schönen, vollen, runden, bewegten Betrieb mit allem, was dazugehört: Organisation, Gruppen, Kollektivehre, Kampf, Platz und Sieg. Über diesen Betrieb vergißt er mitunter den Zweck des Rummels – und wer das zu benutzen versteht, der kann mit ihm alles, alles unternehmen, was er nur will.
Sogar Kriege.
Peter Panter: „Tour de France“, in: Die Weltbühne, 13.07.1926, S. 65

Eine gewisse Unsportlichkeit scheint Tucholsky allerdings mit Winston Churchill gemein gehabt zu haben:

Er hat mir nichts gegeben – er hat mir nichts genommen – der Name des Sports sei gelobt.
Peter Panter, „Der Geistige und der Sport“, in: Vossische Zeitung, 25.12.1928, S.1

23.1.2005

Fast vergessen

Der Berliner „Tagesspiegel“ bespricht in seiner Sonntagsausgabe die von Gregor Eisenhauer verfasste Biographie des österreichischen Literaten und Lebemannes Franz Blei. Wie so häufig bei Rezensionen von Werken fast vergessener Schriftsteller bedauert auch Rezensent Tobias Lehmkuhl, dass sich fast niemand mehr an Blei erinnert:

Heute ist Blei fast vergessen. Seine eindringlichen Frauenporträts, seine erotischen Studien, seine Theatertheorien und Literaturgeschichten, seine auch von Tucholsky geschätzten Rezensionen und Essays sind dem angesichts der unglaublichen Vielfalt brillanter Flaneurs und Feuilletonisten des ersten Jahrhundertdrittels über die Jahre aus dem Blick geraten.

In der Tat hatte Tucholsky eine sehr hohe Meinung von Blei, die sich im Laufe der Jahre auch nicht abschwächte:

Der kann große Menschen im Marionettenstil schön erkenntlich machen: er baut ein kleines Theaterchen auf, bewegt selbst die Drähte, spricht alle Rollen persönlich und versteht es gut, grade die weiblichen Puppen zu bewegen. (1913)

(…) dieser Schriftsteller, der sich in so vielen Fällen bescheiden pseudonym und anonym gibt, sollte viel mehr gelesen werden – wie wenige verfügen über diese Grazie, diese Bildung und diese spielende Leichtigkeit, ein solches Wissen so graziös zu verwerten. (1922)

Die Übersetzung ist befremdend. Die Übersetzer, Franz Hessel und Paul Mayer, können natürlich genug Französisch, um zu sehen, was sie da gemacht haben. Sie haben wortwörtlich übersetzt. Ich halte das nicht für gut. Das kann nur einer, mit aller Grazie seines Stils: Franz Blei. (1930)

Franz Blei, dieser verlogene Hund (…) (1935)

Wobei das letzte Zitat für eine Literaten wohl das dickste Lob bedeuten dürfte.

22.1.2005

Unterjochte Sprache

In „Fünf Minuten Deutsch“, der wöchentlichen Sprachkolumne der „Stuttgarter Zeitung“, beschäftigt sich Ruprecht Skasa-Weiß dieses Mal mit der rhetorischen Figur des Zeugma. Skasa-Weißens Begriffserklärung muss den Vergleich mit der Wikipedia nicht scheuen:

Das ist dass Feine an der deutschen Sprache: Man kann darin Schnitzer machen, die selber so fein sind, dass die meisten sie überhaupt nicht bemerken [zum Beispiel das unnötigerweise mit zwei s schreiben, Sudelblog] – während einige wenige diese Schnitzer mit Vorsatz begehen, ja geradezu liebevoll daran feilen. Denn, wie wieder nur wenige wissen: erst im scheinbar Hingestümperten erweist sich bisweilen die wahre Sprachmeisterschaft. Wovon wir reden? Vom Zeugma natürlich. Nüchtern gesprochen, ist das eine Stilfigur, in der sich ein Satzglied auf mehrere Wörter bezieht, ohne zu allen zu passen. Aber mit Nüchternheit kommt man dem Reiz einer so krausen Stilfigur nicht bei. Hier geht es um Wortwitz. Witzig zu sein mit nichts als Wörtern, wie schafft man das?

Am einfachsten beantwortet man eine solche Frage, indem man geeignete Beispiele zitiert:

Zwei Gedankenwelten, die einander völlig fremd sind, rumpeln unvermutet zusammen, aufeinander geschnellt vom Zugseil einer verbindenden Präposition oder eines verbindenden Verbums. Biostunde, frei nach Tucholsky: Der Mensch hat zwei Beine und zwei Überzeugungen – eine, wenn’s ihm gut geht, und eine, wenn’s ihm schlecht geht; die letztere heißt Religion. Oder, nicht von Tucholsky, Momentaufnahme einer Ehe: Sie wirft ihm das Trinken vor und er ihr das Essen nach. Oder, diesmal von unsrem unvergessenen Stuttgarter Nonsensualisten Werner Mitsch, die folgende Kurzbiografie: Die Baronin schenkte ihrem Gemahl sechs Kinder, aber ansonsten keinerlei Beachtung.

Da „Fünf Minuten Deutsch“ nicht mit „Eine Minute Griechisch“ zusammenschnellen dürfen (oder heißt es darf?), muss Skasa-Weiß seinen Lesern leider die Herkunft und eigentliche Bedeutung des Wortes „Zeugma“ unterschlagen. Daher sei an dieser Stelle ergänzt, was Wilhelm Gemoll in seinem griechisch-deutschen Schul- und Handwörterbuch einst darüber zusammengetragen hat:

zeugma Zusammengefügtes. 1. Schiffbrücke. 2. Hafensperre. 3. Joch, Fessel, – n.pr. St. in Syrien bei Samosata.

Die sechs Minuten sind vorbei.

18.1.2005

Vorschläge erbeten

Alle zwei Jahre wieder wird in Berlin der Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik verliehen. Im kommenden November ist es zum siebten Mal so weit. Laut Ausschreibungstext können sehr viele Personen einige andere Personen, die als Preisträger in Frage kommen, der Auswahljury vorschlagen. Die Vorschlagsfrist läuft seit 1. Januar und endet am 31. März. Die Auszeichnung ist übrigens mit 3000 Euro dotiert, wobei die Höhe des Preises nicht das Entscheidende ist, sondern:

Wenn du liest: „Dem Dichter Potschappel ist der große Bananen-Preis zuerkannt worden“, so frage stets: Wer hat ihm den Preis gegeben? Das allein macht nämlich erst seinen Wert aus.
Peter Panter: „Schnipsel“, in: Die Weltbühne, 5.7.1932, S. 21

Wer letztere Frage genau beantwortet haben möchte, der möge bitte hier klicken.

14.1.2005

Das Buch der Deutschen

Schon seit ein paar Wochen prangt es einem dick und schwarz-rot-gold in den Buchhandlungen entgegen. „Das Buch der Deutschen“ heißt der Wälzer, und wer ihn ehrfürchtig in die Hände nimmt, möchte ihn am liebsten wie den römischen Messkanon vor sich hertragen und vor der versammelten Buchhandlungsgemeinde feierlich das Hochgebet anstimmen. Obwohl die Sammlung deutscher Textzeugnisse schon rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft in den Regalen stand, hat die taz erst im neuen Jahr Zeit gefunden, sie auf der „Wahrheit“-Seite zu zerpflücken.
Nach Ansicht von taz-Autor Rayk Wieland enthält das Buch eben nicht „alles, was man kennen muss“ (Verlagswerbung), sondern das, was „man überhaupt nicht kennen muss, sei es, weil es einem schon zum Halse raushängt, sei es, weil es gröblich verkürzt ist, oder sei es, weil man es in dieser beflissenen Ausführlichkeit nie zu kennen begehrte“. Vor allem die Literatur sei unzureichend vertreten:

Schlecht weggekommen hingegen ist im Vergleich zur dumpfen Beamtenprosa die Literatur. Walther von der Vogelweide grausam übersetzt und stranguliert. Friedrich Gottlieb Klopstock, vertreten bloß mit seinem „Vaterlandslied“. Das Nibelungenlied, auf zwei Seiten gekürzt. Kurt Tucholsky, kommt zum Zuge mit seinem Gedicht „Mutterns Hände“, das nun wirklich niemand nicht kennt. Friedrich Schillers „Lied von der Glocke“, selbstverständlich komplett. Heinrich Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“, selbstverständlich nur die ersten Strophen. Am Schluss der Jahrtausendsammlung befindet sich dann Grönemeyers Lied „Mensch“, ein brutalstmögliches Bekenntnis zum Sonderschulweg der deutschen Geschichte.
Rayk Wieland: „Der Sonderschulschinken“, in: taz, 14.1.2005, S. 20

Nun ist es allerdings nicht so, dass beispielsweise von Tucholsky nur das Gedicht „Mutterns Hände“ abgedruckt wäre. Auch den unvermeidlichen Text Heimat sollte nach Ansicht der Herausgeber wohl jeder kennen (kennt auch jeder). Ebenfalls in die Sammlung geschafft hat es die antimilitaristische Polemik „Deutschland, ein Kasernenhof“, die es sicherlich verdient gehabt hätte, in der Weimarer Republik öfter von den Kanzeln vorgelesen zu werden. Mit drei Texten und sieben von 800 Seiten ist Tucholsky im „Buch der Deutschen“ somit durchaus angemessen repräsentiert. Goethe, Schiller, Heine und Brecht wird natürlich noch ein bisschen mehr Platz eingeräumt. Und dass Carl von Ossietzkys „Rechenschaft“ Eingang in die Sammlung gefunden hat, spricht auch nicht unbedingt gegen die Herausgeber. Weyland stößt sich in seiner Kritik aber weniger an Idee, Titel und Aufmachung als an dem Inhalt des Buches:

Vollständigkeitswahn, Aktenfimmel, vaterländisches Gewürge und Züchtigungsexzesse – alles das, was die deutsche Geschichte im Übermaß aufbietet, prägt auch dieses Werk. So gesehen hat Johannes Thiele, der Herausgeber, einen exquisiten Job gemacht.

Als ebensolcher Züchtigungsexzess ist Weylands Rezension ein Kandidat für den zweiten Band der Sammlung. Vorschläge bitte hier abgeben. Vielleicht sollte zusätzlich angeregt werden, die ganze Anthologie lediglich auf CD zu brennen und jedem Geschichtsbuch als Quellenedition beizufügen. Dann hätte sie ihren Zweck voll und ganz erfüllt, wobei es Verlag und Herausgeber damit sicher nicht in die deutschen Feuilletons geschafft hätten.

12.1.2005

Schön und stimmig

Wenn Roger Willemsen einen von Volker Kühn herausgegebenen Sammelband über den Frankfurter Kabarettisten Matthias Beltz bespricht, dürfen die gesammelten Vorbilder der Beteiligten nicht unerwähnt bleiben:

Beltz beherrscht die Farben des Stimmungs-Melancholikers und Lyrikers, er ist Pamphletist und Lehrstück-Dramatiker, Dichter, Kulturkritiker, Polemiker und über allem Komiker. Er beherrschte das Sentenziöse des Agit-Prop-Kabaretts genauso wie die analytische Finesse der Ideologiekritik, war aber ebenso Milieuschilderer und Beobachter. Er konnte seine Identifikation bis zur Mimikry treiben und Charaktere gebären wie ein Kraus, Qualtinger, Tucholsky oder Polgar. Seine Vielseitigkeit ließ ihn zwischen alle Genres und Cliquen fallen.
Roger Willemsen: „Im Dienste aller Gerechten und Gerechtinnen“, in: Süddeutsche Zeitung, 12.1.2005, S. 16

Nicht unerwähnt bleiben sollte auch, dass sich Willemsen von der Auswahl Volker Kühns sehr angetan zeigt. Kühn, der regelmäßig die Matineen zur Verleihung des Tucholsky-Preises arrangiert, habe die „Gesammelten Untertreibungen“ so schön und stimmig herausgegeben und sei bei der Textauswahl so geschickt vorgegangen, dass er, Willemsen, die 900 Seiten entgegen seiner ursprünglichen Absicht vollständig durchgeblättert habe.

11.1.2005

Beinahe ideal

Eines der meistzitierten Tucholsky-Bonmots ist sicherlich der Anfang des Gedichtes „Das Ideal“:

Ja, das möchste:
Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße;
mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn –
aber abends zum Kino hast dus nicht weit.
Theobald Tiger: „Das Ideal“, in: Berliner Illustrirte Zeitung, 31.7.1927, Nr. 31, S. 1256.

Wobei es die dritte Zeile auch in der Variante „vorn die Ostsee, hinten die Leipziger Straße“ gibt („Die Kunst, falsch zu reisen“, in: Uhu, 1.7.1929, S. 12.). Beide Versionen werden aber längst nicht so häufig zitiert wie die Westberliner Variante „Vorne Kudamm, hinten Ostsee“, die aber den Nachteil hat, nicht von Tucholsky zu stammen.
Fast richtig macht es daher die Welt, die sich einer CD-Präsentation für eine Kurzform der Gedichtanfangs entscheidet: „Ja, das möchste: vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße“.

Laien vor Gericht

Das ist auch einmal ein nette Möglichkeit, die Existenz eines Zitates nicht zu belegen. In der FAZ schreibt der Schöffe Ernst Köhler über die Chancen von Laien, bei Gericht zu agieren:

In einer schwachen Minute mag ein irritierter Laienrichter von heute sich sogar nach dem unverbesserlichen Pharisäer in der Robe zurücksehnen, von dem er – wenn die Erinnerung ihn nicht trügt – bei Kurt Tucholsky gelesen hat.
Ernst Köhler: „Mehr Selbstbewusstsein“, in: FAZ, 11.1.2005, S. 34

Nun hat Tucholsky sehr viel über die deutschen Richter geschrieben, aber „Pharisäer in Robe“, – oder auch „Philister im Talar“ -, hat er sie nie genannt. Dennoch scheint Köhler tatsächlich einiges von Tucholsky gelesen zu haben. Zumindest vertritt er eine Auffassung vom Amt des Schöffen oder Geschworenen, die sehr genau derjenigen entspricht, die Tucholsky in seinem „Merkblatt für Geschworene“ einforderte. Das Überraschende an Köhlers Ausführungen besteht jedoch darin, dass sich demnach die Rollen zwischen Berufs- und Laienrichtern seit den zwanziger Jahren offensichtlich in ihr Gegenteil verkehrt haben. Für Köhler besitzen die heutigen Richter zu viel Verständnis für die sozialen Ursachen kriminellen Handels.

Dieser Position vermag unser Schöffe nicht oder nicht mehr zu folgen – bei allem Respekt vor ihrer Menschlichkeit. Sonst wäre er nicht Schöffe. In den Straftätern vor Gericht kann er keine bloßen Opfer sehen. Und ungeachtet ihrer unzweifelhaft destruktiven Konsequenzen für den Gefangenen steht er auch hinter der Freiheitsstrafe.

In „Merkblatt für Geschworene“ las sich das folgendermaßen:

Jedes Verbrechen hat zwei Grundlagen: die biologische Veranlagung eines Menschen und das soziale Milieu, in dem er lebt. Wo die moralische Schuld anfängt, kannst du fast niemals beurteilen – niemand von uns kann das, es sei denn ein geübter Psychoanalytiker oder ein sehr weiser Beicht-Priester. Du bist nur Geschworener: strafe nicht – sondern schütze die Gesellschaft vor Rechtsbrechern.
Ignaz Wrobel: „Merkblatt für Geschworene „, in: Die Weltbühne, 6.8.1929, S. 202

Ob Köhler tatsächlich seine Freude daran hätte, mit den von Tucholsky beschriebenen Typus des deutschen Richters zusammenzuarbeiten, sei dahingestellt. Vielleicht wäre ein selbstbewusster Bürger, wie Köhler sich versteht, ohnehin nicht in ein Schöffenkollegium berufen worden. Denn wie konstatierte Tucholsky in seiner Generalabrechnung mit der deutschen Justiz:

Das nachtwandlerisch sichere Gefühl der Gerichtsbeamten für Schöffen und Geschworene bevorzugt kleinköpfigen, bramsigen Mittelstand, Untertanen, die einmal, wie Polgar das genannt hat, den Obertanen spielen wollen. Jeder umgibt sich nur mit sich selbst, und steht unsereiner vor denen, so findet er eine fremde Welt.
Ignaz Wrobel: „Deutsche Richter“, in: Die Weltbühne, 12., 19. u. 26.4.1927, S. 581, 618, 663

Powered by WordPress